Der Leidensweg eines Esels aus der Perspektive eines Esels. Altmeister Jerzy Skolimowski nimmt sich in seinem Spätwerk EO alle Freiheit, bricht Konventionen und liefert ein bildgewaltiges Experimentalwerk, das die Tragödie eines Tieres in einer von Menschen dominierten Welt einfühlsam porträtiert. Ob das gelungen ist, erfahrt ihr hier!
Titel | EO |
Jahr | 2022 |
Land | Italy |
Regie | Jerzy Skolimowski |
Genres | Drama, Abenteuer |
Darsteller | Sandra Drzymalska, Isabelle Huppert, Lorenzo Zurzolo, Mateusz Kościukiewicz, Tomasz Organek, Lolita Chammah, Agata Sasinowska, Anna Rokita, Michał Przybysławski, Gloria Iradukunda, Piotr Szaja, Aleksander Janiszewski, Delfina Wilkońska, Andrzej Szeremeta, Wojciech Andrzejuk, Mateusz Murański, Marcin Drabicki, Maciej Stępniak, Fernando Junior Gomes da Silva, Krzysztof Karczmarz, Waldemar Barwiński, Saverio Fabbri, Katarzyna Russ, Kateřina Holánová |
Länge | 86 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: MUBI, MUBI Amazon Channel Kaufen: Apple TV, Amazon Video, Google Play Movies, YouTube, Rakuten TV, maxdome Store, MagentaTV, Videoload Leihen: Apple TV, Amazon Video, Google Play Movies, YouTube, Rakuten TV, maxdome Store, MagentaTV, Kino on Demand, Videoload, Freenet meinVOD |
Die Handlung von EO
Kasandra und EO teilen eine besondere Beziehung, bis sie durch eine tragische Ironie voneinander getrennt werden: Nach ihrem letzten gemeinsamen Auftritt muss sie mit ansehen, wie Tierschützer gegen die Versklavung der Tiere protestieren und helfen, nicht nur den örtlichen Zirkus schließen zu lassen, sondern auch ihren heißgeliebten Esel mitnehmen. So beginnt EOs philosophische und ästhetische Odyssee aus Trauer und Freude, vom Packtier zum Maskottchen, von behütet bis getreten.
Zum Beispiel EO
Indes beschreibt der Film EOs Schicksal weniger in einer kohärenten Narrative, als in Momenten, kaum zusammenhängenden dokumentarähnlichen Episoden, einer buchstäblich bunten Collage aus Eindrücken. Diese sind verbunden durch eine ökologische Botschaft, die auf problematischen Strukturen der Tierhaltung aufmerksam machen soll. Befreit von jeglicher Verpflichtung, sich der Handlung unterzuordnen, lässt man sich mit dem umherstreifenden EO ins nächste Abenteuer fallen. Klar ist, wann immer ein Nebencharakter/Mensch seinen Weg kreuzt, darf man mindestens Dramatisches erwarten.
Das führt dazu, dass man fast allgegenwärtig in Sorge um diesen unschuldigen Esel ist. Obgleich ihm schlimmes widerfährt, bleibt EO jedoch die meiste Zeit ein Beobachter. Im Gegensatz zu Zum Beispiel Balthasar, mutet EO einem Roadmovie an. In gewisser Weise geht es sowohl um die Orte und Menschen, denen er begegnet, als ebenfalls um den Esel selbst. Der Film bietet einen Eindruck eines zeitgenössischen Europas, welches kontinuierlich und auf jeder Ebene die Spaltung der Gesellschaft widerspiegelt. Bereits im Stall herrscht eine Klassengesellschaft: das prunkhafte Dressurpferd wird gewaschen, EO, einer Maschine gleichend, kurzerhand für den nächsten Morgen und die wartende Arbeit abgestellt.
Neuinterpretation
Dabei ist EO kein Remake des Klassikers von 1966, der anhand des Esels Balthasar die Erfahrung eines Tieres mit den menschlichen Abgründen schildert, sondern eine zeitgenössische Überarbeitung. Wurde über Balthasars Kopf hinweg entschieden, nimmt EO nun vollends die Perspektive des titelgebenden Esels ein, der eher Protagonist in einem Film statt einfachem, geschundenem Nutztier wie Balthasar zu sein scheint.
Das polierte Schwarz-Weiß von Zum Beispiel Balthasar wurde gegen ein knalliges Farbenspiel in EO eingetauscht und in die heutige Zeit verfrachtet. Eine Zeit, in der die Misshandlung von Tieren eine zusehends bedeutendere Rolle eingenommen hat. Das weist einerseits darauf hin, wie weit Robert Bresson seiner Zeit voraus war, hingegen auch, wie aktuell Skolimowskis Film ist.
Vom passivem zum aktivem Blickwinkel
Trotz ähnlicher Prämisse plus allerlei Gemeinsamkeiten ist es primär die Inszenierung, die EO und Zum Beispiel Balthasar unterscheidet: Bresson ließ nüchtern observieren, während bei EO, eben weil wir aus seiner Sicht das Geschehene miterleben, mehr intrinsische Emotionen hervorkochen, begleitet von der vitalisierenden Kraft der Farben. Die sachliche Herangehensweise von Bresson verleitet pures Mitleid mit dem Tier zu haben. Mit der ungewöhnlichen Weise, diese tierische Perspektive zu evozieren, will Skolimowski hingegen unserem Hauptcharakter am liebsten zur Seite stehen — Man sieht nicht irgendein Tier leiden, vielmehr einem individuellen Charakter, vor allem erkennbar gemacht durch den hervorragenden Schnitt.
Kuleschow-Effekt
Natürlich kann der echte Esel nicht wirklich schauspielern. Der Film überlässt es trotzdem nicht dem Zufall, welche Emotionen wir aus den großen Kulleraugen deuten, nutzt EO doch ganz gezielt den Kuleschow-Effekt um anhand von nachfolgenden Aufnahmen Gefühle zu vermitteln anstatt auf die limitierten Fähigkeiten des Esels zu setzen und nur darzustellen, was er alleine ausdrücken könnte.
Diese Technik ist ein Paradebeispiel für die Wirkung vom Schnitt auf die Wahrnehmung und Interpretation von Bildern. Der Effekt basiert auf der Idee, dass das Publikum unterschiedliche emotionale Reaktionen wahrnimmt, je nachdem, wie ein bestimmtes Bildmaterial in Beziehung zu anderen Bildern geschnitten wird. Ein neutraler Gesichtsausdruck kann durch den Kontext der umgebenden Bilder so schnell eine andere Bedeutung erlangen. Es ist erstaunlich wie viel aus EO herausgeholt wird, schließlich wirkt er sehnsüchtig wenn er stolz umhertrabende Pferde beobachtet, leidenschaftlich in der gemeinsamen Zeit mit Kasandra, neugierig bei ihm unbekannten Geräuschen/Erfahrungen.
Der Kuleschow-Effekt wird unzählige Male verwendet, beispielsweise folgt auf eine Aufnahme des Esel-Auges, eine von misshandelten Tieren. Tiefer Kummer bildet sich augenblicklich beim erneuten Umschwenken auf die Augen des schmächtigen Vierbeiners ab. Durch den Schnitt wird er gekonnt vermenschlicht. Eine subtle Charakter-Studie eines stummen Protagonisten, in der es obendrein ein wenig um die Frage des Esel-Seins geht.
Kein Melodram
EO beleuchtet das Leben eines Außenseiters, der mit der Ignoranz unserer Gesellschaft kämpft. Der Esel wird als kraftvolles Symbol für die Menschheit dargestellt, der die Härten und Güte der Welt beobachtet. Durch ihn erinnert uns der Film an die gemeinsamen Herausforderungen, vermeidet allerdings geschickt Sentimentalität um stattdessen die Charaktererfahrungen roh und ungeschönt darzustellen.
Zwischen Close-up und surrealen Establishing Shots
Dafür wird meisterhaft auf Nahaufnahmen und Halbtotalen gesetzt, oftmals mit EO im Halbschatten andernfalls als Silhouette. Der Film geht häufig sehr nah an ihn heran. Manchmal switcht die Kamera auch gänzlich in die E(g)O-Perspektive, ermöglicht es dem Publikum so enge Verbundenheit aufzubauen. Aus der Hand gefilmt wackelt die Kamera wie der Esel selbst durch die Welt, mit klarem Fokus in der Mitte und verschwommen Ecken am Rand des Bildes. Grelles rotes Licht und atemberaubende Drohnenaufnahmen bieten indessen rasant einen starken Kontrast zu EOs stoischer Miene.
Grundsätzlich realitätsnah, webt der Film bisweilen surreale Elemente ein. Bilder, die anfänglich willkürlich wirken, gleichwohl beständig einer erzählerischen Komponente dienen. Wenn der Hauptcharakter schon nicht sprechen kann (Dialog allgemein Mangelware darstellt) liegt es gerade an der Cinematography und dem Sounddesign z.B. Intensität auszudrücken auf einer dystopischen Müllhalde, Verzweiflung vor einer unüberwindbaren Felswand, sogar Verzückung auf einer Brücke vor einem riesigen Wasserfall.
Verträumte Techno-Oper
Die hypnotische Musik ist in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der musikalischen Begleitung in einem Stummfilm. Sie trägt maßgeblich dazu bei, die Atmosphäre, die Empfindungen des Charakters und der Handlung zu vermitteln. Klassische Musik bei wunderschönen Landschaften, Techno bei psychedelischer Lichtsetzung, Rock in düsteren, Operetten in hoffnungsvollen Momenten oder wummernde, konfuse Sounds bei Unbehagen — Die Musikalität des Werkes zeigt noch einmal die Andersartigkeit zu Bressons Werk, der sich vermehrt an der Stille weidete.
Unser Fazit zu EO
Skolimowskis impressionistischer Film mag erzählerisch unzusammenhängend erscheinen, bleibt aber während jeder Episode stilistisch umso origineller. Mithilfe beeindruckender Kamerabilder plus eindrucksvollen Soundkulissen berührt die Reise EOs das Publikum, nebst der melancholischen Geschichte über einen Esel, ebenfalls als eine universelle Parabel über Themen wie Unschuld, Leid, zwischenmenschliches Verhalten, dem Dasein und dient als eindringliches Plädoyer gegen Tiermisshandlung.
EO ist seit 21.07. in einer schicken Blu-ray-Edition verfügbar!
Unsere Wertung:
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