Nach meisterhaft virtuos inszenierten Filmen wie Love Exposure beschert uns Regisseur Sion Sono mit Antiporno ein visuell herausragendes Kammerspiel über Identität und gesellschaftliche Machtverhältnisse. Mehr zu einer weiteren besonderen, filmischen Erfahrung des Japaners erfahrt ihr in unserer Review!
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Titel | Antiporno |
Jahr | 2017 |
Land | Japan |
Regie | 園子温 |
Genres | Drama, Mystery |
Darsteller | 冨手麻妙, 筒井真理子, Ami Fukuda, 貴山侑哉, 不二子, 佐々木彩夏, Manami Usamaru, 小谷早弥花, 内野智, Hirari Ikeda, Mana Yoshimuta, Dai Hasegawa, Takumi Bando, Hideyuki Kobashi, 河屋秀俊, Iroha Itou, Ayaka Oohira, 下村愛 |
Länge | 76 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: MagentaTV Kaufen: Apple TV, Sky Store, Rakuten TV, maxdome Store, Videobuster, Microsoft Store, Verleihshop Leihen: Apple TV, Sky Store, Rakuten TV, maxdome Store, Videobuster, Microsoft Store, Verleihshop, Freenet meinVOD |
Antiporno – Die Handlung
Die Künstlerin Kyôko lebt allein in ihrer zu einem Atelier ausgestalteten Wohnung. Als sie eines Morgens erwacht, schlendert sie zum WC. Von knalligen Wandfarben nahezu erdrückt, reflektiert sie dort in tiefer Resignation versunken ihr Leben. Kurz darauf bombardiert ihre eingetroffene Assistentin sie mit den heutigen Terminen. Dabei verfällt die niedergeschlagene Kyôko in eine dominante Haltung. Ihre Assistentin wird zutiefst schikaniert und in körperlicher Unterwerfung gedrängt. Dies steigert sich, nachdem eine Publizistin einer renommierten Modezeitschrift samt Gefolgschaft zu ihr stößt. Die abscheuliche Szenerie mündet in einem Monolog der Protagonistin, bis ein Cut aus dem Off ertönt. Es scheint, als sei das Geschehen eine Inszenierung, in der Strukturen von Macht umgekehrt werden…
Zwischen Schein und Sein
Noch mehrmals bricht der Regisseur mit der Realitätswahrnehmung seiner Hauptfigur und des Publikums. Die Trennungen zwischen Realität, Erinnerungen und Reflektionen der Protagonistin lösen sich fließend ineinander auf. Thematisch ist dies jedoch mit Kyôkos Frust über das eigene Leben verbunden, welches der Willkür des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes ausgesetzt ist. Herrisch zeigt sich die von ihr verkörperte Figur beim Filmdreh. Sie nimmt eine dominierende Haltung gegenüber ihrer Assistentin ein und legt ihr eine herabwürdigende Rolle an. Diese kriecht auf allen Vieren und gehorcht ihren Anweisungen. Am Filmset wird dieses Verhältnis jedoch ins Gegenteil verkehrt. Die Assistentin ist eine erfahrene Schauspielerin und untergräbt verbal das Selbstwertgefühl von Berufsanfängerin Kyôko. Die übrigen Beteiligten diffamieren sie ebenso. Um ihren Beruf behalten zu können, ordnet sie sich unter und lässt die Willkür über sich ergehen.
Ein Leben in Ungleichheit
Der Pornodreh steht repräsentativ dafür, wie japanische Frauen im Alltag Ungleichheit erleben und ihre auferlegte, gesellschaftliche Positionen einnehmen. So ist nicht nur das Berufsleben gekennzeichnet von Machtverhältnissen. Immer wieder klagt Kyôko die patriarchische Landesstruktur Japans an und selbst das familiäre Umfeld ist geprägt von Unterdrückung. Individualität entwickeln und ausleben zu können, gelingt ihr unter diesen Umständen nicht. Zu beobachten, wie sie trotz Versuchen des Ausbruchs zunehmend an ihrem Leben verzweifelt, ist zutiefst betrübend.
Kurz und schmutzig
In weniger als 80 Minuten Laufzeit komprimiert Sion Sono unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten für die Identifikation mit der Figur und ihrer Interaktion mit der Außenwelt. Dabei verweigert er jede Form von Unterhaltungswert. Neben der Schikane und den sexuellen Nötigung in der Berufswelt, bleibt Kyôko auch nicht vor häuslicher Gewalt verschont. Wutentbrannt über die Entscheidung Kyôkos, in einem pornografischen Film mitzuwirken, schlägt ihr Mann sie. Zuvor unterweisen ihre Eltern sie mit naiven Ansichten über Sexualität. Zwar lockern vereinzelte abstrus-humoristische Dialoge das Geschehen zumindest zeitweise auf, größtenteils dominiert jedoch die beabsichtigte Abscheu gegenüber dem Gezeigten. Antiporno ist keinesfalls leicht zugänglich.
Eine lebenslange Freiheitsstrafe
Trotz aller Wehrhaftigkeit findet Kyôko keinen Ausweg und sieht sich in Gefangenschaft. Dies wird auch symbolisch aufgegriffen. So ist beispielsweise eine Echse in einem Glas aufgewachsen. Aufgrund der Größe kann das Tier nicht aus dem gläsernen Gefäß heraus. Wie ein Spielzeug wird das bedauernswerte Lebewesen betrachtet und behandelt. Freiheit ist nur von außen durch ein Zerbrechen der Flasche möglich. Ebenso kann ein eingesperrter Vogel in ihrer Wohnung nur durch das Öffnen des Käfigs nach außen. Auch Kyôko findet keinen Weg in ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben. Dabei lässt Sion Sono sein Publikum wie seine Hauptfigur desillusioniert zurück. Demgegenüber stimuliert der Regisseur die Wahrnehmung mit knalligen, bedeutungsschwangeren Farben. Trotz des optischen Hochgefühls beim Betrachten stellt sich schnell Unwohlsein ein.
Ästhetik ohne Schönheit
Sion Sono entlarvt in seiner künstlerischen Auseinandersetzung ein System, welches Menschen in Hierarchien hineinzwängt und in die Unmenschlichkeit stürzt. Der Umgang mit dem Drang nach Individualität innerhalb gesellschaftlicher Machtgefüge und dem Verhalten innerhalb des kulturellen Kontextes verbindet die Segmente des Films. Das gesellschaftliche und soziale Dilemma wird in seinem visuell opulenten Szenenbild eben nicht kaschiert. Vielmehr untermalen die starken Kontraste das Ungleichgewicht der menschlichen Beziehungen und die Differenz zwischen dem inneren Gefühlsleben und dem äußeren Schein. Antiporno zeigt vieles, nur keine Schönheit.
Emanzipationsdrang als expressive Farbschlacht
Zwischen stilistischer Offensive, scharfsinniger Symbolik und tiefgründigem Meta-Kommentar bleibt dem Publikum viel Raum, Betrachtungsschwerpunkte zu setzen und das Gesehene zu analysieren. Gesprächspotential bietet Antiporno garantiert. Eine Mehrfachsichtung ist aufgrund der Vielschichtigkeit des Werks lohnenswert, auch wenn das Gezeigte kaum zu ertragen ist. Bei aller künstlerischen Abstraktion, die Auseinandersetzung der Figur mit sich selbst, sowie allen Repressionen und Fremdeinflüssen ist unabhängig vom Identifikationsspielraum nachempfindbar. Die systemischen, beruflichen und familiären Stellungen der Figuren zeigen die Ausweglosigkeit gegenüber Herrschaftsstrukturen im Angesicht ihre Unvereinbarkeit mit angestrebter individueller Freiheit. Dabei verschont uns Sion Sono vor plakativen Schuldzuweisungen. Er hält sein Publikum auf kritische Distanz, ohne sich der Empathie verweigern zu müssen.
“Harder, more, much more” – Unser Fazit zu Antiporno
Antiporno steht in Tradition, aber auch bewusster Abgrenzung zu der Erotikfilm-Schmiede aus dem Hause Studio Nikkatsu. Über 1100 Produktionen erblickten in den Jahren zwischen November 1971 und Mai 1988 das Scheinwerfer-Licht der Filmlandschaft. Als einzige Bedingung galt es, alle 10 bis 15 Minuten eine Sexszene zu zeigen. Zudem ist den Werken eine kurze Spielfilm-Laufzeit gemein. Aus dem “Revival” ging neben Filmen wie Aroused By Gymnopedies von Isao Yukisada oder Wet Woman In The Wind von Akihiko Shiota auch Antiporno hervor. Damit gelingt Regisseur Sion Sono eine weitreichende filmische Auseinandersetzung über Identität und gesellschaftliche Machtverhältnisse. Der Film ist ein schonungsloses Drama, welches die Gedanken anregt, für Gesprächspotential sorgt und hinreichend Interpretationsspielraum bietet. Dabei vermengt Sono gekonnt durch handwerkliche Perfektion, intelligente Symbolik und durchdachte Stilistik, künstlerische und inhaltliche Kontraste zu einem Gesamtkunstwerk. Antiporno ist ein außergewöhnlicher Film, der einen lange beschäftigen wird, sollte man sich darauf einlassen.
Antiporno ist seit dem 16. Oktober über Busch Media Group auf Blu-ray, DVD und als Stream verfügbar!
Unsere Wertung:
@ Busch Media Group