Einen Festival-Liebling aus dem vergangenen Jahr hat sich für den deutschen Markt Netflix gesichert. Im dystopischen Thriller Der Schacht wird eine sozialkritische Geschichte erzählt, die durchaus an Snowpiercer erinnert. Ob der Debütfilm eines spanischen Regisseurs diesem Vergleich standhalten kann, lest ihr in der folgenden Kritik.
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Titel | Der Schacht |
Jahr | 2019 |
Land | Spain |
Regie | Galder Gaztelu-Urrutia |
Genres | Drama, Science Fiction, Thriller |
Darsteller | Ivan Massagué, Antonia San Juan, Zorion Eguileor, Emilio Buale, Alexandra Masangkay, Zihara Llana, Mario Pardo, Algis Arlauskas, Txubio Fernández de Jáuregui, Eric Goode, Óscar Oliver, Chema Trujillo, Miriam Martín, Gorka Zufiaurre, Miriam K. Martxante, Miren Gaztañaga, Braulio Cortés, Javier Mediavilla, Álvaro Orellana, Juan Dopico, Lian Xushao |
Länge | 95 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Der Schacht – ein perfides Sozialexperiment
In einer dystopischen Zukunft hausen Gefangene hungernd in übereinander gestapelten Zellen, vor denen die Nahrung von oben nach unten herabgelassen wird. Dabei bekommen die oberen Gefangen stets etwas ab, die weiter unten sind ausgehungert und reagieren immer radikaler.
In diesem vertikalen Gefängnis wacht Goreng (Ivan Massagué) auf und schnell werden ihm die Regeln dieser Institution klar:
- Je niedriger das Level ist, auf dem sich befindet, desto weiter oben im Turm befindet man sich. Ergo desto mehr bleibt vom reichlichen Mahl noch übrig.
- Essen darf man nur auf der Platform. Wer etwas davon versucht zu horten, der spürt sehr schnell die Konsequenzen.
- Einmal im Monat werden den Insassen neue Zellen auf einer anderen Etage zugewiesen.
- Jeder Bewohner des Gebäudes durfte sich einen Gegenstand aussuchen, den er in der Gefangenschaft behalten darf. Goreng hat sich für ein Buch entschieden, sein Zellengenosse (Zorion Eguileor) für ein Messer.
In diesem Klassenmodell werden die Probanden vor zahlreiche moralische Dilemmata gestellt. Umso länger man im Schacht überlebt, desto mehr verfällt man dem Wahnsinn.
Simples Regelwerk, hoher Spannungsgrad
Neben den denkbar einfachen Regeln für das Dasein im Schacht, ist auch das Setting extrem reduziert. Der Film spielt bis auf wenige Einblicke in die Interviews mit den Insassen und in die Küche, in der das Festmahl kredenzt wird, vollständig im titelgebenden Gebäudeinneren. Durch diese Konzentration auf die Prämisse, die auch erst peu á peu erläutert wird, fühlt man sich als Zuschauer nahezu selbst wie einer der Insassen, der eines Tages plötzlich in dieser sonderbaren Umgebung erwacht. Von der ersten Minute an ist man mit im Schacht und muss, ähnlich wie in Saw, gleichzeitig versuchen sich zu orientieren und auch noch entscheiden, ob man dem fremden Mitgefangenen in der Zelle vertrauen kann. Die undurchschaubare Lage des Protagonisten in der nicht gerade einladenden Kammer sorgt für Hochspannung ohne Anlaufzeit.
Klaustrophobie und Kannibalismus
Die kargen Wände, die kleinen Fenster und das Fehlen jeglicher Türen machen die Zellen zum Albtraum für Menschen mit Platzangst. Zusätzlich weiß man nicht, mit wem man nach der nächsten Rochade aufwachen wird. Doch das spielt auch nur bedingt eine Rolle, denn je länger man das perfide Spiel mitspielt, umso mehr vergisst man seine eigene Moral. Der Klassenkampf lässt speziell die Insassen in den unteren Ebenen verrohen. Denn da oftmals nichts mehr zu essen weiter unten ankommt, leiden diese Gefangenen zusehends an Hunger und beginnen noch schneller verrückt zu werden. Manch einer beginnt zu halluzinieren, andere beginnen, einen Ausbruch oder Aufstieg zu planen. Aber die größte Gefahr geht von denen aus, die bereit sind, ihren Hunger durch das Fleisch des Zellengenossen zu stillen.
Ekelhaft, brutal und schonungslos
Den wahren Horror entfaltet Der Schacht aber erst durch die überaus gelungene Inszenierung. Hier fügt Debütant Galder Gaztelu-Urrutia sämtliche Teile perfekt in die klaustrophobe und abstoßende Atmosphäre ein.
Einerseits ist der Score sehr treibend und sorgt für ein hohes Pacing. Die schrillen Huplaute, die die Bewegung der Platform ankündigen, die manischen Schreie der Insassen im Wechsel mit nervenzerreibender Stille. Andererseits ist auch die Bebilderung äußerst effektiv für die bedrohliche Aura, die permanent in der Luft liegt. Die farbliche Limitierung wird nur kontrastiert durch den extrem opulenten Tisch mit den Speisen. Und wenn die Nacht anbricht und Rotlicht den Raum erfüllt, kann man sich auch gut vorstellen, dass man in so einer feindlichen Umgebung wohl ungern derjenige ist, der als erster einschläft.
Sobald sich die ausgehungerten Menschen über das Essen hermachen, mutet das größtenteils schon sehr ekelerregend an. In der Verwahrlosung gibt es hier keine Manieren und keine Esskultur mehr. Es herrscht die pure Völlerei.
Ebenso drastisch werden auch Gewaltexplosionen hart und schonungslos blutig abgebildet.
Der Schacht tut beim Zuschauen weh, man verliert ein stückweit den Glauben an das Bedürfnis nach Kultur und Gemeinschaft im Menschen. Diese Dystopie offenbart das Triebwesen im Menschen, „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ und sich im Zweifel doch nur selbst der Nächste.
Ähnlich, wie in vergleichbaren Gedankenspielen, soll uns dieser Film durch die schockierenden Momente wachrütteln und aussagen, wie fragil unser Gesellschaftskonstrukt doch sein kann, wenn man nicht das Miteinander zu betonen weiß.
Der Schacht hat keinen Helden
Zwar steht Goreng im Mittelpunkt der Geschichte, aber einen richtigen Helden gibt es in Der Schacht nicht. Ivan Massagué spielt den Protagonisten gut, und gemeinsam mit ihm versucht man, eine Logik oder gar einen Ausweg zu finden. Letztlich ist aber auch er nur einer der Gefangenen oder vielmehr ein Versuchskaninchen in diesem psychologischen Experiment.
Die Panna Cotta ist die Botschaft.
Ingesamt spielen alle Schauspieler authentisch die teils weniger, teils mehr durchgedrehten Insassen der Anstalt. Insbesondere Zorion Eguileor ist jedoch hervorzuheben, denn seine Figur erinnert doch durch den Spagat zwischen Intelligenz und Boshaftigkeit sehr an Ikonen wie Hannibal Lecter.
Kein runder Abschluss
Der Schacht ist der Debütfilm des Regisseurs Galder Gaztelu-Urrutia und dafür erstaunlich wirkungsvoll. Doch leider merkt man im Schlussdrittel, dass hier noch etwas Routine fehlt, um einen Spielfilm hinten raus nicht ausfransen zu lassen. Man erkennt, dass man sich scheinbar komplett in die Idee dieses Gesellschaftsexperiments verliebt und dabei eher stiefmütterlich noch Gedanken für einen pointierten Schluss übrig hatte. Sowohl die etwas hektische Action, als auch der offene und abrupte Endpunkt sorgen dafür, dass der Psychothriller auf der Zielgeraden einiges an Wirkungskraft einbüßt.
Auch wenn 94 Minuten verhältnismäßig nicht besonders lang sind, kann man sich gut vorstellen, dass man die grandiose Idee sogar noch besser in einem Kurzfilm verpackt hätte.
Unser Fazit zu Der Schacht
Der Psychothriller beginnt sensationell und kann sowohl durch die eingeengte Atmosphäre als auch das permanent mulmige Gefühl über weite Strecken ein sehr hohes Spannungsniveau aufrecht halten. Dem Zuschauer wird immer mehr klar, dass es eigentlich eine Lösung gäbe, bei der keiner hungern müsste.
Die Botschaft, dass Egoismus, Misstrauen und falsche Kommunikation die Stolpersteine auf dem Weg zur Funktionsfähigkeit innerhalb dieses Gesellschaftsmodells ist, scheint zudem sehr aktuell und hält auch uns ein stückweit den Spiegel vor.
Hätte man gewusst, wie man auf dieser Basis eine Geschichte mit einem runden Ausgang erzählt, wäre definitiv noch mehr drin gewesen. Doch leider sorgen die von Galder Gaztelu-Urrutia zu konventionell inszenierten Kampfszenen und die Schlussnote dafür, dass man eher leicht verärgert ob des liegengelassenen Potenzials den Film beendet.
Der Schacht ist seit dem 20. März 2020 bei Netflix abrufbar.
Unsere Wertung:
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