Ein weiterer französischer Film widmet sich den Brennpunktvierteln von Paris. Kann Athena bei Netflix an den starken Les Miserables anknüpfen?
Titel | Athena |
Jahr | 2022 |
Land | France |
Regie | Romain Gavras |
Genres | Action, Abenteuer, Thriller, Drama |
Darsteller | Dali Benssalah, Anthony Bajon, Alexis Manenti, Ouassini Embarek, Sami Slimane, Radostina Rogliano, Karim Lasmi, Mehdi Abdelhakmi, Tarek Haddaji, Guy Donald Koukissa, Birane Ba, Sophie-Marie Larrouy, Nesrine Abdat |
Länge | 97 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Athena – Die Handlung kompakt
Wenige Stunden, nachdem ihr jüngster Bruder unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen ist, stürzt das Leben dreier Geschwister ins Chaos.
Kaum Schnitte, keine Distanz, keine Atempause
Die erste halbe Stunde von Athena ist mitunter der intensivste Einstieg in einen Thriller seit Jahren und steht dem Nolan-Blockbuster Tenet in kaum etwas nach. Der Film beginnt direkt in der Polizeiwache nur wenige Stunden nachdem der jüngste von vier Brüdern mutmaßlich von Polizisten getötet wurde. Einer der Brüder, Abdel, ist selbst Teil des Polizeiapparats, der zweite verdingt sich als Unterweltgröße in den Brennpunktvierteln und der dritte, Karim, ist Rädelsführer des Aufstands im Athena-Viertel, wo die Lage nach dem Tod des Jungen endgültig eskaliert ist. Die Aufständischen wollen von den Beamten mit Gewalt die Namen der verantwortlichen Polizisten, die den Bruder getötet haben, erfahren und so landet während der eine Bruder noch an die Vernunft appelliert prompt ein Molotowcocktail zwischen den Reihen. Daraufhin stürmen unzählige Rebellen die Wache, plündern Waffen und brechen quasi einen Krieg mit den Sicherheitskräften vom Zaun.
Während der ersten Stunde gibt es nur ganz wenige Schnitte und wenn dann nur, um die Perspektive zwischen den Brüdern zu wechseln oder marginal auch dem Blickpunkt der Polizei Raum zu geben. Die ersten etwa 30 Minuten sind dabei so atemlos inszeniert, dass man ohne Übertreibung Vergleiche zu The Raid ziehen kann. Die Kameraarbeit ist derart gut, sodass man mehrfach ungläubig staunt ob der Raffinesse und der Planung, die hier rein geflossen sein muss. Die Plansequenzen sind dabei mit Handkameras gefilmt und mitten im Geschehen dabei. Oft hält die Kamera minutenlang den Fokus auf dem Gesicht eines der Brüder während um ihn herum, teils sogar im Unscharfen belassen, sich die Ereignisse überschlagen.
Zeit zum Durchschnaufen genehmigt man dem Publikum ein erstes Mal nach einer guten halben Stunde. Doch selbst dieses Päuschen ist nur von kurzer Dauer ehe dann ein von Chorgesängen begleiteter, nächtlicher Kampf zwischen den Polizisten und den Anwohnern erneut sämtliche Sinne herausfordert.
Eine audiovisuelle Offenbarung
Athena ist aber nicht nur in Sachen Kameraführung ein absoluter Augenschmaus, sondern weiß auch durch die Bildkomposition, die an Wucht kaum zu überbieten ist, zu überzeugen. Neben dem schon erwähnten spektakulären Auftakt bleibt mit Sicherheit auch die Konfrontation zwischen den Plattenbauten lange im Gedächtnis. Dabei ist die Inszenierung schon fast über der Style-over-Substance-Schwelle und könnte auch gut und gerne zu einem Musikvideo gehören. Die Aufständischen beschießen die eingekesselten Sondereinsatzkräfte mit Pyrotechnik nahezu von allen Seiten. Es raucht, es kracht, es blitzt – eine Überflutung mit Reizen prasselt auf die Zuschauer:innen ein. Doch alles ist ästhetisch so ausgeklügelt, dass man sich gern auf diesen Bilderrausch einlässt.
Die Endstufe der Eskalationsspirale
Doch nun zum Inhalt: Athena wird mitunter in seiner Radikalität die Gemüter spalten. Vor allem im direkten Vergleich zu Les Misérables wirkt das Sozialdrama von Romain Gavras noch trostloser. Hier gibt es wirklich kaum noch Momente, die so etwas wie Hoffnung aufkeimen lassen. Man muss diesen Film als Projektion in die Zukunft, die es zu vermeiden gilt, verstehen. Der Thriller setzt genau dann an, wenn der Point of no Return gerade überschritten ist. Rachegedanken haben die Oberhand. Lynchjustiz wird von den Protagonisten als Ultima Ratio akzeptiert. Eine gewaltfreie Perspektive, einen Kompromiss oder gar eine Annäherung scheint zu Utopie verkommen zu sein. Am Ende sprechen es die Nachrichten auf den Bildschirmen im Sozialbau eindeutig aus: Es herrscht Bürgerkrieg in Frankreich.
Athena hat keine Ebene einer Milieustudie mehr, die in Les Misérables noch zu erkennen war. Dieser Film ist kein Kommentar auf die aktuellen sozialen Missstände, sondern eine Warnung vor dem, was hoffentlich nie passiert, aber doch hier als Szenario so realistisch präsentiert wird, dass man Ehrfurcht gelehrt wird. Die Drastik polarisiert und auch das Ende kann noch zu einem negativen Fazit führen. Doch wer diesen Film als Dystopie versteht, der akzeptiert auch die Tendenz zur Überspitzung in der Inszenierung Gavras.
In all der Hatz geht der Subtext unter
Etwas schade ist es jedoch, dass man mit etwas mehr Feingefühl in der Charakterzeichnung und dem Verharren in dem ein oder anderen ruhigen Moment hier doch etwas mehr sozialkritischen Subtext unterbringen können. Allein die Konstellation der Brüder erinnert an ein klassisches Shakespeare’sches Drama. Doch dieser Ebene war man sich wohl auf Seiten der Macher selbst nicht bewusst, denn die Dynamiken bleiben auch in den wichtigsten Szenen an der Oberfläche. Und so treffen zwar die emotionalen Momente das Publikum in der Magengegend. Das Gefühl, dass hier noch mehr Wucht drin gewesen wäre, wenn man die drei Brüder etwas mehrdimensionaler geschrieben hätte, sorgt für einen leicht fahlen Beigeschmack.
Darstellerisch kann man den Schauspielern wenig vorwerfen. Die Fassungslosigkeit, die Wut, aber auch die verzweifelte Suche nach einem Ausweg sieht man den drei Hauptdarstellern, die die so unterschiedlichen Brüder verkörpern, allein schon an den Augen ab. Sami Slimane als Karim hat eine unheimliche Präsenz. Und Dali Benssalah als Abdel wird mit seinem Wutausbruch im Schlussdrittel des Films sämtliche Zuschauer:innen einschüchtern. Leider bleiben die Figuren aber auf ihre Wut reduziert und bieten daher wenig Anknüpfungspunkte fürs Publikum. Ihr Schicksal geht am Ende nicht ganz nah, wie es potenziell möglich gewesen wäre. Das ist mitunter ein Kollateralschaden der audiovisuellen Extraklasse, die die anderen Komponenten möglicherweise etwas zu sehr überstrahlt.
Unser Fazit zu Athena
Der französische Sozialbrennpunkt-Thriller Athena ist ein Rausch für die Sinne über gut 90 Minuten, der ein düsteres Bild von der finalen Stufe der Gewaltspirale zeichnet, die es zu verhindern gilt. Das Potenzial der Geschichte der Brüder auf den unterschiedlichen Positionen im aufkeimenden Bürgerkrieg wird zwar nicht gänzlich ausgeschöpft. Doch die eindrucksvollen Bilder der ersten halben Stunde wird man in diesem Jahr kaum noch steigern können. Der Perspektive der Polizei wird hier keinerlei Raum gegeben und somit wird eine moralische Wertung ein Stück weit schon vorweggenommen. Dadurch wird aus Athena am Ende das perfekte, weil schonungslose, Was-Wäre-Wenn-Szenario am düstersten Ende der Dystopie-Skala, die Filme wie Les Misérables oder Shorta bislang nur angedeutet haben. Das kann keinen kalt lassen und wird polarisieren, aber da genau dieser Wachrüttel-Effekt wohl intendiert war, kann man Romain Gavras zu diesem fantastischen Genrebeitrag am Ende nur gratulieren.
Athena ist seit dem 23. September bei Netflix abrufbar!
Unsere Wertung:
© Netflix