Der Roman Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry hat in gewissen Kreisen Kultstatus. Kann die Verfilmung da mithalten? Die Chance besteht, da die Romautorin auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Ob das gelungen ist, erfahrt Ihr hier.
Titel | Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry |
Jahr | 2023 |
Land | United Kingdom |
Regie | Hettie Macdonald |
Genres | Drama |
Darsteller | Jim Broadbent, Penelope Wilton, Linda Bassett, Earl Cave, Joseph Mydell, Bethan Cullinane, Nina Singh, Monika Gossmann, Claire Rushbrook, Nick Sampson, Adam Jackson-Smith, Andrew Leung, Joy Richardson, Daniel Frogson, Jessica Kaur, Maanuv Thiara, Naomi Wirthner, Ian Porter, Alyson Marks, Duggie Brown, Tigger Blaize, Marvin Brown, Trevor Fox, David Gennard, Howard Grace, Braxton Kolodny, Brian Male, Georgia Nicholson, Lucy Reynolds, Jazz Shergill, Nick Sampson, Bogdan Silaghi, Leila Temirzhanova, Georgina Strawson |
Länge | 108 Minuten |
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Die Handlung von Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Harold (Jim Broadbent) und Maureen Fry (Penelope Wilton) sind ein altes Ehepaar und leben seit 25 Jahren mehr nebeneinander her als miteinander. Da bekommt Harold eine Nachricht von Queenie (Linda Basset), einer alten Kollegin, die er seit ebenfalls 25 Jahren nicht mehr gesehen hat. Queenie liegt im Sterben in einem Hospiz. Harold will ihr schreiben, doch fällt es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Schließlich aber will er den Brief auf den Weg bringen. Am Briefkasten zögert er, geht weiter in Richtung Post. Er macht Halt an einer Tankstelle, um eine Packung Milch zu kaufen. Die Kassiererin erzählt ihm von ihrer an Krebs erkrankten Tante, und dass es dabei nicht nur um das Medizinische geht, sondern auch um das Innere. „Der Glaube, dass man etwas bewirken kann, hat ihr Hoffnung gegeben“, sagt sie.
Harold ist kein religiöser Mensch, wie er betont. Und doch glaubt er plötzlich, wenn er die 480 Meilen, das sind etwa 772 Kilometer, vom heimatlichen Devon bis nach Berwick, der nördlichsten Stadt Englands kurz vor der schottischen Grenze, zu Fuß zurücklegt, könnte er Queenie dadurch heilen. Und so beginnt Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry – unzulänglich bekleidet und nur mit leichten Segelschuhen an den Füßen. Angetrieben wird er dabei auch von komplexen Schuldgefühlen, deren Gründe sich erst nach und nach enthüllen. Wird es am Ende seines Weges Heilung geben? Und wenn ja, für wen?
Literaturadaption als Selbstfindungstrip
Pilgern ist in. Und es gibt mittlerweile viele Filme, die sich mit dem Thema der Selbstfindung durch Gewaltmärsche beschäftigen. Das geht mal einigermaßen lustig zu wie in Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg. Oder philosophisch angehaucht wie in Dein Weg von Emilio Estevez mit Martin Sheen auf den Jakobs-Spuren seines verstorbenen Sohns. Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry erinnert thematisch dagegen etwas mehr an James Ivorys Was vom Tage übrig blieb mit Anthony Hopkins. Beides sind gelungene Literaturadaptionen und Stoffe, in denen es um Freundschaft und verlorene Liebe geht.
Liebe ist es allerdings nicht, was Harold mit Queenie verbindet. Es ist neben der engen kollegialen Freundschaft vor allem eine Schuld, die auf ihm lastet. Die Liebe, um die es hier geht, ist die verschwundene Liebe zwischen ihm und seiner Frau. Die Trostlosigkeit dieses Ehelebens wird schon in den ersten Bildern deutlich. Während des Vorspanns sieht man das monotone Auf und Ab eines Staubsaugers über einem Teppichboden. Staubsaugen als Lebensinhalt. Entsprechend steril ist die Wohnung von Harold und Maureen. Alles sauber und aufgeräumt, keine Bilder an den Wänden, nichts Überflüssiges auf den Schränken. Auch die Rentnervorstadt, in der sie leben, wirkt mit ihren adretten Einfamilienhäusern so leblos wie die Gemüter ihrer Bewohner sein dürften.
Ein schöner Tag für die Terrassenstühle?
Dass zwischen den Eheleuten kommunikativ tiefste Ebbe herrscht, klingt in den ersten Dialogzeilen an. Harold erhält die Nachricht von der sterbenden Freundin. Maureen sagt ohne jede Spur von Sensibilität: „Es ist ein schöner Tag, willst Du nicht die Terrassenstühle rausstellen?“ Und sie kann seine Schwierigkeiten, eine angemessene Antwort auf die ihn erschütternde Nachricht zu finden, nicht begreifen. „Ich verstehe nicht, wieso Du nicht einen Brief schreibst wie jeder normale Mensch.“ Doch Harold ist nicht wie jeder normale Mensch, auch wenn es etwas dauert, bis er dies erkennt. Naiv beginnt er seine Wanderung. Er ruft in dem Hospiz an und lässt Queenie ausrichten: „Sagen Sie ihr, Harold Fry ist unterwegs. Ich werde laufen, und sie muss leben!“ Und während er seinen Marsch mit stetig wachsender Mühe fortsetzt, flüstert er gebetsmühlenartig vor sich hin: „Du wirst nicht sterben…“
Während die Anstrengungen den Protagonisten zusehends an den Rand der Erschöpfung bringen, halten schnelle Szenenwechsel die Zuschauenden am Ball. Kurze Flashbacks lassen die Hintergründe von Harolds Motivation Stück für Stück immer etwas mehr erahnen. Das ist ein geschickter Spannungsaufbau. Auch Maureen erhält in der filmischen Umsetzung von Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry verhältnismäßig mehr Raum. Denn verändern werden sich beide. Er, indem er läuft, sie, indem sie zu Hause geblieben ist. Schließlich geht es hier weniger um Queenie, deren Leben in Rachel Joyces Nachfolgeroman „Das Geheimnis der Queenie Hennessie“ eine angemessene Würdigung erfährt. Es geht um die Liebe zwischen Harold und Maureen.
Ausdrucksstarkes Spiel würzt Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Hettie Macdonald arbeitet dabei mit ausdrucksstarken Bildern, sowohl von Landschaften und Naturbedingungen, als auch von Menschen. Gezielte Unschärfen fokussieren auf relevante Inhalte, und immer wieder geht die Kamera ganz dicht an die Gesichter heran. Das funktioniert dank der hervorragenden Darsteller auch ganz ausgezeichnet. Jim Broadbent zeigt auf unglaublich subtile Weise allein mit seinen Gesichtsausdrücken die wachsende Seelentiefe Harolds. Ausdrücke, die mehr sagen als tausend Worte. Und die zuletzt aus Downton Abbey bekannt Penelope Wilton steht dem nicht nach. Nur manchmal wirkt die Bildsprache etwas arg aufgesetzt, wenn Lichterglanz die Heilswirkung von Harolds Selbstfindungstrip illustrieren soll.
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry zeigt viele bewegende Momente voller Emotionen. Wenn Harold mit entzündeten Füßen vor sich hin stolpert, wird sein Leiden unmittelbar nachfühlbar. Ganz nebenbei verweisen die Begegnungen, die er hat, auf eine Vielzahl sozialer Probleme, ohne dabei mit dem moralischen Zeigefinger auf Missstände zu verweisen. Es ist eine Kritik der leisen Töne, die mehr um Verständnis bittet, etwa wenn ihm ein älterer Homosexueller seine Nöte mit seinem jungen Geliebten erzählt. Oder die slowakische Ärztin, die in England nur als Putzfrau arbeiten kann, ohne deren Hilfe er seinen Weg aber niemals hätte fortsetzen können.
Dass Harolds Wanderung alsbald zu einem Medienereignis wird, ist auch kein Wunder. Schließlich schließen sich ihm etliche Begleiterinnen und Begleiter an, die seine eigentlich stille Pilgerreise zur lautstarken Demonstration pervertieren, die quasi sektenhaft auszuarten droht. Wobei sich die Mitpilgernden eher selbst feiern, als sich auf die Suche nach inneren Werten zu machen. Auch diesem Aspekt räumt der Roman mehr Raum ein, im Film bleibt die Kritik an solchen quasi-religiösen Verirrungen verhältnismäßig harmlos.
Unser Fazit zu Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Es ist bei einer Literaturverfilmung selten von Nachteil, wenn die Autorin oder Autor der Vorlage auch das Drehbuch zum Film verfasst. So ist auch die Verfilmung von Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry sehr dicht am Roman geblieben. Natürlich geht dabei immer etwas von der literarischen Tiefe verloren. Doch ist es hier gelungen, das Wichtigste davon in die filmische Sprache zu überführen. Ein paar kleine inhaltliche Akzentverschiebungen schaden dabei nicht viel. Wie der Roman gibt auch der Film viele Anreize, darüber nachzudenken, was im Leben wichtig ist. Erst der Verzicht auf alles Überflüssige, die Beschränkung auf solche Dinge, die er am Wegesrand findet, gibt Harold Fry die Freiheit, zu seinen Gefühlen zurückzufinden. Eine schöne Botschaft, die nur ganz selten etwas zu dick aufgetragen wird.
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry erscheint am 8. Februar 2024 auf DVD und Blu-ray. Digital ist der Film bereits seit dem 25. Januar erhältlich.
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