Bislang konnten russische Horrofilme, von Ausnahmen abgesehen, nur in eingefleischten Fankreisen überzeugen. Mit Evil Boy könnte das anders sein. Denn Olga Gorodetskayas Erstlingswerk steckt voll künstlerischer Gestaltungskraft, ist visuell beeindruckend und ambitioniert. Ob das für einen guten Horrofilm ausreicht, erfahrt Ihr in unserer Rezension.
Titel | Evil Boy |
Jahr | 2019 |
Land | Russia |
Regie | Olga Gorodetskaya |
Genres | Drama, Horror, Thriller |
Darsteller | Елена Лядова, Владимир Вдовиченков, Севастьян Бугаев, Yan Runov, Евгений Цыганов, Анна Уколова, Константин Тополага, Роза Хайруллина, Евгений Антропов, Константин Мурзенко, Svetlana Tokarskaya, Alexandra Mikhaleva, Маргарита Бычкова, Claudia Boczar, Дарья Белоусова, Сергей Белов, Yury Pavlov, Михаил Сафронов, Ekaterina Gontarenko, Ivan Chumakov |
Länge | 90 Minuten |
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Darum geht es in Evil Boy
Drei Jahre ist es her, dass Vanya, der Sohn von Polina (Elena Lyadova) und Igor (Vladimir Vdovichenkov), verschwand. Igor weiß, dass er tot ist, verleugnet es aber – sich selbst und vor allem seiner Frau gegenüber. Um den Verlust zu überwinden, wollen sie ein Kind adoptieren. Im Keller des Waisenhauses stoßen sie neben der Leiche des Hausmeisters auf einen verwilderten Jungen, den der Verstorbene, der sich selbst getötet hat, offenbar versteckt hielt. Sie nehmen das Kind bei sich auf – gegen den Willen der Nonne, die das Waisenhaus leitet.
Ganz langsam lernt der Junge, sich an die neue Umgebung anzupassen und bruchstückhaft zu sprechen. Auf unheimliche Weise scheint er immer stärker die Züge des verstorbenen Vanya anzunehmen. Wird er zu einer Gefahr?
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Kein Horror im real existierenden Sozialismus?
Dass das russische Kino mehr kann als nur Arthouse, weiß man auch bei uns spätestens seit Timur Bekmambetows Wächter-Zweiteiler. Gerade im Bereich des fantastischen Films brauchen die Russen dank Science-fiction-Highlights wie Attraction den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Im Horror-Genre fällt die Erfolgskurve dagegen eher flach aus. Streifen wie Baba Yaga oder Quiet Comes the Dawn finden nur kleine Fangemeinden. Was vielleicht auch an der fehlenden Tradition liegen mag, denn im real existierenden Sozialismus durften seinerzeit keine Horrorfilme existieren.
Dennoch lockt das Genre immer mehr junge russische Filmemacher an, ist es doch für Erstlingswerke wie geschaffen. Darunter finden sich auch kleine Perlen wie die Horrorkomödie Why Don’t You Just Die. Als solch eine kleine Perle kommt nun auch Evil Boy, das Erstlingswerk der Regisseurin Olga Gorodetskaya daher. Auch wenn der Film eingefleischten Horrorfans wegen fehlender Splatterelemente und Jump-Scares eher am verlängerten Rückgrat vorbeigehen dürfte.
Auch der Evil Boy will nur geliebt werden
Als Film über einen bösen Jungen steht Evil Boy natürlich in einer Tradition berühmter Klassiker wie Das Omen oder Der Exorzist, die in der Tat auch immer mal liebevoll zitiert werden. Selbst Truffauts Der Wolfsjunge findet in der Darstellung des Wildlings seine Entsprechung. Der Versuch eines Vergleichs aber wäre dem Erstlingswerk gegenüber nicht nur unfair, er würde auch dem Kern von Evil Boy nicht gerecht. Der Film ist weniger schockierende Horrormär als ein feinfühliges Drama über Fragen des Verlusts und der Trauerverarbeitung. Und letztlich will auch der böse Junge, das Monster, nichts anderes, als geliebt zu werden. Womit ein weiteres klassisches Motiv auftaucht: Der Frankenstein-Mythos vom unverstandenen Monster.
Dabei sind es vor allem die filmischen Gestaltungsmittel, die einen in den Bann ziehen – sofern man sich darauf einlassen mag. Das wird bereits in der wohl durchdachten Eingangssequenz deutlich. In einer Art achronischer Parallelmontage wechseln sich Erinnerungsbilder an den kleinen Vanya, in denen Polina mit dem Kleinkind scherzt „Ja, wer ist denn der Süße?“, mit dem Besuch Igors in der Leichenhalle ab, wo er seinen toten Sohn identifizieren soll. Was er verweigert. „Er ist nicht mein Sohn“, sagt er zu dem Gerichtsmediziner. Nur etwas später wird er einem Polizisten, der ihn auffordert, nicht mehr zu lügen, da er ihn es doch nicht könne, entgegnen: „Oh doch.“ Spätestens dann wissen wir, dass er auch damals gelogen hat.
Tote werden wieder lebendig
Die Eingangssequenz springt in die Filmgegenwart mit einem seltsam anmutenden, verwirrenden Schwenk: Die Kamera vollführt eine vertikal rollende Bewegung. Das Bild schwenkt vom Himmel an den kopfüber zu stehen scheinenden Bäumen vorbei zum Vogelblick auf einen Brunnen, über den sich Kinder lehnen. Die raunen: „Tote werden wieder lebendig.“ Willkommen im Horrorland. Das entpuppt sich als Waisenhaus. Ein altes Gemäuer mitten im Wald, wie ein verwunschenes Schloss.
Neben ungewöhnlichen und häufig wechselnden Kamerapositionen wie extremer Untersicht und Vogelperspektive – gelegentlich dreht sich die Kamera auch auf den Kopf oder erzeugt einen Vertigo-Effekt – nimmt die Architektur in Evil Boy eine besondere Rolle ein. Das altertümliche Waisenhaus kontrastiert mit beinahe futuristisch-kalten Betonbauten mit gläsernen Fassaden in dem städtischen Umfeld Igors und Polinas. Eine Architektur, die die Gestalten an den Rand drückt, die so auch ihren Spiegelbildern Raum gibt.
Spieglein, Spieglein und noch ein Spieglein
Spiegel und Spiegelungen sind das zentrale Element von Evil Boy. Sie sind der Kern der Geschichte. Die Nonne, die das Waisenhaus leitet und natürlich sehr viel mehr über den Wildling weiß, als sie zunächst zugeben mag, erklärt dessen mysteriöses Wesen später: „Es ist nur ein Spiegelbild ihrer Erinnerung an den Verlust.“ Die Bilder, die uns Gorodetskaya daher in Evil Boy zeigt, sind voller Spiegel, auch mehrfacher Spiegelungen. Wobei auch deren dunkler Bruder, der Schatten, nicht zu kurz kommt. So gibt es eine besonders gelungene Überblendung von den Schattenspielen an der Wand des Schlafzimmers auf die sich bewegenden Schatten an der nächtlichen Gebäudewand des Waisenhauses, wenn Igor mit dem Wildling dorthin zurückkehrt.
Vielleicht ist diese artifizielle Ebene mitunter etwas überstrapaziert. So, wenn die Wohnung eines Nachbarn auf schon skurrile Weise von Uhren beinahe überquellt – und eine Uhr in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sein wird. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Eine lässliche Sünde.
Lächerliche CGI-Effekte trüben den Spaß
Unangenehmer stoßen die mäßigen, mitunter lächerlichen Spezialeffekte auf. Wenn der Wildling sich an einer Stelle in ein echtes Monster zu verwandeln scheint, erinnert die komplett misslungene CGI-Gestalt eher an einen alten Monty-Python-Cartoon. Das wäre nicht nötig gewesen.
Doch davon abgesehen ist die allmähliche Verwandlung des Kindes in einen Vanya-Ersatz gelungen inszeniert. Sie deutet sich früh an mit ersten irritierenden Ähnlichkeiten im Rückspiegel des Autos, nimmt ganz allmählich immer mysteriösere Formen an. Anfangs scheint dies noch im Wunschdenken Polinas verhaftet, wenn sie beim Füttern des Jungen betont, dass das Essen „ohne Zwiebeln“ sei. Ganz so, wie sie es für ihren Sohn getan hat. Doch wenn sich am Kopf des Evil Boy plötzlich dieselbe Verletzung zeigt, die er gerade auf einem Foto Vanyas gesehen hat, wird klar, dass hier seltsamere Dinge im Spiel sind.
Nicht vergessen sollte man die guten schauspielerischen Leistungen. Insbesondere Vladimir Vdovichenkov und Elena Lyadova können die Achterbahnfahrt von Igors und Polinas Gefühlen überzeugend und nachfühlbar vermitteln. Beide hatten bereits 2014 in dem vielfach preisgekrönten Leviathan von Andrei Swjaginzew zusammengespielt und gezeigt, was in ihnen steckt. Die unaufdringliche Musik trägt ebenfalls zur Spannung in Evil Boy bei. Insbesondere die allmählich anschwellende Lautstärke in unheimlichen Szenen verstärkt gelungen die Atmosphäre.
Mein Fazit zu Evil Boy
Man ist von Tiberius Film eigentlich eher trashigere Filmkost gewöhnt. Obwohl sich der Verleih gerade in jüngster Zeit vielleicht nicht gerade mit filmischen Highlights, aber doch mit durchaus sehenswerteren Produkten wie The Cleansing – Die Säuberung auf den Markt gewagt hat. Evil Boy sticht da eindeutig mehr als positiv heraus. Die schlechte Online-Bewertung etwa auf IMDb.com ist kaum nachvollziehbar. Evil Boy ist eine kleine Horror-Perle mit künstlerischem Anspruch, also eher nichts für den Splatter-Nerd. Ansonsten absolut sehenswert. Auch wegen des überraschenden Twists am Ende.
Evil Boy ist ab dem 6. 8. 2020 auf DVD und Blu-ray erhältlich und seit dem 16. 7. digital verfügbar.
Unsere Wertung:
© Tiberius Film