Stylish, atmosphärisch, zeitlos – Meisterregisseur Wong Kar-Wai zementiert mit Fallen Angels endgültig seine typischen optischen wie erzählerischen Markenzeichen. Abstrakter, unkonventioneller Stil trifft auf das klamme nächtliche Hongkong und erzählt, immer wieder unterbrochen von impulsiver Action, eine so menschliche Geschichte vom Alleinsein.
Titel | Fallen Angels |
Jahr | 1995 |
Land | Hong Kong |
Regie | Wong Kar-wai |
Genres | Action, Liebesfilm, Krimi |
Darsteller | Leon Lai Ming, Charlie Yeung, 金城武, Karen Mok Man-Wai, Michelle Reis, Chan Man-Lei, Toru Saito, 江道海, 陳輝虹, Kwan Lee-na, Wu Yuk-Ho, Johnnie Kong, 王均康, Mak Shu-San, Choi Kwok-Ping, 陳少華, Chow Gam-Kong, Leung Shing-Hung, 黃劍偉, Wong Kim-Bun, Choi Kwok-Keung, Lee Tat-Chiu, Cheung Chi-Ping |
Länge | 90 Minuten |
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Die Handlung von Fallen Angels
In zwei Geschichten, welche im Laufe des Films kontinuierlich, jedoch flüchtig, die Wege kreuzen sollen, werden Wong Chi-Ming sowie dessen Assistentin in der einen und He Zhiwu in der anderen beleuchtet. Letzterer ist stumm und erst kürzlich aus dem Gefängnis geflohen. Seine Arbeit besteht darin, in Läden einzubrechen, nebst deren Waren und Dienstleistungen nachts Passanten aufzuzwingen. Während einer seiner Eskapaden trifft er auf Charlie, die auf der Suche nach „Blondie“ ist, welche ihr den Freund ausgespannt hat. Er versucht ihr zu helfen, dabei verliebt er sich in die hyperaktive Frau.
Der wortkarge Wong hingegen ist professioneller Auftragsmörder, der seiner Berufung zwar eine Menge abgewinnen kann, indes immer deutlicher den Entschluss fasst, auszusteigen. Seine kriminelle Geschäftspartnerin stellt seinen einzigen Kontakt zur Außenwelt dar, obschon beide sich in ihrer dreijährigen Zusammenarbeit nie persönlich gesehen haben. Sie entwickelt eine regelrechte Obsession für ihn, er begegnet derweil einer früheren Liebe und beschließt, sich endgültig von seiner „Partnerin“ zu trennen. Sie wird alles unternehmen, um ihn umzustimmen… Kann es Erlösung für die gefallenen Engel geben?
Quasi-Fortsetzung mit großem Unterschied
Ursprünglich als Weiterführung beziehungsweise dritte Episode zu seinem Vorgänger Chungking Express konzipiert, entschied sich Wong Kar-Wai, Fallen Angels zu einem eigenen Spielfilm weiterzuentwickeln. Dabei erzählen beide eigenständig abgeschlossene Geschichten, sind aber auf mehreren Ebenen miteinander verbunden.
Fallen Angels greift viel aus dem vorangegangenen Lebenswerk vom Regisseur auf: Themen, Orte, cinematische samt strukturelle Methoden aus z.B. Chungking Express. Die Suche nach Liebe, resultierende Vereinsamung, Abkapselung, mitten in der Metropole Hongkong, visuell stimulierend erzählt in einer nonlinearen Geschichte, durchflutet von Melancholie. Eine Mischung aus Pulp Fictions Konstruktion, John Woo-Ästhetik in Actionszenen und dem neon-beschienenen Stil eines Blade Runners. Denn hier liegt ein gravierender Unterschied zu Kar-Wais Vorgängerfilm: Fallen Angels ist spürbar ernster inszeniert, ein Neo Noir-Thriller, der konstant bei Nacht spielt. Kar-Wai persönlich betrachtet die beiden Filme als ergänzende Gegenstücke zur Erforschung von Hongkongs Seele.
Hongkong als Protagonist
Die Aufnahmen des nächtlichen Stadtlebens gehen weit über Establishing Shots hinaus: die Stadt wird zum zentralen Charakter, ähnlich wie bei Abbas Kiarostamis Like Someone in Love oder Ryūsuke Hamaguchis Happy Hour. In diesem Falle fungiert Hongkong als Metapher für das politische Klima, die kulturelle Entfremdung geladen mit Unsicherheit sowie Vorahnungen. Fallen Angels stellt die Gefühlslage kurz vor Ende der britischen- und den Übergang zur chinesischen Herrschaft mit dieser Zeitkapsel dar, Hongkong, welches Kar-Wai als Hauptfigur des Films titulierte.
Je geschäftiger, je größer die Stadt, desto mehr Menschen isolieren sich im täglichen städtischen Dickicht. Fallen Angels greift zufällige Momente einiger jener Menschen auf, schafft Verknüpfungen zwischen ihnen, auch wenn jeder Charakter nur einen kurzen Halt auf der Reise eines anderen abbildet. Dabei geht es Kar-War nicht nur darum, uns Ereignisse zu zeigen, sondern uns die Erfahrungen möglichst authentisch zu vermitteln. Wir kommen den Figuren, ihren Gefühlslagen unfassbar nahe, vor allem durch die unzähligen Close-ups, als wenn wir bei ihnen wären, beobachten dagegen passiv, fast selbst wie Engel das Geschehen. Wir sind die Engel aus Wim Wenders Der Himmel über Berlin – eine höhere Beobachtungsgabe und doch unfähig einzugreifen. Dadurch schafft Kar-Wai nicht nur sehr simple Empathie für die Figuren, überdies erleben wir dieselben Situationen gefühlt am eigenen Leib.
Zeit, Liebe, Träume in Fallen Angels
Der Film allgemein wiederum vermittelt mit seinem Stil ein distanziertes, wortwörtlich verfremdetes Bild, ein Gefühl, das auch unsere Charaktere mit sich tragen. Der Faktor Zeit wird stetig auf die ein oder andere Art angesprochen. Die Zukunft ist im Wandel, alles trägt ein Verfallsdatum. Einige Szenen gehen damit brutal ehrlich um, andere muten etwas traumhaft/surreal an, optisch wie erzählerisch. Es sind verschwommene Momentaufnahmen, die sich doch bewegen – verletzte Geschöpfe, die sich Verbindungen/Beziehungen herbeisehnen.
Indessen wird die Liebe eher mit einem Wohnungseinbruch oder dem Verprügeln einer Sexpuppe zum Ausdruck gebracht als durch gesunde menschliche Annäherung. Fallen Angels ist absolut romantisch, trotzdem nicht romantisierend – weder Lebensweise noch Liebe – desto wichtiger wirken die Träume, welche die Charaktere vorantreiben. Dazu passt die träumerische Art der Off-Kommentare, denn die Hauptfiguren verlassen sich weniger bis gar nicht auf gesprochene Dialoge und lassen ihren Gedanken mithilfe von Voice-Overn freien Lauf.
Einzigartige Charaktere
Wong Chi-Ming ist ein eiskalter Killer, der zugleich nachdenklich ist und über Verletzungen, Liebe, über das Leben sinniert. Er ist eine herrlich dualistische Figur zwischen Poesie und Apathie. Beispielsweise kommentiert er nach einer Verletzung emotionslos: „Ich hasse es, Kugeln aus meinem eigenen Körper herauszuschneiden. Ich finde es sehr anstrengend.” Seine „Partnerin“ hingegen bleibt rätselhaft und unzugänglich. In ihrer Anziehung zu ihm fühlt sie sich ihm näher, wenn sie seinen Müll durchwühlt oder auf seinem Bett masturbiert. Er will raus aus dem „Geschäft“, derweil droht sie an der gescheiterten Liebe zu zerbrechen.
Gleichermaßen sehnt sich Ho nach Wärme. Takeshi Kaneshiro spielt eine äußerst seltsamen, nichtsdestominder komplexen plus faszinierenden Charakter – still, jedoch alles andere als introvertiert. Die Szenen zwischen ihm und seinem Vater sind die sentimentalsten Momente des Films. Jeder dieser Charaktere ist eine Achterbahnfahrt, die plötzlich unerwartete Kurse einschlägt. Der Titel Fallen Angels vermittelt dennoch zu jeder Zeit, in welcher Situation sie sich befinden. Selbst wenn wir es hier mit Mördern/Dieben zu tun haben, können sie doch sensibel sein. Die brutale und dunkle Welt um sie herum steht im Kontrast mit ihren romantischen Vorstellungen. Wortwörtlich z.B. in einer Szene, in der die Partnerin im Vordergrund nachdenklich isst, während hinter ihr ein blutiger Kampf ausbricht.
Nah und doch so fern
Mal hält die Kamera minutenlang Aufnahmen ohne Schnitt statisch fest, dann werden flüchtige, schnelle Bruchstücke an Bildern mit experimentellen Techniken zu einem kunstvollen Mosaik zusammengesetzt. Aufregende Hochgeschwindigkeitsfahrten sind so brillant in Szene gesetzt, dass sie die stationären Shots fast überschatten. Jump-Cuts fangen die Hektik Hongkongs ein. Die extremen Weitwinkelaufnahmen erzeugen einen Effekt von Distanz und verzerren die Figuren, sodass sie weit voneinander entfernt, separiert erscheinen. Außerdem versucht die Kamera immer wieder das ambivalente Verhalten der Charaktere im wahrsten Sinne des Wortes widerzuspiegeln – wir sind nah dran, überdies doch so fern. Die Hand-Held Kamera folgt ihnen buchstäblich zu Momenten der Unschärfe, Spiegelungen, Shots durch Fensterscheiben hindurch, wodurch die Charaktere ein bisschen verwischt oder verzerrt aussehen, um möglichst viel Distanz zwischen uns und diesen Figuren zu bringen. Sie sind halt wie Engel von einer anderen Welt… nur gefallen.
Reflexionen, Dutch-Angles, Stop-Motion-Aufnahmen, Zeitraffer, Überbelichtungen, niedrige Bildrate – all das funktioniert, ohne wie Spielereien zu wirken und verleiht dem Film einen großartigen Stil. In besonders melancholischen Momenten arbeitet Fallen Angels sogar mit Schwarz-Weiß, indem er ganz oder nur teilweise die Farbe aus der vorangegangenen Szene herausnimmt, ferner die Farbauswahl für sich sprechen lässt. Apropos Farben: ein markanter grüner Filter und häufiger Einsatz von starkem Gelb oder Rot lässt den Film wie eine lebendige, expressionistische Geschichte wirken.
Experimenteller Stil mit Substanz
Kar-Wai bricht mit Konventionen sowie unseren Erwartungen – eine Kamera, die zum eigenen Erzähler wird, die zu lange verweilt, die Farbe oder Auflösung ändert oder das Tempo plötzlich anzieht. Eine Kamera, die nicht da ist, wo sie sein sollte, allerdings eben deswegen erfrischende und außergewöhnliche Bilder kreiert. Das ist stylisch, cool und dennoch ruht sich der Regisseur nie nur auf der hyperstilisierten Kinematographie aus und bereichert die visuelle Vorstellungskraft auf der einen Seite, erzählt nichtsdestotrotz ergreifende Geschichten auf der anderen. Kein Style-over-Substance, obwohl es so einfach gewesen wäre!
Kar-Wai-typisch werden ausgiebig Pop-Songs verwendet. Liebliche wechseln sich mit brachialen Klängen in der Soundkulisse ab, verstärken den surrealen Eindruck und beschreiben die Charaktere näher. Beispielsweise kommuniziert Wong mit seiner Partnerin über eine Liebesballade. Ihr Schmerz an der Jukebox, während „Forget Him“ läuft, zeigt sehr gut, dass die Musik mehr als nur Beiwerk ist. Jeder Song erforscht die Konflikte innerhalb der Szene näher.
Unser Fazit zu Fallen Angels
Das Auffälligste an Fallen Angels bleibt der visuelle Stil, der in der fragmentierten Erzählweise, die Atmosphäre über eine klar definierte Struktur und Narrative setzt. Nichtsdestotrotz sind es ebenso die Geschichten um die gefallenen Engel – welche in Erinnerungen schwelgen und Illusionen stecken – die den Film zu so einer nahegehenden Erfahrungen werden lässt. Fallen Angels‘ absorbierende Wirkung hinterlässt eine Stimmung, die man tagelang nicht abschütteln kann – klaustrophobisch, chaotisch, melancholisch. Im Kern bleibt aber eine bewegende Studie über die Liebe, die Leere und den Verlust.
Fallen Angels erscheint am 15.09.22 in einer Special Edition mit 4K-UHD, Blu-ray und DVD!
Unsere Wertung:
© Plaion Pictures