Mit ihrem erst dritten Film, Das Piano, entführte uns Regisseurin Jane Campion in die viktorianische Kolonialzeit ihrer Heimat Neuseeland mitten in eine sich allmählich entfaltenden Dreiecksbeziehung. Begehren, Eifersucht, Hingabe, Misstrauen – Ob der Film noch nach wie vor die richtigen Töne trifft oder mittlerweile nachgestimmt werden müsste, erfahrt ihr hier.
Titel | Das Piano |
Jahr | 1993 |
Land | Australia |
Regie | Jane Campion |
Genres | Drama, Liebesfilm |
Darsteller | Holly Hunter, Harvey Keitel, Sam Neill, Anna Paquin, Cliff Curtis, Kerry Walker, Ian Mune, Geneviève Lemon, Pete Smith, Bruce Allpress, Rose McIver, Verity George, Stephen Papps, Karen Colston, Eddie Campbell, Te Whatanui Skipwith, Tungia Baker, Neil Gudsell, Jon Sperry, Greg Mayor |
Länge | 121 Minuten |
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Die Handlung von Das Piano
Mitte des 19. Jahrhunderts, Neuseeland: die stumme Witwe Ada (Holly Hunter) erreicht die Küste samt ihrer Tochter (Anna Paquin) und einem unentbehrlichen Piano für eine arrangierte Ehe. Doch ihr Gatte Stewart (Sam Neill) weigert sich, das einzige Gut, an dem ihr etwas liegt, transportieren zu lassen. Das Klavier wird an seinen kruden Nachbarn Baines (Harvey Keitel) verkauft, welcher Ada einen Handel vorschlägt: es ist ihr erlaubt zu spielen. Sogar Taste für Taste das Instrument zurückzuverdienen. Als Gegenleistung indes, muss sie während der gemeinsamen Zeit immer höhere Forderungen über sich ergehen lassen, angefangen vom simplen Betrachten bis zum Berühren und darüber hinaus. Ada ist wild entschlossen, ihr ehemaliges Eigentum zurückzuerlangen, auch wenn die erotischen Klavierstunden nicht lange unentdeckt bleiben können…
Intensive Atmosphäre
Das Beziehungsdrama zeichnet eine solide Mischung aus schockierenden, aufwühlenden und malerisch rührenden Szenen aus. Trotz viel nackter Haut dreht sich die Liebesgeschichte weniger um Sex als reine Passion. Die starke Regie plus das Oscar-prämierte Drehbuch finden immer wieder Wege, den/die Zuschauer:innen zu berühren, weder loszulassen noch Langeweile zu verspüren. Denn wirklich spannende Momente sind rar gesät. Alles steht und fällt mit der sich entfaltenden, packend intensiven Atmosphäre, die fast gewaltvoll über die Bildschirme fegt.
Die Symbolik in Das Piano
Das Piano ist hochgradig metaphorisch/mystisch angehaucht. Das Piano selbst, welches wie ein Sarg für Vergangenes und den Tod steht, das Korsett mit unzähligen Röcken, welche man Schicht für Schicht entfernen müsste, um an Ada „heranzukommen“. Manchmal verliert sich der Film in der Verehrung für die eigene Symbolik und magische Atmosphäre, anstatt sie einfach einzufangen. Dennoch überwiegt die Anzahl an bedeutungsvollen Szenen im Gegensatz zu den bedeutungsschwangeren, wenn z.B. ganz gezielt ein verheißungsvolles Foreshadowing stark implementiert wird. Sequenzen wie die Bühnenadaption eines grausamen Theaterstücks fügen sich nahtlos in die Thematik ein und haben im Verlauf mehr Aussagekraft als zunächst vermutet. Die Maori sowie ihre Kultur werden fast schon nonchalant während der eigentlichen Handlung beleuchtet. Sie fungieren in gewisser Weise als Antithese zu Kolonialisten wie Sam Neills Stewart.
Ambivalente Charaktere
Allgemein bekommen wir überwältigende Performances von allen Beteiligten geboten. Ein großer Teil der Intensität von Das Piano wird von den virtuosen Leistungen für sich und vor allem in der hingebungsvollen Dynamik untereinander erzeugt. Dabei vermeidet das Drama, die Charaktere ausschließlich Schwarz-Weiß zu zeichnen. Moralisch ambivalent handelt unsere Protagonistin ebenso wie der vermeintliche Antagonist. Campion schafft es, verwerfliche Aktionen stets mit nachvollziehbaren Gründen zu untermauern. Selbst Ada spielt ihre manipulative Subtilität vollends aus, wenn sie in dem gefährlichem Machtspiel versucht, die Kontrolle zu behalten und ihre Interessen klar abwägt.
Im Kern handelt Das Piano von der Sehnsucht nach (der nicht käuflichen) Zuneigung, der Wiederentdeckung des Begehrens, aber auch der Unabhängigkeit der Frau. Die Männer sind hier fragile Geschöpfe. Von der Romantisierung des rettenden Edelmannes wird deutlich Abstand genommen. Auch wenn es zunächst nicht so aussieht – Zwangsverheiratung, Verkauf des Körpers – hält Ada mit ihrem unbändigen Willen die Zügel fest in der Hand. Hunters anmutig fließenden Noten brachten ihr zu Recht den Oscar als Beste Hauptdarstellerin ein.
Beste Hauptdarstellerin
Wie können die innersten Gefühle wie etwas verbalisiert werden, wenn die Grundlage, die Sprache, fehlt? Durch ausdrucksstarke Mimik und leidenschaftliche Musik! Oft sind Worte nicht genug und gleichzeitig überflüssig, beispielsweise Al Pacinos stummer Schrei in Der Pate III, welcher einem ähnlich in Das Piano das Herz brechen lässt. Ada ist mitnichten stumm, erst recht nicht eingeschränkt in ihrem Ausdruck. Ihre Gesten könnten Berge versetzen, ihre Musik jede Stimmung visuell und akustisch spüren lassen. Hunters Ausstrahlung lässt sämtliche Emotionen mit einfließen, derart stark, dass man während des Seh-/Hörerlebnisses durchaus vergessen kann, dass sie on-camera nie ein Wort spricht. Wir verlieren uns in einem Meer aus Musik – ähnlich wie Ada selbst. Außerdem können wir nachempfinden, warum Baines langsam mehr für sie empfindet, ebenso wie Stewart überwältigt wird von tobender Eifersucht.
Holly Hunter spricht – nicht nur mit den Augen, sondern eben auch mit ihren Händen. Das zeigt ebenso eindrucksvoll in den Momenten mit ihrer Tochter, wenn die beiden vertraut über einzelne Blicke oder die extra erlernte Gebärdensprache kommunizieren. Hunter/Ada strahlt die pure Entschlossenheit aus, um nächsten Augenblick verletzlich, lethargisch zu wirken. Trotz ihres zusammengepressten, schweigenden Mundes vermittelt sie die Aufgewühltheit ihrer Gefühlslage und nutzt das titelgebende Instrument als emotionalen Katalysator.
Beste Nebendarstellerin
Die bis heute die zweitjüngste Oscar Gewinnerin aller Zeiten, bietet eine der besten Kinderleistungen auf Bewegtbild dar. Anna Paquin als Tochter Flora ist es erlaubt, Kind zu sein. Nicht altklug und jederzeit jeglicher Konsequenz bewusst, sondern impulsiv, leichter anpassbar, sich widersprechend in der Aussage, Stewart niemals als Vater anzuerkennen wenngleich einige Zeit später, sich als einzige in diese kleine Familie integriert zu haben.
Sie steht zwischen den Stühlen, schwebt gleichzeitig über allem metaphorisch visualisiert durch ihre Engelsflügel. Zu Anfang in einer harmonischen Symbiose mit ihrer Mutter, später immer trotziger dank der fehlenden Aufmerksamkeit. Paquin spielt diese unbedarfte kindliche Unschuld nicht minder vielschichtig als Hunter. „Spielerisch“ trägt sie zu den Ereignissen ihren Teil bei.
Zwei diametrale Männerfiguren
Diese Ambivalenz innerhalb der tragischen Geschichte wird am besten an Sam Neills Charakter festgemacht, der keinen klassischen Bösewicht verkörpert. Er hockt nun mal nicht in einer Ecke und sinniert über sinistere Pläne. Auf seine kolonialistische Art und Weise, versucht er, dieses wilde Land zu zähmen, ebenso wie sein „rechtmäßiges Eigentum“ gefügig zu machen. Neill verleiht Stewart ein gewisses Selbstverständnis, eine kühle Art, aber ist dabei nicht kalt – nur empathielos. Ein Mann, der keine intime Beziehung zu seiner Frau aufbauen kann, desillusioniert ist, seine Macht zur Geltung bringt, so gnadenlos, drakonisch sein kann, wie der Dschungel, den er bekämpft, schlussendlich allerdings eine glaubwürdige Verletzlichkeit nach außen trägt.
Der eigentliche Kontrast zwischen Stewart und Baines liegt gar nicht so sehr in dem optischen Kontrast, sondern wer wirklich „barbarisch“ und wer manierlich agiert. Baines hat der Zivilisation zwar den Rücken gekehrt, bleibt jedoch der zivilisiertere Mann. Keitel versprüht eine fast greifbare Sinnlichkeit. Die erotischen Szenen zwischen ihm und Hunter werden zum Mittelpunkt des Films. Aber obwohl Baines ein Sympathieträger gegenüber Stewart ist, macht er zunächst nichts anderes, als Ada zu nötigen, zu prostituieren.
Atemberaubend schöne Bilder
Das 19te Jahrhundert wird authentisch eingefangen. Allein Hunters schneeweißes Gesicht in Mitte der Tristesse erinnert an Fotografien aus jener Zeit. Die unberührte neuseeländische Wildnis wird in satten Farben, vermehrt Blau-, Grün und Braun-Tönen, zum Leben erwacht. Anders als z.B. bei einem Werk von Terrence Malick scheint keine Sonne durch die Baumkronen hinab. Keine farbenfrohe Fauna tanzt im Hintergrund herum. Wenn die Siedler sich Wege durch schlammige Hindernisse bahnen müssen, wirken sie merklich fehl am Platz.
Die Landschaft verleiht den Charakteren etwas Geheimnisvolles, wirkt stellenweise klaustrophobisch wie eine nicht fassbare Schwere, die über jedem Bild zu liegen scheint. Der Eindruck wird durch das Vertrauen des Films in seine Bilder nur noch verstärkt, denn häufig werden Situation nicht komplett zu Ende erzählt. Die Bildsprache zuvor war hingegen so eindringlich, dass der/die Zuschauer:in zwar nicht alles zu sehen bekommt, sich aber sehr wohl Gedanken machen kann.
Unser Fazit zu Das Piano
Mit poetischer Melancholie entspinnt sich ein komplexes, erotisches Dreiecksspiel, welches vor brillanter Schauspielkunst nur so strotzt. Kleinere Längen in der Narrative sind bei dieser ruhigen Arthouse-Kost nicht von der Hand zu weisen. Diese werden durch die fein ausgearbeiteten, ambivalenten Charaktere, der hervorragend inszenierten Kulisse sowie allen voran der Gänsehaut erzeugenden Kompositionen mehr als ausgeglichen.
Das Piano ist ab dem 11.08.22 in einer 4K-restaurierten Veröffentlichung mit umfangreichem Bonusmaterial auf 4K UHD, Blu-Ray sowie DVD erhältlich.
Unsere Wertung:
© StudioCanal