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Die Kinder müssen vor der versammelten Familie ihre Zeugnisse laut vorlesen in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production

Favolacce

Mit Favolacce ist im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale bereits der zweite italienische Beitrag vertreten. Der genretechnisch schwer zu verortende Streifen rekonstruiert die familiäre Gesellschaft im Speckgürtel Roms und beleuchtet insbesondere das Verhältnis von Kindern zur Welt der Erwachsenen. Wie ihm das gelungen ist, erfahrt ihr im Folgenden.

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TitelFavolacce
Jahr2020
LandItalien, Schweiz
RegieFabio D’Innocenzo, Damiano D’Innocenzo
DrehbuchFabio D’Innocenzo, Damiano D’Innocenzo
GenreDrama
DarstellerElio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino Musella, Gabriel Montesi, Max Malatesta, Tommaso Di Cola, Giulietta Rebeggiani, Justin Korovkin, Giulia Melillo, Laura Borgioli
Länge98 Minuten
FSKnoch nicht bekannt
Verleihnoch nicht bekannt

Worum geht es in Favolacce?

Ein sarkastischer und zwielichtiger Erzähler berichtet er hätte vor kurzem ein begonnenes Tagebuch eines Kindes gefunden. Aus reinem Interesse hat er es gelesen und begann daraufhin, fasziniert von den Einfällen und Hintergründen der kindlichen Schilderungen, dieses fiktiv fortzusetzen. Dabei erzählt er aus einer kindlicher Perspektive heraus (wobei seine erwachsene Weltanschauung durchaus auch Einfluss nehmen) die Geschichte einiger weniger Familien, die frustriert in einer Reihenhaussiedlung leben. Die Erwachsenen haben ihre eigenen Probleme, was bedeutet, dass die Kinder sich ihre Weltsicht eigenverantwortlich erschließen müssen. Da sich dies in einer Gesellschaft, deren Werte immer weiter zu verfallen drohen, als schwierig herausstellt, sind Probleme vorprogrammiert. 

Die Kinder müssen vor der versammelten Familie ihre Zeugnisse laut vorlesen in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production
Die Kinder müssen vor der versammelten Familie ihre Zeugnisse laut vorlesen in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production

Die zerstörte Kindheit

Kinder, die Bomben bauen, Eltern, die ihre Kinder schlagen, Eltern, die ihr Kind weggeben müssen, nachbarlicher Hass oder die Pragmatisierung der Sexualität von Minderjährigen. Die Erzählerstimme aus dem Off entschuldigt sich gegen Ende des Films für die Fülle deprimierender und schrecklicher Geschichten, die er seinem Publikum präsentiert hat. In der Tat ist Favolacce nichts für schwache Nerven. Die Bilder von Fabio und Damiano D’Innocenzo fangen verstörende Szenen ein, die das Publikum auch nach Verlassen des Saals noch im Kopf behalten wird. Feel-Good-Movie geht anders und gerade deshalb sticht der Streifen im Wettbewerb der Berlinale hervor. Eine so konsequent depressive Welteinstellung kennt man sonst eher von Regisseuren in der Tradition eines Lars von Trier, auch wenn dieser Streifen stilistisch ganz anders geartet ist. Dennoch kann auch die Handlung dieses italienischen Dramas nur in der völligen Katastrophe enden.




Die beiden regieführenden Brüder D’Innocenzo, die auch das Drehbuch geschrieben haben entwerfen eine Welt verstörter Erwachsener, die all ihre Last auf den eigenen Nachwuchs übertragen. Dadurch verkommen die Kinder zu Projektionsobjekten eigener Bedürfnisse und Wünsche. Dass diese nicht näher benannt werden, ist verständlich, da die Handlung aus der Sicht der Kinder selbst beschrieben wird. Aus ihrer Perspektive ergibt sich eine Welt, in der die Erwachsenen irrational und sprunghaft reagieren. In einer beispielhaften Szene verschluckt sich der Sohn beim gemeinsamen Abendessen. Der Vater hilft, sodass sich der Junge übergeben kann, woraufhin Mutter und Schwester anfangen zu weinen. Der Vater versucht zu beruhigen, muss dann auch weinen, dann wieder beruhigen und gerät schließlich in rasende Wut angesichts des missratenen Essens. Die Mutter bringt das angesichts der chaotischen Situation entstandene Schuldgefühl des Jungen auf den Punkt, indem sie zu ihm sagt: „Siehst du, was du angerichtet hast?“

Der Vater ist frustriert und möchte nicht an der Feier teilnehmen in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production
Der Vater ist frustriert in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production

Erwachsene, die die Welt nicht erklären können

Seien es die Väter, die ihre Kinder zu besseren Versionen ihrer sich selbst erziehen wollen oder die Lehrkräfte, die ihren Schülerinnen und Schülern Wissen vermitteln ohne einen adäquaten Umgang damit zu unterrichten. In Favolacce werden Kinder und Jugendliche ständig mit Dingen konfrontiert, die sie nicht in einem Zusammenhang verordnen können. Die Erwachsenen helfen dabei nicht, weil sie es zum Teil selbst nicht besser wissen oder können. Es ergibt sich fast schon eine für Stephen King typische Weltanschauung. Wenn dann zwei 10-jährige ihr erstes Mal Sex praktizieren wollen, weil ein solches Verhalten ihnen vorgelebt wird, verursacht der Film eine gezielte Atmosphäre des Unbehagens. Man möchte den Kindern zurufen, sie sollen ihre Kindheit genießen und das tun, was sie interessiert, doch das Chaos ist bereits angerichtet. Wie soll Ordnung in die nächste Generation gelangen, wenn es die Vorbilder doch auch nicht besser wissen? Ein ewiger Kreislauf ist im Gange.

Man könnte nun meinen der Film suhle sich in seiner Skizzierung einer verdorbenen Gesellschaft im Speckgürtel von Rom. Doch eigentlich ist das Ganze eine äußerst intime Perspektive, die durch die Brüder D’Innocenzo auf die Leinwand gebannt wird. Ausgangspunkt und Inspiration bilden die Tagebucheinträge eines Kindes, die nun fiktiv durch den Erzähler fortgeführt werden. Offensichtlich spiegeln sich in diesen ein hohes Maß an innerlicher Verstörtheit und ein Mangel an moralischen und ethischen Anknüpfungspunkte wieder. In gewisser Weise brauchen Kinder einen gewissen Konflikt mit ihrer Umgebungen, um daran zu wachsen, allerdings brauchen sie auch Erklärungen und Ordnungen, um der Welt einen Sinn zu geben. Diese wird ihnen, so der Standpunkt des Films, zu häufig verwehrt. 

Der jüngste Sohn starrt fasziniert eine schwangere Frau an in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production
Der jüngste Sohn starrt fasziniert eine schwangere Frau an in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production

Ein impressionistischer Film

Wie es der Erzähler allerdings betont, handelt es sich hierbei nicht um eine Darstellung gesellschaftlicher Realität. Dafür ist die Erzählstruktur, aber auch das Verhalten der Figuren viel zu sprunghaft und auch zu einfach geraten. Vielmehr ist die fiktive Fortführung als Warnung zu verstehen, wohin sich die Dinge entwickeln können, wenn wir die Bedürfnisse und insbesondere die Erkundung der Welt mit kindlichen Augen nicht ernst genug nehmen. Diese düstere Zukunftsvision inszeniert das Regieduo aus einer impressionistischen Ästhetik heraus, die zunächst gewöhnungsbedürftig daherkommt, sich aber mit zunehmender Laufzeit bezahlt macht. Durch Lichtsetzung, dem Spiel mit Farben, der starren Kamera und nicht zuletzt durch die talentierten Darstellerinnen und Darsteller, welche das Geschehen in einem passenden Overacting auf die Leinwand bannen, entsteht eine Ode an die Kindlichkeit in Form eines Alptraumszenerios. Auch Score und Soundtrack spielen der nervenzerreibenden Atmosphäre geschickt zu.

Eine weitere absurde Idee der Eltern: der Junge soll das Mädchen mit seinen Masern anstecken, damit sie immun wird in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production
Eine weitere absurde Idee der Eltern: der Junge soll das Mädchen mit seinen Masern anstecken, damit auch sie immun wird in Favolacce © Pepito Produzioni, Amka Film Production

Unser Fazit zu Favolacce

Alles in allem stellt Favolacce einen der bisher kreativsten Beiträge des Wettbewerbs auf der Berlinale dar. Sicherlich wird er angesichts seiner impressionistischen Verordnung und seiner drastischen konzipierten Depressivität nicht überall Anklang finden und dennoch muss man dem italienischen Streifen seine Kompromisslosigkeit und klare Konzeption anerkennen. Hier und da wirken einzelne Momente noch etwas zu inkohärent, aber dafür ergibt sich ein einzigartiges Seherlebnis. Es ist durchaus anstrengend dieser Hommage an die kindliche Weltsicht in Form einer schrecklichen Zukunftsvision zu folgen, doch gerade darin liegt der Wert dieser grandiosen Inszenierung. Sie vermag es einen haltlosen und sprunghaften Blick Heranwachsender auf die Leinwand zu bannen, wie man ihn selten gesehen hat. 

Auch wenn es kein Film ist, den man sich so schnell ein zweites Mal anschauen möchte, so liegt das nicht an den „Bad Tales“ (englischer Filmtitel) der Drehbuchautoren, sondern an denen, die eine verkommene Gesellschaft selbst erzählt kann. All das spiegelt sich in den Tagebucheinträgen eines Kindes wieder. Das Publikum bekommt mit Favolacce einen gelungenen Denkzettel in Form einer düsteren gesellschaftlichen Dekonstruktion verpasst, der zwar hart mit anzusehen aber dennoch notwendig ist. Ein großartig beklemmender Film und ein echtes Highlight des diesjährigen Festivals!

Der Film feierte am 25. Februar seine Weltpremiere auf der diesjährigen Berlinale und ist ab diesem Zeitpunkt auf dem Festival zu sehen. Ein deutscher Kinostarttermin ist noch nicht bekannt.

Unsere Wertung:

 

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