Vor knapp 30 Jahren schockierte Michael Hanekes Benny’s Video mit entlarvenden Einblicken in eine emotional verkrüppelte Gesellschaft. Ob der Film auch heute noch das Potenzial zum Skandalfilm hat, klären wir in folgender Review!
Benny’s Video – Handlung
Der junge Gymnasiast Benny (Arno Frisch) ist ein richtiger Video-Freak. Das Leben beobachtet er nur zu gerne durch die Linse einer Kamera, selbst sein eigenes. Besonders angetan hat ihm ein selbst aufgenommenes Video einer Schweinetötung auf einem Bauernhof, den er mit seinen Eltern öfters besucht. Er führt es einem Mädchen (Ingrid Stassner) vor, das er bei der Videothek kennengelernt hat. Auch sie scheint seltsam fasziniert von dem Akt der Tötung. Als er ihr das Bolzenschussgerät, das er heimlich vom Bauernhof mitgebracht hat, zeigt, blödeln sie ein wenig rum. Doch dann presst er das Gerät an sie, und als sie ihn Angsthase nennt, drückt er ab. Während seine Kamera läuft, windet sie sich schreiend auf dem Boden. Weil Benny ihre Schreie nicht mehr erträgt, bringt er sie mit zwei weiteren Schüssen endgültig zum Schweigen.
Als er sich daran macht, die Spuren der Tat zu beseitigen, stellt er fest, dass ihn die Tote auf seinem Fußboden auch seltsam fasziniert. Im Folgenden versucht er, sich nichts anmerken zu lassen. Doch sein Verhalten wird zunehmend unberechenbarer. Schließlich führt er seine Eltern beim Abendessen wortlos das Video der Tat vor. Sein Vater Georg (Ulrich Mühe) und seine Mutter Anna (Angela Winkler) kommen überein, die Leiche verschwinden zu lassen. Während Georg entsprechende Schritte in die Wege leitet, fliegt Anna mit Benny nach Ägypten…
Living in a Material World
In Benny’s Video, Michael Hanekes zweiten Teil der Trilogie der emotionalen Vergletscherung, steht wieder eine Familie im Mittelpunkt. Wir haben die Eltern, Vater Georg und Mutter Anna, sowie den pubertierenden Sohn Benny. Sie leben in einem Loft, gehören der Ausstattung nach zu urteilen der gehobenen Mittelschicht an und scheinen sehr auf ihren Status bedacht. Benny hat auch noch eine Schwester, Evi, die aber schon flügge geworden ist. Sie hat das ihr vorgelebte Modell von Status und Geld verinnerlicht, am Anfang begegnen wir ihr auf einer Verkaufsparty für ein Schneeballsystem, die sie heimlich im Loft ihrer Eltern abhält, was ihr Bruder filmt. Als der Vater früher als erwartet eintrifft, scheint er nicht sauer, sondern eher von der Geschäftstüchtigkeit seiner Tochter imponiert.
Aufmerksamkeit erhält Benny von seinen Eltern folglich auch mehr materiell als emotional. Sein Zimmer beherbergt professionelles Video-Equipment, mit dem er sich seine eigene Welt erschafft. Er hält, soweit möglich, alles auf Band fest, selbst das Treiben unter seinem Fenster verfolgt er mit einer fest installierten Videokamera. Auch die Tat nimmt er auf Videokassette auf, spielt sie danach mehrmals ab. Es ist ein hilfloser Versuch, eine Distanz zur Tat aufzubauen. Dies klappt nicht, weshalb er nun Evi aufsucht, die jedoch nicht zu Hause ist. Seine Eltern, die gerade im Urlaub sind, scheinen für ihn dieser Beziehung sowieso nicht infrage zu kommen. Danach entschließt er sich, die Spuren zu entfernen und seinen Alltag normal fortzusetzen.
Eine Gesellschaft ohne Platz für Emotionen
Benny ist zwar zu einem gewissen Grad ein Sonderling, jedoch kein isolierter Außenseiter. Der heranwachsende Junge geht auch mit Schulfreunden in die Discothek, wird von ihnen aber eher als Teil ihrer gehobenen Gesellschaft akzeptiert. Die ganze Sphäre, in der er sich bewegt, erweist sich als distanziert und oberflächlich. Genauso wie die Nachrichten im Radio immer weit weg erscheinen – Sie sind zwar irgendwie präsent, aber nicht im realen Leben. Die Wahrnehmung und Manipulation seiner Umwelt via Video ist dabei nur eine Manifestierung des vorgelebten Ideals. Doch hingegen zu der echten Welt, in der alles ritualisiert scheint, kann er hier die aufgezeichnete Wirklichkeit nach Belieben manipulieren. Es ist seine Art, in sich selbst Emotionen zu wecken, sie sogar zu kontrollieren.
In dem Mädchen, das er beim Besuch seiner Stammvideothek, wiederum ein Ritual, kennenlernt, glaubt er jemanden getroffen zu haben, dem er sich nahe fühlen könnte. Und tatsächlich scheint sie von seiner Leidenschaft nicht abgeschreckt, teilt auch die Faszination für das Video der Schweinstötung. Als er darauf folgend im Spiel mit dem Bolzenschussgerät die Distanz zur Realität in einem Moment echter Emotion aufhebt, kommt es zur Katastrophe. Aus dem Spiel wird ernst, aus der Wut entsteht Panik, dann sogar sexuelle Erregung. Danach versucht er wieder in den Alltag zurückzukehren, was ihm aber nicht gelingen mag.
Seinen Eltern ist nur wichtig, dass ihr Junge “funktioniert”. Kurz nach der Tat lässt Benny sich die Haare abrasieren. Sein Vater hält dies für einen Akt der Auflehnung und tut dies mit einer kurzen, sarkastischen Bemerkung ab. Doch es ist ein Hilferuf. Und da dieser nicht als solcher wahrgenommen wird, läuft vor dem Abendessen Benny’s Video, das die Eltern erst einmal fassungslos, aber in keinster Weise betroffen macht. Ihr erster Gedanke gilt ihnen selbst und ihrem Ruf, der Angst wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht verantwortlich gemacht zu werden.
Der einzige Gedanke ist Flucht
Michael Haneke legt in Benny’s Video den Finger in viele offene Wunden der Gesellschaft, zerrt niemanden in den Fokus, indem er eine eindeutige Frage nach Schuld formuliert. Er zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der Probleme, die nicht wichtig genug erscheinen, etwa die Nachrichten in TV und Radio, ignoriert werden. Und wenn das nicht gelingt, tritt man die Flucht an. Benny ist merklich in seiner emotionalen Entwicklung gestört, sucht das, was er vermisst, in seinen Video-Aufzeichnungen. Selbst der spielerische Umgang mit echten Gefühlen überfordert ihn. Sofort verfällt er danach in ritualisierte Verhaltensmuster und versucht, seine Tat zu vertuschen.
Vater Georg schickt Benny mit seiner Mutter nach Ägypten, weit weg vom Zuhause von der Tat, sie sollen die Sache dort aussitzen. Noch nicht einmal die Frage nach der Identität des Mädchens ist es für ihn wert geklärt zu werden. Die Reise, auf der Benny und seine Mutter Anna sich bezeichnenderweise auch immer in Bewegung befinden, inszeniert Haneke in Art einer Wallfahrt. Sie führt entlang verschiedener religiöser Stätten, als wenn die Sünde hier abgewaschen werden soll. Doch auch hier wirken sie nicht aktiv mit, sie üben keine Religiosität aus, sie addressieren nicht einmal Gott im Gebet. Es erscheint als Flucht ohne Ziel, was selbst Benny letztendlich erkennt.
Gewalt, Nachrichten und Internet
Auf inszenatorischer und darstellerischer Ebene war Benny’s Video damals sicherlich ganz auf Höhe seiner Zeit. Die oftmals eingestreuten Videos, die Benny zu verschiedenen Anlässen aufnimmt, verstärken ein Gefühl der Authenzität. Die Schnitte sind exakt gesetzt, auf der Tonspur wechseln sich Alltagsgeräusche, wenn Benny mit seinen Gedanken alleine ist, mit Musik, wenn er sie ausblendet, oder dem Nachrichten aus TV und Radio, wenn die Familie nicht ausnahmsweise mal miteinander kommuniziert. Es ist alles darauf ausgerichtet ein Bild des Nebeneinander-Existierens zu zeichnen. Im harten Kontrast dazu steht die Begegnung mit dem Mädchen, die sehr zögerlich, aber auch sehr intim wirkt. Es ist sicherlich auch so von Haneke gewollt, dass eben diese Szenen als früher Klimax zu verstehen sind, wodurch alles, was folgt, umso trister und deprimierend wirkt.
Diese Szenen der beiden Jugendlichen, die sich näher kommen, was dem Mädchen dann das Leben kostet, funktionieren auch heute noch. Es ist intensiv, schockierend und abstoßend, wenn Benny ausgerechnet nach dem nervenzerrenden Schockmoment erotische Gefühle in sich entdeckt. Die Gesellschaft drum herum, die Haneke zeichnet, mag in Grundzügen mit der heutigen zwar noch übereinstimmen, dennoch wirkt sie ungewöhnlich befremdlich. Denn die heutigen Möglichkeiten, aus der Ferne durch das Internet Gelüste nach Sensationen, nach Schocks und auch nach Erotik zu befriedigen sind natürlich vielfältiger und noch viel näher als das, was Benny an modernen Equipment in seiner damaligen Routine nutzt.
Die grundsätzlichen Aussagen von Benny’s Video mögen zwar noch aktuell sein, doch die Szenerie wirkt weniger greifbar. Dies ist aber auch nur wieder das Symptom einer Gesellschaft, die in Teilen vermeintlich näher zusammengerückt ist, sich aber noch viel mehr vom physischen Leben um sie herum entfernt hat. Nichtsdestotrotz beeinflusst das gewiss auch die Art, wie man diesen Film heute wahrnimmt.
Unser Fazit – Benny’s Video
Auch wenn er also in manchen Teilen etwas befremdlich und überholt erscheinen mag, kann Michael Hanekes Film heute noch, mit Abstrichen, überzeugen. Schockpotenzial ist in Benny’s Video immer noch vorhanden, wer den Film zum ersten Mal sieht, dem wird er sicherlich erst einmal schwer im Magen liegen. Das liegt vor allem an Hanekes überlegter Inszenierung, dem guten Timing und die Art, wie er den Zuschauer zum Mitdenken auffordert. Die Frage ist hier nur, ob er letzteres noch genauso gut bewerkstelligt wie vor knapp 30 Jahren. Aber sei es, wie es ist, wer sich nicht vor Filmen scheut, die kein kurzweiliges Vergnügen versprechen, dem sei auch dieses zweite Werk aus der Trilogie der emotionalen Vergletscherung empfohlen.
Bei der Blu-ray aus dem Mediabook von Camera Obscura handelt es sich zudem noch um eine HD-Erstveröffentlichung, wobei das Gesamtpaket der drei Filme, es sind noch Der siebente Kontinent und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls enthalten, mit dem tiefergehenden Bonusmaterial als herausragend zu bezeichnen ist.
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Unsere Wertung:
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