Mit Außer Atem setzte Jean-Luc Godard 1960 den Startschuss für die Nouvelle Vague. Doch ob der Klassiker immer noch den Atem stocken lässt?
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Titel | Außer Atem |
Jahr | 1960 |
Land | France |
Regie | Jean-Luc Godard |
Genres | Drama, Krimi |
Darsteller | Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg, Daniel Boulanger, Henri-Jacques Huet, Roger Hanin, Van Doude, Claude Mansard, Liliane Dreyfus, Michel Fabre, Jean-Pierre Melville, Jean-Luc Godard, Richard Balducci, André S. Labarthe, François Moreuil, Jacques Lourcelles, Liliane Robin, Gérard Brach, Philippe de Broca, José Bénazéraf, Jean Domarchi, Jean Douchet, Raymond Huntley, Louiguy, Michel Mourlet, Guido Orlando, Madame Paul, Jean-Louis Richard, Jacques Serguine, Jacques Siclier, Virginie Ullmann, Emile Villion |
Länge | 87 Minuten |
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Außer Atem – Handlung
Der leichtlebige Kleinkriminelle Michel Poiccard (Jean-Paul Belmondo) ist mit gestohlenem Wagen auf dem Weg nach Paris. Auf der Landstraße entdeckt er einen Revolver im Handschuhfach, schießt ziellos aus dem Fenster und rast ungeduldig gen französische Hauptstadt. Als er von einer Polizeikontrolle gestoppt wird, erschießt er den Gesetzeshüter. In Paris angekommen, versucht er seine Geliebte Patricia Franchini (Jean Seberg), die er im Urlaub in Nizza kennenlernte, von einer Flucht nach Rom zu überzeugen. Doch die amerikanische Studentin und Zeitungsverkäuferin liebäugelt mit einer Karriere als Journalistin. Während Poiccard versucht, das nötige Geld für seinen Plan aufzutreiben, gerät er immer mehr in die Schlinge des Polizeiinspektors Vital (Daniel Boulanger). Und Patricia wird vor die Wahl gestellt: Den Liebhaber schützen oder sich eine Zukunft als Reporterin sichern?
Revolution des Kinos
Jean-Luc Godards erster Langfilm war zugleich sein einflussreichster. Außer Atem gilt als einer der wegweisendsten Filme der Filmgeschichte, besonders aufgrund der innovativen filmischen Mittel. Was heute für selbstverständlich gehalten wird, galt damals noch als undenkbar und unmöglich. Während bis zum Erscheinen von Godards Debüt so gut wie alle Filme in Studios gedreht wurden, führte der französisch-schweizerische Regisseur beim Dreh an Originalschauplätzen eine ganze Reihe an inszenatorischen Instrumenten ein: Die Handkamera, Verwendung von natürlichem Licht, eine neue Schnitttechnik. Das ist allerdings nicht nur Godards künstlerischer Herangehensweise zuzuschreiben, sondern auch den fehlenden finanziellen Mitteln. Da er sich keinen Dolly leisten konnte, schob Godard Kameramann Raoul Coutard einfach persönlich auf einem Rollstuhl durch die Gegend – etwas, was zwar auch Kollege, Vorbild und Wegbegleiter Jean-Pierre Melville für Filme wie Drei Uhr Nachts schon anwendete, allerdings nicht dermaßen offensichtlich.
„Godard is the one who taught me the fun and the freedom and the joy of breaking rules, just fucking around with the entire medium.“ – Quentin Tarantino
Nachdem die ursprüngliche Fassung von knapp zweieinhalb Stunden auf Anweisung der Produzenten stark gekürzt werden sollte, riet ihm Melville: „Ich sagte ihm, er solle alle Szenen rausschneiden, die die Handlung nicht voranbringen, und alle unnötigen, inklusive meiner, entfernen“. Das verriet er später in einem Interview. Doch Godard hörte nicht auf ihn und ließ sich stattdessen von dem 1957 erschienenen Flüchtlingsdrama Moi, un noir inspirieren. Er schnitt anstatt ganzer Szenen einfach kurze Momente innerhalb der Szenen raus – und etablierte so den Jump Cut. Godard verlieh Außer Atem damit eine einzigartige Verve, die auch ganze 60 Jahre nach Veröffentlichung noch ihre Wirkung entfaltet. Zusammen mit dem Durchbrechen der vierten Wand (Belmondo sagt uns gleich zu Beginn als Poiccard, wir können ihn mal) spielte er so mit der filmischen Illusion.
Das französische Kino reitet auf einer neuen Welle
Diesbezüglich wurde er stark von Bertolt Brecht beeinflusst, der das Theaterpublikum gerne ständig daran erinnerte, dass sie ein fiktionales Werk betrachten. Das erreicht Regisseur Godard nicht nur mit direkten Blicken seiner Protagonisten in die Kamera, sondern auch mit der Musik: Das repetitiv-auffällige, wunderbare Klaviergeklimpere von Martial Solal, ein französischer Komponist des Modern Jazz, fängt oft abrupt an und endet ebenso. Das reißt den Zuschauer heraus – nicht aus der Geschichte, aber er fängt fast schon gezwungenermaßen an, über den Film (anstatt mit dem Film) nachzudenken. In einer gewissen jugendlichen Arroganz drehte Godard auch oft entgegengesetzt zu den amerikanischen Vorbildern, an denen er sich grundsätzlich orientierte. Doch wenn die Amerikaner eine Weitwinkelaufnahme verwendet hätten, entschied er sich für eine Nahaufnahme. Kontinuität war ihm dabei komplett egal – die Skript-Supervisorin, die den Regisseur normalerweise auf derartige „Fehler“ hinweisen würde, ließ er einfach nicht zum Dreh.
Mit dem rebellischen Außer Atem gab Godard den Startschuss für die Nouvelle Vague. Zwar zählt François Truffaut mit seinem Debüt Sie küssten und sie schlugen ihn von 1959 als Begründer der neuen Richtung des Kinos, die bis zum Ende der 60er Jahre anhalten sollte. Doch Godard etablierte sie erst mit Außer Atem, basierend auf einer Drehbuchskizze von Truffaut, und bestimmte dadurch auch einige der häufig verwendeten Stilmittel wie das Drehen an Originalschauplätzen. Das Kino sollte sich seiner selbst bewusster werden. Dafür wurde eine sogenannte „Politik der Autoren“ entwickelt, die von den Regisseuren forderte, dass sie sich an allen Schritten der Filmproduktion beteiligten, um einen individuellen, charakteristischen Stil zu kreieren. Weitere namhafte Vertreter der Nouvelle Vague sind Claude Chabrol, Jacques Rivette, Éric Rohmer, Agnès Varda, Louis Malle, Jacques Demy, Chris Marker, Alain Resnais und Jean-Marie Straub.
Existenzialismus in Außer Atem
Der Film knüpft mit Aussagen wie Patricias zum Verhältnis von Freiheit und Unglück oder ihrer Frage an Michel, wie er sich zwischen dem Nichts und dem Leiden entscheiden würde, an die philosophische Richtung des Existenzialismus an. Sie entscheidet sich für das Leid („besser als nichts“), er hält das schlicht für idiotisch – es sei ein Kompromiss und er will entweder alles oder nichts! Michels Mord am Polizisten erinnert durch seine Nüchternheit, dem Mangel an Details, dem Fehlen eines nachvollziehbaren Motivs und der moralischen Egalität an eine ähnliche Szene aus Albert Camus‘ Der Fremde. Camus gilt zusammen mit Jean-Paul-Sartre und Simone de Beauvoir als bedeutendster Philosoph des Existenzialismus.
„Unsterblich werden, und dann sterben“ – Jean-Pierre Melville in der Rolle des Parvulesco
Einen Teil der existenzialistischen Ader hat sicher auch Hauptdarsteller Jean-Paul Belmondo selbst mit in die Rolle gebracht; sein Vater Paul war renommierter Bildhauer und zählte Camus zu seinen guten Freunden. Der von Belmondo gespielte Michel Poiccard hat fast schon eine Obsession zum Thema Tod, ein zentraler Gegenstand dieser Philosophie. Und als Michel schließlich in der letzten, legendären Szene von eben diesem eingeholt wird, wird auch der von Sartre behandelte Begriff des Ekels aufgegriffen. Nachdem Michel nach ausdauerndem „Totenlauf“ auf einer Pariser Seitenstraße zu Boden geht, sagt er im französischen Original „Es ist wirklich zum Kotzen“ und schließt mit den Fingern seine eigenen Augen, bevor er stirbt. Als Patricia Inspektor Vital fragt, was ihr Liebhaber denn gesagt habe, antwortet der fälschlicherweise: „Du bist wirklich zum Kotzen!“
Zufluchtsort: Kino
Außer Atem ist weniger Gangsterfilm als eher ein Film über einen Gangsterfilm. Während er einige zitierwürdige Sätze, Szenen und Stilmittel präsentiert, ist das Werk selbst durchsetzt von Zitaten. Das augenscheinlichste sind dabei die Anspielungen auf den Film noir, insbesondere die Filme mit Humphrey Bogart. Belmondos Michel übernimmt Mimik, Gestik, Kleidungsstil und Attitüde aus den Rollen von „Bogie“, der selbst auch auf einem Kinoplakat zu seinem letzten Film Schmutziger Lorbeer (1956) zu sehen ist. Einige einzelne Phrasen werden aus Filmen mit Bogart sogar entnommen. Zudem werden einige weitere Filme (u. a. Messer an der Kehle und Vierzig Gewehre), Künstler (Picasso, Renoir), Literaten (u. a. William Faulkner und Rainier Maria Rilke) und diverses dem Zeitgeist Entsprechendes direkt oder indirekt zitiert. Anstatt, wie üblich, den Cast in Credits aufzulisten, widmet Godard den Film in seinem Titelvorspann den Monogram Pictures – einer amerikanischen Produktionsgesellschaft für B-Movies, größtenteils des Genres Gangsterfilm.
Auffällig sind auch die Cameo-Auftritte. Neben den Freunden und Kollegen Jacques Rivette (als Leiche nach einem Autounfall) und Jean-Pierre Melville als Romanautor Parvulesco tritt Godard auch selbst auf: Er verrät Michel an die Polizei, genau in dem Moment, als die Story gerade etwas an Tempo zu verlieren droht und stürzt dabei seinen Protagonisten Michel ins Verderben. Ein netter kleiner Wink, der zeigt, wie er als Regisseur die Handlung, ja, den ganzen Film kontrolliert. Zunächst allerdings fungiert das Kino als anonymer Ort gleich zweimal als vorübergehendes Versteck. Das Lichtspielhaus als sicheres Heim. So wie es die Gründer der Nouvelle Vague und ehemaligen Filmkritiker der legendären Zeitschrift Cahiers du cinéma eben erlebt haben.
Außer Atem in den Straßen von Paris
Und als ein solcher Zufluchtsort bietet sich auch Außer Atem an. Das Tempo, die Dynamik, die Frische (auch nach 60 Jahren noch), der sprunghafte, jugendliche Belmondo und die entzückende Jean Seberg – all das lässt uns im Filmgeschehen verlieren, uns auflösen. Michel verfolgt Patricia, schlendert mit ihr die Champs-Élysées entlang, rast mit ihr im Auto durch die Straßen von Paris, versteckt sich mit ihr unter der Bettdecke des Hotelzimmers, wird als Kino(anti)held unsterblich und stirbt schließlich doch in einer dreckigen Seitenstraße durch einen Schuss in den Rücken. Patricia hat ihn verraten. Patricia, an der die Kamera förmlich klebt, in die sie fast verliebt zu sein scheint. Und all das ist dermaßen rasant und haltlos gefilmt, dass wir – Pardon für das stumpfe Wortspiel – letztendlich außer Atem sind. Wir geben uns voll den wunderschönen Schwarzweiß-Bildern hin. Jedoch ohne zu vergessen, dass wir gerade einen Film gucken. Daran werden wir schließlich ständig erinnert.
Unser Fazit zu Außer Atem
Rasant, rebellisch, revolutionär – all das ist Godards Außer Atem. Oder, wie es Martin Scorsese sagte: „Er gab uns eine neue Art, Filme zu machen und eine neue Art, über sie nachzudenken, ein neuer Lebensrhythmus, eine neue Art, uns selbst zu betrachten“. Je häufiger man den Film sieht, je mehr man über ihn liest – desto besser wird er. Und dabei ist Außer Atem noch wahnsinnig unterhaltsam, zitierwürdig, wunderschön gefilmt und unterlegt mit einem hervorragenden Jazz-Soundtrack. Belmondo brilliert als existenzialistischer Held in seiner ersten großen Kinorolle, die ihn über Nacht zum beliebtesten Star Frankreichs neben Alain Delon machte und bekommt dabei die ebenso naiv wie bezaubernd aufspielende Jean Seberg an die Seite gestellt. Ein Film, den man gesehen haben muss, möchte man das (moderne) Kino verstehen.
Die aufwändige Restaurierung in 4K passend zum 60. Jubiläum des Klassikers erstrahlt dabei durch eine fantastische Bildqualität, die dem Film eine wirklich würdige Veröffentlichung beschert. Auch der Sound und das Bonusmaterial können sich sehen beziehungsweise hören lassen. Ursprünglich sollte Godards Langfilmdebüt ab dem 5. November auch noch einmal in Deutschland über Leinwände in ausgewählten Kinos flimmern. Wegen des Lockdowns und der damit einhergehenden Schließungen der Kinos kommt es dazu leider nicht. Schade. Bleibt zu hoffen, dass der Kultfilm nach den Lockerungen trotzdem noch einmal in hiesigen Lichtspielhäusern zu sehen ist.
Außer Atem erscheint ab dem 05.11.2020 digital und in einer 60th Anniversary Edition als DVD & Blu-ray sowie als 4K UHD Limited Vinyl Edition inklusive Soundtrack auf Vinyl.
Unsere Wertung:
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