Mit DAU. Natasha lief auf der diesjährigen Berlinale der ohne jeden Zweifel umstrittenste Film des Festivals im Wettbewerb. Warum der Streifen das Festival aufgemischt hat und wie gut der Film überhaupt ist, könnt ihr im Folgenden lesen.
Titel | DAU. Natasha |
Jahr | 2020 |
Land | United Kingdom |
Regie | Jekaterina Oertel |
Genres | Drama |
Darsteller | Natalia Berezhnaya, Olga Shkabarnya, Vladimir Azhippo, Alexey Blinov, Luc Bigé, Alexandr Bozhik, Anatoly Sidko, Raisa Voloshchuk, Valery Andreev |
Länge | 138 Minuten |
Wer streamt? | Derzeit leider auf keinem Streamingdienst verfügbar. |
Worum geht es in DAU. Natasha?
Natasha und Olga arbeiten gemeinsam in der Kantine eines sowjetischen Forschungsinstituts zu Zeiten von Stalins totalitärer Herrschaft. Auch wenn sie sich nicht immer gut verstehen, so vertrauen sie sich dennoch relativ viele private Details an. Bei einer abendlichen Feier des Instituts beginnt Natasha eine Affäre mit einem ausländischen Forscher. Olga, die als Einzige englisch sprechen kann, muss ihr bei der Kommunikation helfen. Einen Tag später bekommt Natasha jedoch Besuch von einem KGB-Mitarbeiter, der sie unter drastischen Foltermaßnahmen dazu zwingt, Informationen über den Ausländer preiszugeben. Da sie nicht viel weiß, wird sie gezwungen Falschaussagen über diesen zu machen. In einer totalitären Diktatur ist kein Platz für Privatsphäre oder eigene Entscheidungen.
Eine unglaubliche Produktion
DAU. Natasha sorgte bereits im Vorfeld der Berlinale für Furore. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um einen „normalen“ Spielfilm. Der Streifen ist kaum losgelöst von seiner Entstehungsgeschichte zu betrachten. Eingebettet ist er nämlich in einen Kosmos von insgesamt 13 Filmen, die alle einem großangelegten Projekt angehören. Dieses ist das mit Abstand größte und zugleich umstrittenste Unterfangen der russischen Filmproduktion. Bereits seit 2006 arbeitet Regisseur Ilya Khrzhanovskiy daran, eine großangelegte Simulation des totalitären Systems unter Stalin nachzubauen. Er errichtete auf insgesamt 12000 Quadratmetern ein Areal auf dem echte Personen unter damaligen Zuständen insgesamt drei Jahre lang gelebt haben. Es wird von mehreren Tausend teilnehmenden Personen gesprochen, die dort ein „reales“ Leben geführt hätten. Es gab echte Bäcker und Bäckerinnen, echte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, aber auch echte Nazis und echte Prostituierte. Die Grenzen zwischen Kunstinstellation und Realität verschwimmen.
Produziert wurde das Ganze übrigens auch unter Beteiligung deutscher Produktionsfirmen, weshalb es sogar im Jahr 2018 zu einer einmonatigen Installation in Berlin kommen sollte. Allerdings wurde dieses Projekt aus verschiedenen Gründen abgesagt, weshalb sie nun nach Paris und London ausweichen wollen. Als nun bekannt wurde, dass der künstlerische Leiter der Berlinale Carlo Chatrian einen Vertreter der insgesamt 13 Filme im Wettbewerb laufen lässt, war klar, dass das DAU-Projekt doch noch seinen Weg nach Berlin finden würde. Der Großteil wurde allerdings durch den russischen Unternehmer Sergei Adonjew finanziert, was ebenfalls für Diskussionen in der Filmlandschaft gesorgt hat.
Ein taz-Artikel sorgt für Furore
Doch wie genau sind diese Filme nun eigentlich entstanden? In den insgesamt drei Jahren, in denen Menschen dort gelebt haben, wurde an lediglich 180 Tagen gedreht. Die meiste Zeit haben sich die Akteure also zunächst an die umliegenden Bedingungen gewöhnt. Nach diesem Eingewöhnungszeitraum hat man nun das alltägliche Geschehen gefilmt. Auch wenn es ein grobes Handlungsgerüst gegeben hat, so hat der deutsche Kameramann Jürgen Jürges doch hauptsächlich „nur“ das alltägliche Leben und Agieren der Menschen insgesamt rund 700 Stunden lang gefilmt. Auf der Berlinale werden nun mit DAU. Natasha (hier führte Jekaterina Oertel Co-Regie) und Dau. Degeneratsia zwei fertiggestellte Filme präsentiert.
Zusätzliche Aufmerksamkeit erhielt der Streifen jedoch auch im bereits laufenden Festivalbetrieb der Berlinale. Dem an sich hochfaszinierenden Projekt, dass die Grenzen zwischen Kunst, Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen lässt, wurde einen Tag vor der Premiere ein heftiger Dämpfer versetzt, indem die taz in einem Artikel (hier verlinkt) über schwerwiegende Vorwürfe an Ilya Khrzhanovskiy berichtete. Es klingt wie die reale Geschichte des Romans „Die Welle“. Angeblich habe der Regisseur seine Position und seinen Einfluss für sexuelle Übergriffe benutzt, die schwierige soziale Lage im Umfeld der Produktion ausgenutzt, auf alle Arbeitenden übermäßigen Druck ausgeübt und sogar eine Art Kult heraufbeschworen. In dem Versuch ein Kunstwerk zu erschaffen, dass sich gegen den Totalitarismus und den Überwachungsstaat richten soll, heißt es, er habe selbst Genuss an der Führung einer solchen Machtstruktur gefunden.
Entsprechend hagelte es provokative Fragen auf der Pressekonferenz in Berlin. Ilya Khrzhanovskiy wies alle Anschuldigen von sich und sagt er habe realistische Zustände erzeugen wollen. Die Darstellerinnen gaben an, gewusst zu haben, auf was sie sich dort einließen.
Eine qualvolle Erfahrung
Diese Hintergrundinformationen im Kopf habend, ist es schwer bis gar unmöglich, den Film DAU. Natasha als ein für sich stehendes Werk zu betrachten. Der Film strahlt über sich hinaus und ein gewisses faszinierendes Element kann man der Produktion auch nicht absprechen. Doch wie fällt den der Streifen nun qualitativ aus? Ehrlich gesagt ernüchternd. In endlos langen Szenen improvisieren die Darsteller und Darstellerinnen vor der Kamera, die ihren Alltag in der Kantine des Forschungsinstitutes vollziehen. Dabei wirkt alles in diesen Szenen extrem gestellt, so als wollten die Schauspielerinnen umso mehr zeigen, was sie leisten, jetzt da die Kamera mitläuft. So kommt es relativ zu Beginn zu einem Streit zwischen den beiden Protagonistinnen, der geradezu lächerlich wirkt. Dieses Gefühl des krampfhaft Improvisierten und Bedeutungsvollen erhält man leider auch im folgenden Verlauf des Streifens immer öfter, weshalb es zusehends eine Qual wird sich diesen Wettbewerbsbeitrag anzusehen.
In grauen, körnigen Bildern will Kameramann Jürgen Jürges (der für seine Leistung auf dem Festival den Preis für die Beste Kamera gewinnen konnte) das Dargestellte möglichst realitätsnah aussehen lassen und erinnert in seiner Ästhetik damit an die dänische Dogma-Bewegung. Neues erschafft der Film dadurch visuell nicht. Natürlich provoziert Regisseur Ilya Khrzhanovskiy, indem er pornografische Szenen mit echtem Sex zeigt, oder indem er die abschließende Folterszene hart und ausgedehnt visualisiert. Allerdings sieht man hier nichts, was es im europäischen Kunstkino nicht bereits gegeben hätte. Zusehends verliert sich der Streifen in voyeuristischen Aufnahmen, die zwar das beklemmende Gefühl der Beobachtung auf die Spitze treiben sollen, jedoch eher eine unterschwellige Freude am Gezeigten und Inszenierten offenbaren. Besonders in Hinblick auf die von der taz geäußerten Anschuldigungen scheint sich der Regisseur auch in diesen Aspekten vollständig in seiner eigenen Welt verloren zu haben.
Inhaltlich belanglos
Dieser ist schnell erzählt. Eine Frau wird überwacht und am Ende gezwungen, Falschaussagen zu verbreiten. Tiefere Analysen bekommt man hier leider nicht geboten. Außerdem ist man besonders enttäuscht, da das angeblich Ausmaß und die Dimension des Projektes zu keinem Zeitpunkt erkennbar wird. Hier gewinnt man eher den Eindruck man wolle ein Kammerspiel inszenieren. Gerade durch die angenommene inhaltliche, aber auch produktionstechnische Größe gestaltet sich DAU. Natasha als überaus enttäuschend. Seine Faszination entwickelt der Streifen eben gerade erst durch das Wissen zum Hintergrund. Zum Beispiel wird der Folterer des Geheimdienstes gespielt von Vladimir Azhippo, der auch tatsächlich ein früherer KGB-Mann gewesen ist. Dieser makabere Umstand wirft erneut die Frage auf, welche Mittel zur Produktion von Kunst erlaubt seien. Noch hat es keine bekannt gewordenen Anklagen gegeben und doch zeichnen einzelne Stimmen der Produktion eine Welt, die deutlich über das freiwillige Agieren der Beteiligten hinauszugehen scheint.
Unser Fazit zu DAU. Natasha
Möglicherweise ist es gut, dass ein solcher Film auf der diesjährigen Berlinale seine Premiere gefeiert hat. Dadurch rückt er in den medialen Vordergrund und verlangt insbesondere im Anschluss an den taz-Artikel nach Aufklärung. Auch angesichts der fehlenden Einordnung in die restlichen zwölf Filme bleibt der Streifen dem Publikum mehr Fragen schuldig, als dass er Klarheit verschafft. Die voyeuristischen Szenen und der problematische Umgang mit sichtlich überforderten Darstellerinnen und Darstellern machen den Film jedoch kaum erträglich. Sollte an den laut gewordenen Vorwürfen außerdem etwas dran sein, so handelt es sich sogar um einen zutiefst verachtenswerten Film, der nur deshalb eine Rolle spielen sollte, um die realen Hintergründe der Dreharbeiten aufzuklären. Das Kunstwerk selbst liefert hier keine Antworten, wodurch es seinen Zweck verfehlt.
Kunst an sich darf natürlich alles, aber gerade in Zeiten von Me-Too-Bewegungen, aber auch aufkommendem Rechtsextremismus geht der Film weit über das hinaus, was die gängige Produktionspraxis als moralisch und ethisch vertretbar empfindet. Besonders ärgerlich wird das Ganze, da man den Eindruck hat, dass alles Gezeigte auch durchaus mit herkömmlichen Methoden hätte inszeniert werden können und es in diesem Fall möglicherweise sogar besser gelungen wäre. Wenn Regisseur Ilya Khrzhanovskiy jedoch einmal erleben möchte, wie man echten Realismus einfangen kann, dann sollte er sich bei seinem Wettbewerbskollegen Rizi von Tsai Ming-Liang umschauen. DAU. Natasha hingegen macht nur durch seine fast schon unglaubliche Hintergrundgeschichte von sich reden und ist ein fürchterliches Werk.
Der Film feierte am 26. Februar seine Premiere auf der diesjährigen Berlinale und ist von diesem Zeitpunkt an auf dem Festival zu sehen. Einen deutschen Kinostarttermin ist noch nicht bekannt.
Unsere Wertung:
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