Alles anders auch beim größten deutschen Filmfest, der Berlinale 2021. Durch die Corona-Krise war eine normale Durchführung der Berlinale nicht möglich. Trotzdem konnte die Auswahl, die man in der Online-Version geboten bekommen hat, durchaus mit dem ein oder anderen Highlight überzeugen. Lest in unserem Abschlussbericht nochmal, auf welche Filme man sich freuen sollte, falls sie demnächst hoffentlich auf der Kinoleinwand landen.
Die Wettbewerbsbeiträge der Berlinale 2021
Wettbewerb um den Goldenen Bären:
- Albatros
- Bad Luck Banging or Loony Porn
- Fabian oder Der Gang vor die Hunde
- Ballad of a White Cow
- Wheel of Fortune and Fantasy
- Herr Bachmann und seine Klasse
- Ich bin dein Mensch
- Introduction
- Memory Box
- Nebenan
- A Cop Movie
- Petite Maman
- Was wir sehen, wenn wir zum Himmel schauen?
- Forest – I See You Everywhere
- Natural Light
Berichte zu den Filmen aus anderen Sektionen der Berlinale 2021:
Kurzkritiken zu weiteren Filmen der Berlinale 2021:
Folgende Filme haben wir zu denen, die mit einem Bericht schon ausführlicher bedacht wurden, noch gesehen:
Introduction:
Introduction ist der neue Film des Regisseurs Hong Sang-soo, der auch im letzten Jahr mit The Woman who ran bei der Berlinale vertreten war. Der diesjährige Beitrag fügt sich nahtlos in das Schaffen des Südkoreaners ein. Wieder widmet sich die Geschichte in mehreren Etappen einem Hauptcharakter und oberflächlich betrachtet alltäglichen Begegnungen, die jedoch jeweils mit bedeutungsschwangeren Dialogen zu lebensverändernden Momenten wachsen. Im Fokus steht diesmal ein junger Mann, der in verschiedenen Stationen von Karriereentscheidungen begleitet wird und wie er diese jeweils mit anderen vertrauten Personen auch vor sich selbst rechtfertigt.
Was dem neuen Drama von Hong Sang-soo im Vergleich mit dem letztjährigen Werk fehlt, ist die spontan entstandene Situationskomik durch die suggerierte Zufälligkeit der Kameraführung. Außerdem misst man die herzlichen Schrulligkeiten der Personen und die in ihrer Einfachheit nicht zu überbietende Musikgestaltung, die The Woman who ran einen hohen Wohlfühlfaktor und Charme verliehen haben. Leider fügt Introduction weder inhaltlich noch inszenatorisch der Gesellschaftsbeobachtung von Hong Sangs-oo außer den schönen Schwarzweißbildern etwas neues hinzu.
Unsere Wertung:
The Scary of Sixty-First:
Regiedebütantin Dasha Nekrasova hat mit The Scary of Sixty-First einen kleinen Horrorfilm abgeliefert, der mit B-Movie-Charme und provokanten und alles andere als oberflächlichen Anspielungen Genrefans abholen soll. Im Mittelpunkt der überschaubaren Story stehen zwei junge Frauen, die in New York eine neue Wohnung beziehen. Schnell driftet es in Richtung Besessenheitsgeschichte ab, als offenbart wird, dass es sich bei der Räumlichkeit um eine Immobilie von Jeffrey Epstein handelt.
Für ein Debüt ist der Mut von Nekrasova beachtlich. In etwa 80 Minuten werden viele Versatzstücke in Reminiszenz an das schmutzige Subgenre eingewoben. Gepaart mit bewusst mieser Schauspielerei, wackligen, grobkörnigen Bild und einer Explizität, die die Grenzen des guten Geschmacks weit überschreitet, ist die Produktion mehr Showcase als ausgefeiltes Gesamtwerk. Sicherlich gibt es Zuschauer, die trotz oder gerade wegen der Ekelbilder ihre Freude an diesem kurzen Horrortrip haben werden, aber für den Großteil der Zuschauer ist The Scary of Sixty-First weder eine interessante Exorzismusgeschichte noch ein medienkritisches Kammerspiel, was man länger im Gedächtnis behalten wird.
Unsere Wertung:
Das Mädchen und die Spinne:
Ein unerwartet außergewöhnliches Filmerlebnis haben die Schweizer Brüder Ramon und Silvan Zürcher mit Das Mädchen und die Spinne mit in die Encounters Sektion der Berlinale 2021 gebracht. Die Tragikomödie handelt von einem Umzugstag und holt aus dieser Alltagssituation durch ein spitzfindiges Dialogdrehbuch aus dem hoch veranlagten Cast einige Glanzleistungen heraus. Mit der Diskrepanz zwischen der erwarteten Tonalität und den kryptischen, losgelöst wirkenden Gesprächen entlarven die Zürcher-Brüder die gesellschaftliche Tendenz hin zur toxischen Gesprächskultur. So lernt man in diesem kammerspielartigen Setting nicht nur eine unübersichtliche Zahl an skurrilen Figuren und ihre Geschichten kennen, sondern bekommt auch noch einige unterschwellige Kommentare auf die Jetztzeit serviert, die pointierter kaum sein könnten.
Man muss sich auf die Anstößigkeiten und die kantigen zur Unsympathie tendierenden Charaktere einlassen können. Mit ihren tollen Darbietungen schaffen dies allen voran vor allem Henriette Confurius und Liliane Amuat, die den Spagat zwischen charismatischer Ausstrahlung und abstoßenden Aktionen mit Bravour meistern. Bei diesem Umzug geht einiges kaputt. Der Film macht dabei auch vor den Sehgewohnheiten des Tatort-geprägten, deutschen Publikum keinen Halt.
Unsere Wertung:
District Terminal:
District Terminal erzählt von einem drogenabhängigen Poeten in einer postapokalyptischen (gar nicht so fernen?) Zukunft in Teheran. Wir begleiten den Alltag von Peyman zwischen zerstörten Wohnkomplexen, Perspektivlosigkeit und drohendem Vernichtungskrieg. Zwischen Traum und Realität, Zweckoptimismus und Resignation, zwischen Emigration und Quarantäne pendelt man an der Seite des Protagonisten hin und her.
Das düstere Zukunftsszenario, das dieses iranische Drama aufzeichnet, soll in erster Linie wohl als Wachrüttler zu deuten sein. Als mahnender Beitrag zur Debatte über Umweltzerstörung funktioniert der Film leider nur bedingt. Genauso schwierig gestaltet sich die Identifikation mit der Hauptfigur, die weder Sympathien entfalten kann, noch einen spannenden Wandel durchläuft. Insgesamt bleibt die Atmosphäre zu bedrückend und kalt, als dass man sich in dieses Szenario wirklich einfühlen möchte. In Ansätzen ist es noch die feingeistige Poesie des Junkies, die für die nachdenklichen Momente sorgt, von denen man anhand der Prämisse viel mehr erwarten durfte.
Unsere Wertung:
A Ballad of a White Cow:
Wer steht in der Verantwortung, wenn ein System versagt? In A Ballad of a White Cow des iranischen Regie-Duos Maryam Moghadam und Behtash Sanaeeha steht die Witwe Mina vor den Scherben ihres Lebens. Vor einem Jahr wurde ihr Mann wegen Totschlags verurteilt und hingerichtet. Doch jetzt wird ihr mitgeteilt, dass das Urteil zu Unrecht erging, weil Zeugen gelogen hatten. Für dieses Fehlurteil wird ihr Geld zugesprochen, der Preis für ein Menschenleben ist im iranischen Rechtssystem schon festgesetzt. Doch Mina will eine Erklärung und eine Entschuldigung vom zuständigen Richter. Der heißt Reza, ist selbst Witwer und wird inzwischen von Selbstzweifeln zerfressen. Als Mina ihre Wohnung verliert, erweist er sich für sie und ihre taubstumme Tochter als Retter in der Not, allerdings ohne seine Identität preiszugeben…
In kargen Bildern, bei beinahe elegischen Tempo und unter dem Verzicht auf jegliche musikalische Untermalung erzählt A Ballad of a White Cow von einem zynischen Rechtssystem, einer patriarchalischen Gesellschaft und einer unmöglichen Liebesgeschichte. Dabei unterlässt das feinfühlig ausgearbeitete Drehbuch eine zu verallgemeinernde Kritik an der Obrigkeit und der Religion. Stattdessen setzen Maryam Moghadam, die hier auch die Hauptrolle übernahm, und Behtash Sanaeeha auf Einzelschicksale, die, bedingt durch ihr Schicksal, aus eigenen, nachvollziehbaren Gründen mit System und Glauben hadern.
Denn Mina hat als alleinstehende Frau kaum eine Chance, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auch weil die Familie ihres toten Mannes sie stetig unter Druck setzt. Reza dagegen befindet sich als angesehener Richter in einer eigentlich komfortablen Situation, hat aber selbst als Vater versagt und fühlt sich seinem Amt nicht mehr gewachsen. Es ist herzerwärmend anzusehen, wenn diese beiden verirrten Seelen sich finden. Doch weiß man genauso, dass diese Liebe keinen Bestand haben kann, da dass Geheimnis, das zwischen ihnen steht, viel zu schwer wiegt.
Unsere Wertung:
Nelly Rapp – Monster Agent:
Die kleine Nelly Rapp (Matilda Gross) eckt mit ihrer Vorliebe für Düsteres und Makabres bei ihren Mitschülern und deren Eltern gerne mal an. So ist ihr alleinerziehender Vater dann auch froh, sie in den Ferien eine Woche bei ihrem Onkel Hannibal (Johan Rheborg) abladen zu können. In dessen alter Villa mit ihrem düsteren Keller fühlt sich Nelly gleich wohl. Zudem stellt sich heraus, dass in der Villa unter der Woche ein Treffen der Monsterjäger stattfindet, der schon ihre tote Mutter angehörte. Natürlich ist Nelly Feuer und Flamme dem Verein auch beizutreten. Doch sie muss feststellen, dass der Vorsitzende Vincent (Björn Gustafsson) finstere Pläne hegt und nicht alle Monster böse sind…
Nelly Rapp – Monster Agent von Regisseurin Amanda Adolfsson ist eine Verfilmung einer beliebten schwedischen Kinderbuch-Reihe und zielt entsprechend auf ein junges Publikum. Das Abenteuer der kleinen Außenseiterin beginnt sehr schwungvoll und sprüht vor Witz, verflacht mit Eintreffen der Monsterjäger aber zusehends. Auch die vermittelte Botschaft ist altbacken, doch da sollte man keine zu großen Ansprüche hegen. Viel schwerwiegender fallen der fehlende Esprit und die nur spärlich aufkommenden und zumeist faden Gags der zweiten Hälfte ins Gewicht. Das anvisierte Publikum sollte trotzdem noch gut unterhalten werden, doch beisitzenden Elternteilen könnte hier öfters mal das Gähnen kommen.
Unsere Wertung:
Die High- & Lowlights unserer Autoren
Thomas:
„Das Niveau der diesjährigen Beiträge war hoch, die Auswahl interessant, und der Fokus lag vor allem auf Einzelschicksalen. In der grellen Gesellschaftssatire Bad Luck Banging or Loony Porn, die der rumänische Provokateur Radu Jude glatt mal mit einem expliziten Sexvideo beginnt, hat das Festival sicherlich einen würdigen, aber auch gehässig lachenden Sieger gefunden. Mein ganz persönliches Film-Highlight war der Noir-Thriller Limbo, der sich von allen Filmen sicherlich am spannendsten und in seiner monochromen Opik am visuell stärksten dargeboten hat. Beeindruckend, vor allem von der Herangehensweise her, fand ich das mexikanische Doku-Drama A Cop Movie. Hier wird am Ende ein Perspektiven- und damit Stimmungswechsel vollzogen, der seinesgleichen sucht.
Trotz des guten Aufgebotes konnte leider nicht jeder Film glänzen. Das französische Polizisten-Drama Albatros vernachlässigt, trotz guter Darsteller, seine Nebenfiguren und verkommt im letzten Drittel zum öden Selbstfindungstrip. Die Probleme der neuseeländisch-kanadischen Produktion Night Raiders sind eher ideeler Natur. Der Film der Regisseurin Danis Goulet pflegt ein altes Feindbild und propagiert Separation, fällt damit in der Filmauswahl des Festivals deutlich aus dem Rahmen.“
Jan:
„Meine persönlichen Höhepunkte waren die beiden Episodenfilme Wheel of Fortune and Fantasy und Forest – I See You Everywhere, sowie der neue Film von Céline Sciamma Petite Maman. Beide ersteren haben mich mit ihren Gänsehaut-Dialogen und den pointieren Beobachtungen des aktuellen Zeitgeists nachhaltig begeistert. Sciammas neue Geschichte hingegen bleibt mir durch ihre Zeitlosigkeit im Gedächtnis. Allen gemein ist, dass man emotionale Reisen geboten bekommt, die insgesamt eher die optimistischen Töne in den Vordergrund stellen.
Zu den Enttäuschungen unter den Filmen, die ich sehen konnte, habe ich einerseits weiter oben, aber auch in einer Einzelkritik schon einige Worte verloren. Dies waren für mich Introduction, mit dem Hong Sang-soo es schlicht nicht schaffen konnte, an seinen Vorgängerfilm qualitativ anzuknüpfen, und Der menschliche Faktor, ein verunglückter Versuch gesellschaftspolitische Relevanz in einen Home-Invasion-Thriller mit angedeutetem Mysterium zu packen. Abgesehen davon hat mich sehr verärgert, dass die beiden deutschen Filme Nebenan und Fabian nicht allen akkreditierten Journalisten zur Sichtung freigeschaltet worden sind. Im Rahmen eines Festivals mit ohnehin schon im Vergleich mit normalen Jahren abgespecktem Programm bei gleicher Akkreditierungsgebühr diese namhaften Produktionen vorzuenthalten, ist ein Unding.“
Die offiziellen Sieger der Berlinale 2021:
Goldener Bär: Bad Luck Banging or Loony Porn
Großer Preis der Jury: Wheel of Fortune and Fantasy
Silberne Bären:
- Preis der Jury: Herr Bachmann und seine Klasse
- Beste Regie: Natural Light
- Beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Maren Eggert (Ich bin dein Mensch)
- Bester schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle: Lilli Kizlinger (Forest – I See you Everywhere)
- Bestes Drehbuch: Introduction
- für eine herausragende künstlerische Leistung: Yibrán Asuad für die Montage von A Cop Movie
Unser Fazit zur Onlinefassung der Berlinale 2021:
Thomas:
„Als Neuling fehlen mir bei der Berlinale 2021 sicherlich die Möglichkeiten zum Vergleich. Dennoch hätte ich es natürlich auch vorgezogen, die Filme vor Ort auf einer großen Leinwand zu sehen. Das kollektive Erlebnis Kino, gerade bei Filmen abseits des Mainstream, ist eigentlich kaum ersetzbar. Trotzdem war es eine interessante Erfahrung, da die Veranstaltungsleitung den Ablauf des Festivals in den Grundzügen beibehalten hat. Und natürlich war es von Vorteil, dass man nun die Gelegenheit hatte, die Filme zu der Tageszeit und in der Reihenfolge zu konsumieren, die einem am ehesten zugetan war. Das erleichterte natürlich auch die Arbeit an zeitnahen Besprechungen. Letztendlich waren es viele interessante Filme, die es an den fünf Tagen zu sehen gab, aber nächstes Jahr das gerne auch wieder im Kino.“
Jan:
No data available.„Das übliche Festival-Feeling konnte durch die reine Online-Ausstrahlung der Berlinale 2021 nicht aufkommen. Es fehlt das spontane Austauschen nach den Sichtungen oder die Resonanz des Kinosaals voll mit kritischen Zuschauern. Trotzdem war die Filmauswahl wieder fast zu hoch, um alles, was sich interessant las, auch sichten zu können. Der Wettbewerb hatte in diesem Jahr ein hohes Grundniveau und ein breites thematisches Spektrum und ist auch im Vergleich mit den Präsenzjahren auf Augenhöhe. Nichtsdestotrotz hätte ich speziell meine Favoriten gerne mit anderen und in einem großen Kinosaal entdeckt. Speziell Limbo ist ein Film, der erst auf der großen Leinwand seine volle Wucht entfalten kann. Hoffentlich bleibt diese Online-Berlinale eine Ausnahme und kann im nächsten Jahr wieder zur alten Normalität zurückgekehrt werden. Erst im direkten Vergleich habe ich gemerkt, wie sehr ich das Festivalfeeling tatsächlich vermisse.“