Der Hardcore Henry von Netflix heißt Carter und ist ein koreanisch-amerikanischer CIA-Agent, der die Pandemie als tickende Zeitbombe bekämpfen muss. Klingt verrückt? Ist es auch! Aber ist Regisseur Jung Byung-gil diesmal übers Ziel hinausgeschossen?
Titel | Carter |
Jahr | 2022 |
Land | South Korea |
Regie | 정병길 |
Genres | Action, Thriller, Krimi |
Darsteller | 주원, 이성재, 정소리, Kim Bo-min, Camilla Belle, Mike Colter, 정재영, 정해균, Yeo Dae-hyun, Gina Theresa Williamson, Byeon Seo-yun, Maurice Turner Jr., 안드레아스 프론크, Wang Jong-myung, Foster Burden, Shin Woo-hee, Lee Ga-kyung, Salim Benoit, Enrico Dennis, Christina Donnelly, Simon Rhee, Jason Scott Nelson, Jonathan Ehren Groff |
Länge | 132 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Carter – Die offizielle Handlungsangabe
„Ihr Name ist Carter. Bitte vertrauen Sie mir, wenn Sie wollen, dass wir hier alle lebend herauskommen.“
Zwei Monate nach dem Ausbruch einer tödlichen Pandemie, die in der demilitarisierten Zone (DMZ) begann und die USA und Nordkorea schwer erschütterte, erwacht Carter ohne jegliche Erinnerung an seine Vergangenheit. In seinem Kopf befindet sich ein merkwürdiges Gerät und in seinem Mund eine tödliche Bombe. Eine fremde Stimme in seinen Ohren erteilt ihm Anweisungen. Die Bombe kann jederzeit hochgehen – es sei denn, er rettet das Mädchen, das das einzige Gegenmittel gegen das Virus ist. Doch die CIA und ein nordkoreanischer Militärcoup sind ihm dicht auf den Fersen.
Computerspiel-Story, Computerspiel-Optik
Schon die Prämisse liest sich wie ein Potpourri aus einem halben Dutzend mehr oder weniger erfolgreicher Adrenalin-/Over-the-Top-Actionfilme der vergangenen zwei Jahrzehnte. Dabei bedient sich der Film aber nicht nur inhaltlich bei Crank, Upgrade oder auch dem ein oder anderen Ego-Shooter-Konsolenspiel, sondern kupfert teilweise ganze Sequenzen ab. Dabei muss man dem südkoreanischen Regisseur zugute halten, dass er dabei allzeit bemüht ist, in Carter eine ganz eigene visuelle Sprache zu erfinden. Aber trotzdem hätte etwas Kreativität auch bei der Wahl der Settings nicht geschadet: Die Szene in einem Badehaus voller Yakuza kennt man beispielsweise aus etlichen Asia-Actionern, die Verfolgungsjagden in Treppenhäusern schauen schon sehr nach The-Raid-Abklatsch aus und die ganze Flugzeug-Fallschirm-Sequenz – und wir sind wieder bei Crank.
Carter reiht in über zwei Stunden Lauflänge eine aufwendig choreografierte, aber aufgrund der schieren Masse nicht mehr überwältigende Keilerei an die nächste. Das hat dann am Ende, genau wie die hanebüchene und komplette ausgenudelte Story, viel mehr von einem PC-Spiel. Im Gegensatz zu den augenscheinlichen Vorbildern gibt es hier nicht den Hauch von Ambition den Figuren etwas wie Mehrdimensionalität oder Charisma zu verschaffen, wodurch man als Zuschauer:in irgendetwas zum andocken hätte. Sogar Computerspiel-Creator haben längst erkannt, dass es nicht mehr nur darum geht, technisch immer mehr des Machbaren herauszuholen, sondern, dass der Rezipient auch eine emotionale Reise mitmachen will, wenn er seine Zeit in ein Medium investiert. Auf dieser Ebene versagt diese Netflix-Produktion durch die antiquierte Level-Struktur auf ganzer Strecke.
Am Ende nur ein überlanger Kameratest
Wer den Trailer gesehen hat, der bekommt das ganze Paket dann in 127-minütiger Dauerschleife – bis zum Tinnitus. Carter ist ein als Pseudo-One-Take-verkleideter Kameratechnik-Showcase mit Darstellern auf Amateurniveau, die zumindest in Sachen Action ganz gut abliefern. Der übertrieben penetrante Score tut sein übriges, damit man bereits nach der ersten, eigentlich finalwürdigen Sequenz im Badehaus nach einer kurzen Auszeit schreien möchte. Doch die gönnt einem diese atemlose Hatz nicht. Ganz im Gegenteil: jede Schlacht soll die vorherige nochmal übertreffen, sorgt aber durch den inflationären Gebrauch von ähnlich einstudierten Abläufen irgendwann für Desinteresse.
Es mag abgedroschen klingen, aber auch dieser Actionfilm ist mal wieder ein Beispiel, dass bewusste Zurücknahme auch eine Tugend sein kann. Und das der Regisseur dies eigentlich beherrscht, hat er einst mit The Villainess bewiesen. Dort hat er wenige Actionszenen gebraucht, um mit diesen dafür aber über Jahre hinweg im Gespräch zu bleiben – und sogar von Hollywood (in John Wick Kapitel 3) zitiert zu werden. Und dann kommt hier noch erschwerend dazu, dass die CGI-Blut-Orgie auch eher unfreiwillig komisch als schockierend wirkt. Da hat beispielsweise der stilistisch ähnlich gelagerte The Night Comes for Us von Timo Tjahjanto sein Publikum viel heftiger in der Magengegend erwischt. Von den billigen Feuer-Effekten ganz zu schweigen.
Seelenlos bis zum endlos Endkampf
Der künstliche Look lässt sich ganz gut analog zum uncanny valley bei Animationsfiguren, die nach echtem Leben aussehen sollen, bewerten: Je mehr in Carter versucht wird, am Rechner die Schnitte, die es natürlich trotz dem Plansequenz-Anstrich gibt, zu überschminken, desto unorganischer wirkt es am Ende. Das gipfelt dann in einem – wer hätte es gedacht? – viel zu langen Showdown: eine parallel an mehreren Stellen auszutragende Konfrontation der Guten und Bösen. Einmal in der Luft mit mindestens drei Helikoptern, Hängeleitern und allem was man sich damit in Gedanken zusammen basteln kann. Und einmal direkt darunter in einem fahrenden Zug auf einer Endlosgeraden. Wenn einem nicht von den vorherigen, vielfach aus der Ego-Perspektive gefilmten Motorradjagden schon übel ist, spätestens durch das ständige Hin und Her zwischen Luft- und Bodenkampf ist es soweit.
Die Szene, die den meisten wohl bei dieser Beschreibung sofort in den Sinn kommt, ist über dreißig Jahre alt. Aber auch heute wirkt trotz oder gerade wegen des Fokus auf die wenigen, dafür aber entscheidenden Momente, das Finale von Mission: Impossible von Brian de Palma mit Sicherheit um einiges imposanter als dieser seelenlose Techniktest aus Südkorea.
Unser Fazit zu Carter
Carter ist ein schwacher, weil seelenloser Versuch von Netflix einen Actionfilm über ein Gimmick, hier die Suggestion eines One Takes, zu verkaufen. Die Action ist zu künstlich, was Look and Feel betrifft. Das ruiniert das ansatzweise erkennbare Know-How für ausdrucksstarke Choreografie mit einem Wimpernschlag. Ein „One Trick Pony“, das selbst an seinem einzige Trick stolpert, ist leider nur bemitleidenswert. Und da man mit Sicherheit bei der Masse an Content nicht in die Verlegenheit kommt, aus Mitleid einen Netflixfilm schauen zu wollen, kann man diesen vergessenswerten Neuzugang im Streamingkatalog getrost skippen.
Carter ist seit dem 5. August bei Netflix abrufbar!
Unsere Wertung:
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