Ambitionierte Bauchlandung oder furioser Volltreffer? Emilia Pérez von Jacques Audiard spaltete schon bei seiner Premiere in Cannes die Gemüter. Wir werfen einen genauen Blick auf den vielversprechenden Oscar-Kandidaten.
Titel | Emilia Pérez |
Jahr | 2024 |
Land | Belgium |
Regie | Jacques Audiard |
Genres | Drama, Thriller |
Darsteller | Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Adriana Paz, Selena Gomez, Edgar Ramírez, Mark Ivanir, Eduardo Aladro, Emiliano Hasan, Gaël Murgia-Fur, Tirso Pietriga, Xiomara Ahumada Quito, Magali Brito, Jarib dit Javier Zagoya Montiel, Sébastien Fruit, Alejandra Reyes, Anabel Lopez, Daniel Velasco-Acosta, James Gerard, Braulio Gómez Bernal, Stéphane Ly-Cuong, Tulika Srivastava, Johanna Rebolledo Marin, Alejandra Díaz Ambrosi, Karla Lazo, Gabriela Ceceña, Lucile Chriqui, Sarah Gfeller, Luis Gabriel Gonzalez, Loïc Percheron Lazo, Rosario Zamora, Nathalia Saucedo, Monica Ortiz, Marysol Cordourier, Alonso Venegas-Flores, Ana Laura Fortuit, Jonas Paz-Benavides, Tiphanie Ham, Benjamin Díaz Espinoza, Holly-Rose Clegg, Kalvin Winson, Lou Justine Moua Nédellec, Michaël Charny, Ismaël Mohammed Ali, Katie Valentine, Zelda Rittner, Eric Geynes, Silvia Herraiz, Ángel Romero, Eduardo Lubo, Manuel Sol Mateo, Théo Guarin, Lucas Varoclier, Agathe Bokja, Chun-Ting Lin, Line Phé, Shuuko Calderón, Paul Kai Te |
Länge | 130 Minuten |
Wer streamt? | Derzeit leider auf keinem Streamingdienst verfügbar. |
Emilia Pérez – Die Story
Die mexikanische Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldaña) bekommt in einer Nacht-und-Nebelaktion einen Auftrag, der ihr Leben verändern wird. Sie soll einem gefürchteten Kartelloberhaupt zu einer Geschlechtsangleichung verhelfen und anschließend seine Spuren verwischen. So inszeniert Rita den Tod von “Manitas” Del Monte und erschafft Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón). Vier Jahre später läuft ihr diese in London über den Weg und benötigt erneut Ritas Hilfe. Denn Emilia sehnt sich nach ihren Kindern, die noch immer bei ihrer Mutter Jessi Del Monte (Selena Gomez) leben – unwissend, dass ihr anderer Elternteil noch nicht tot ist. Rita muss die Familie nun wieder vereinen, ohne dass Emilias Identität enthüllt wird, denn noch immer trachten ihr diverse dunkle Gestalten aus ihrer Vergangenheit nach dem Leben.
Ein Vorwort
Eingangs sei erwähnt, dass der Autor dieser Kritik sich seinem Geburtsgeschlecht zugehörig fühlt. Ebenso wenig stammt er aus Mexiko oder hat das Land jemals selbst betreten. Insofern wird in der folgenden Rezension nicht ausführlich auf Emilia Pérez‘ kontrovers besprochenen Umgang mit der Repräsentation beider Gruppen eingegangen werden. Bereits seit Cannes wird Audiard der sicherlich nett gemeinte, aber schlussendlich großväterliche Umgang mit Themen wie Geschlechtsidentität vorgeworfen, und auch wenn ich geneigt bin, diesen Beurteilungen zuzustimmen, glaube ich nicht, dass meine Perspektive in dieser Diskussion erforderlich ist. Wer also wissen möchte, ob Emilia Pérez der Affront an die Bevölkerung Mexikos oder die Trans-Community ist, als der er in sozialen Medien mitunter reißerisch bezeichnet wird, möge stattdessen kritischen Stimmen von Vertreter:innen abgebildeter Personengruppen lauschen. Eine Bemerkung dazu kann, sollte und möchte ich nicht abgeben.
Stattdessen wird sich die Besprechung vor allem auf die technische Umsetzung des Films konzentrieren. Funktioniert Emilia Pérez als subversives Kinomusical? Gelingt Jacques Audiard der Sprung in das bis dato expressivste Genre, dem er sich je gewidmet hat? Überzeugen Cast, Geschichte und Inszenierung?
Tanzende Bilder
Die Aufnahme einer Mariachi-Band blendet langsam in eine Panorama-Einstellung von Mexiko-Stadt über; wir hören eine klagende elektronische Gesangsstimme. Immer lauter werden die durch Lautsprecher schallenden Rufe von fahrenden Händler:innen. Schließlich schneidet der Film auf ein Gesicht, das mit demselben Interesse wie wir die Ereignisse auf den Straßen beobachtet und uns über die kommenden 130 Minuten begleiten wird. Anwältin Rita, atemberaubend dargestellt von einer Zoe Saldaña in Bestform, die in der kommenden Preissaison eine entscheidende Rolle spielen dürfte, dient als unser Blick in die Realität des Films. Gerade brütet sie über der Verteidigung eines zweifellos schuldigen, aber mächtigen Mannes. So leitet uns Jacques Audiard in die erste Musiknummer von Emilia Pérez.
“El Alegato” – “Die Anklage” – ist ein beeindruckender Start in ein Musical, in dem Gewalt und Brutalität wunderschön choreographiert sind, in dem die Grenzen des guten Geschmacks ebenso wenig existieren wie klare Sympathieverteilungen. Während Saldaña die glänzend komponierte Ballade mit Sprechgesangselementen in die Kamera schmettert, füllen sich die Straßen hinter ihr mit tanzenden Statist:innen. Ein Mann wird in der Öffentlichkeit niedergestochen, Souvenirstände werden verschoben. Emilia Pérez‘ ansteckende Energie ist von Sekunde eins an spürbar. Kaum ein Film dieses Kinojahres vermochte es, so prägnant seine gesamte Stimmung und Stilrichtung auf wenige Minuten zu komprimieren und ein derartiges Tempo vorzugeben. Vergleicht man diesen furiosen Einstieg mit einer beliebigen laschen Gesangsnummer aus Todd Phillips’ Musical-Rohrkrepierer Joker: Folie à Deux, so könnte der Unterschied nicht deutlicher sein. Wo Phillips’ Einfallsreichtum mit zwei sich gegenüberstehenden und ansingenden Figuren beginnt und endet, wirbelt Jacques Audiard seine Kamera, Sets und Darsteller:innen wild, aber kontrolliert durchs Bild.
Musical oder Best-of-Album?
Dabei ist “El Alegato” keine Ausnahme, sondern die Festsetzung einer konstanten Regel. Stets mit einem Augenzwinkern, aber auch ernstzunehmendem Inszenierungstalent spult der Regisseur eine erstaunliche Nummer nach der nächsten ab. Besonders auffällig sind hier die vielfältigen Konzepte, die den Liedern innewohnen. Sei es der trashige Kitschpop von “La Vaginoplastia”, bebildert wie ein Werbespot mit auf rotierenden Krankenbetten drapierten lächelnden Models, oder die exakt auf Saldañas abgehackte Bewegungen getimte Kamera während “El Mal” – jeder Song hat seine eigene visuelle und musikalische Sprache. Auch wenn einige Passagen von Zeit zu Zeit noch stark Musikvideo-artig scheinen und die eine oder andere Totale sicherlich nicht geschadet hätte, ist Audiards Stilsicherheit imposant.
Eine verpasste Gelegenheit stellt dagegen das übergreifende musikalische Konzept von Emilia Pérez dar. Auch wenn die Lieder für sich gesehen interessant und cineastisch komponiert sind, existiert im Grunde kein roter Faden über die gesamte Laufzeit hinweg. Mit dem Ende eines Tracks ist dieser stets vorbei. Leitmotive oder wiederkehrende Elemente bleiben fast vollständig aus. Eine ähnliche auditive Vielfalt gelang schon Leonard Bernstein und Stephen Sondheim 1957 mit dem Musical West Side Story, jedoch versetzt mit kontinuierlich auftauchenden Puzzleteilen sowohl in der Komposition als auch in den Songtexten. Der Soundtrack zu Emilia Pérez dagegen ist leider mehr Album als Geschichte. So umwerfend die Bilder auch aussehen mögen, in der dazugehörigen Tonspur wurde Potenzial nicht ausgeschöpft.
Ein ausgezeichnetes Ensemble?
Lange bevor der Film einem breiteren Publikum präsentiert wurde, wurde ihm bei den Filmfestspielen von Cannes bereits eine besondere Ehre zuteil. Erstmals seit 2006 ging der Preis für die beste Schauspielerin dort nicht an eine einzige Darstellerin, sondern an ein ganzes Ensemble. Neben Karla Sofía Gascón in der Titelrolle und Saldaña erhielten auch Selena Gomez und Adriana Paz die begehrte Trophäe. Der Grund ist nicht schwer zu erkennen: Emilia Pérez zelebriert seinen weiblichen Cast und gibt jeder Schauspielerin Raum zum Glänzen. Der prominenteste männliche Darsteller hier ist wohl Edgar Ramírez mit vermutlich nicht einmal zehn Minuten Leinwandzeit; dieser Film gehört den Frauen.
Besonders Gascón bleibt im Gedächtnis. Nicht nur eröffnet ihr Casting eine interessante Metaebene (sie verkörpert die Titelfigur sowohl nach ihrer Geschlechtsangleichung als auch – eingekleistert unter täuschend realistischen Make up-Prothesen – davor), die ehemalige Soap-Schauspielerin erkämpft sich in nur wenigen Szenen auch die Kontrolle über den gesamten Streifen und gibt sie nur selten wieder her. Verdient wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach die erste trans Frau werden, die eine Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin erhält. Zwischen den beiden brillanten Hauptstars und auch Adriana Paz erscheint lediglich Selena Gomez blass und überfordert. Ihre Mimik überzeugt nicht vollends, ihre Gravitas reicht nicht an ihre Mitspielerinnen heran. Zudem ist ihre belanglos zusammengeduldete Powerballade “Mi Camino” der wohl schwächste Song im ganzen Film und wirkt fast wie nachträglich eingefügt.
Unser Fazit zu Emilia Pérez
Ob Jacques Audiards Neuling sich seine Kontroversen redlich verdient hat, soll hier nicht besprochen werden. Dass Emilia Pérez polarisiert, liegt aber sicherlich nicht nur an seinen Themen und Inhalten, sondern an seiner geradezu lauthals expressiven Form. Aus dem Film sprudeln visuelle und klangliche Kniffe hervor. Audiard bedient sich hier an sämtlichen Tricks in seinem Repertoire und legt eine beeindruckende, wenn auch nicht perfekte Komposition vor. In leicht überlangen 132 Minuten tritt er nur selten auf die Bremse und demonstriert eine weitere Facette. Vermutlich ist er einer der zeitgenössischen Regisseur:innen mit der breitesten Palette; in seiner Filmografie reiht sich Gefängnisthriller an Western und einfühlsame Liebesromanze. Nun kommt ein kompetentes, aber leider nicht vollständig ausgereiftes Musical hinzu. Trotz einiger Schwächen in seiner Schrittfolge ist und bleibt Emilia Pérez aber einer der faszinierendsten Filme des Jahres und eine perfekte Showbühne für einen gut aufgelegten Cast.
Emilia Pérez erscheint am 28. November 2024 in den deutschen Kinos!
Unsere Wertung:
© Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany