In Finsterworld entwirft Frauke Finsterwalder eine groteske Projektion einer deutschen Gesellschaft auf der Suche nach individueller und kultureller Identität.
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Titel | Finsterworld |
Jahr | 2013 |
Land | Germany |
Regie | Frauke Finsterwalder |
Genres | Drama |
Darsteller | Christoph Bach, Margit Carstensen, Jakub Gierszał, Corinna Harfouch, Sandra Hüller, Carla Juri, Johannes Krisch, Michael Maertens, Dieter Meier, Max Pellny, Leonard Scheicher, Bernhard Schütz, Ronald Zehrfeld |
Länge | 95 Minuten |
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Leichtes Spoilerpotenzial
Deutschland in Finsterworld
Finsterworld ist nicht der Versuch, ein Abbild der realen deutschen Gesellschaft zu erstellen, sondern beschreibt parabelartig in leicht episodischem Stil die Identitätskrisen der verschiedenen Figuren, deren Geschichten ineinander verwoben sind. So sind sie alle Teil einer Gesellschaft, die um gemeinsame Werte, Vorbilder und die Bewältigung von Schuld kämpft.
Die Figuren in Finsterworld
Tom & Franziska
Da wäre zum Einen der Polizist Tom. Tom zieht sich manchmal gerne ein Eisbärkostüm an. Dies trägt er einfach nur so oder bei organisierten Fursuits-Treffen. In diesem Kostüm kann er auf den Treffen Nähe und Wärme zu Gleichgesinnten erfahren, was ihm in seiner Beziehung mit Franziska nicht gelingt. Als Tom ihr in diesem Kostüm begegnet, jagt sie ihn aus Unverständnis davon.
Franziska Feldenhoven ist eine ambitionierte Jungregisseurin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die gesellschaftliche Realität so zu filmen, wie sie ist. Der Vergleich zur Regisseurin Finsterwalder drängt sich nicht nur wegen der Initialien FF auf. Franziska projeziert ihre Unzulänglichkeiten und mangelnde Empathie auf ihren Partner. Dabei zeigt sich eine Überinterpretation des eigenen Verantwortungsempfindens und Überhöhung der eigenen sozialen Kompetenz, ohne sich wirklich mit den Mitmenschen auseinanderzusetzen.
Familie Sandberg
Der Teenager Maximilian Sandberg steht hier exemplarisch für die Millenials und den Sohn eines versnobten Ehepaars ohne Lebensfreude. Der Besuch eines KZ ist für ihn eine lästige Pflicht, die eher zu Spott als zur Reflexion genutzt wird.
Die Eltern, Inga und Georg Sandberg, haben ihrem Sohn alles mitgegeben, was sie selbst auszeichnet: Realitätsferne Arroganz und Ignoranz sowie Dekadenz. Dabei beanspruchen sie für sich eine kulturelle Überlegenheit gegenüber der restlichen Bevölkerung, die ihnen völlig fremd ist. So enden sie in einem Elfenbeinturm ihres Pseudointellekts, entfremdet von jedem Zwischenmenschlichen, ohne Wärme, Zärtlichkeit und familiärer Nähe.
So lebt ihre Mutter verlassen in einem Altersheim, ohne Kontakt zu ihrem Enkel Maximilian (eine Begegnung der Kriegsgeneration und der Generation Y findet hier nicht statt). Ihr einziger Bezugspunkt ist der sozial gestörte Fußtherapeut Claude. Dieser führt zu der älteren Frau, die seine Mutter sein könnte, eine ödipal anmutende Fürsorgebeziehung. Er backt gerne Kekse aus der abgeschabten Hornhaut seiner Patientin und bringt diese als Geschenke mit.
Die Motivträger
Dominik ist ein recht depersonalisiertes deutsches Kind und letztlich der Träger der Story. Er steht für die verkopfte und überkultivierte Jugend, die sich zu viel und gleichzeitig zu wenig Gedanken macht. Er sorgt sich über „Keime, die den Pissstrahl hochschwimmen“, schwänzt aber andererseits den anstehenden KZ-Besuch wegen einer Nichtigkeit. Während seines Streifzugs durch die Felder begegnet er den Eltern seines Mitschülers Sandberg und führt somit die Handlungsstränge zusammen. Der dort entstehende lange Dialog mit Eltern Sandberg über Identität und kulturelle Werte ist eine der Schlüsselszenen.
Der Lehrer stellt die intellektuelle Elite dar und ist der Einzige, der sich der Kollektivschuldfrage annimmt. Im Zuge des von ihm initialisierten KZ-Besuchs muss er die Schuld anderer auf sich nehmen.
Die eigentlich isoliert wirkende Figur des Einsiedlers wird zur heimlichen Schlüsselfigur des Films, da sie letztlich alle Themen in sich vereint. Der Wunsch nach individueller Isolation zeigt sich im komplexen sozialen Gefüge (des Films) als nicht realisierbar. Jede Handlung des Einzelnen wirkt sich auch auf das Leben anderer aus. Durch Unbekannte wird die Lebensgrundlage des Einsiedlers zerstört und sein einziger (tierischer) Gefährte getötet. Die Unfähigkeit, diese depersonalisierte Schuld zu begleichen, bringt ihn zur Verzweiflung, er bestimmt einen einzelnen Schuldigen und richtet ihn. Der Einsiedler steht somit für ein Anderssein, den Ausschluss aus der Gesellschaft und dadurch auch die Abgabe von Verantwortung. Er ist heimatlos, ohne Kultur, ohne Sprache.
Form & Kritik
Zunächst ist Finsterworld mit ordentlich Humor bestückt. Teils ergibt sich dieser aus dem Verhalten oder den Äußerungen der Beteiligten, oft genug aber auch schon aus der Situation selbst.
Finsterwalder gelingt eine interessante Mischung aus einer einladenden Wärme in den Bildern und doch einer gewissen Sterilität, die den Zuschauer auch dank der überwiegenden Abwesenheit von Filmmusik in der Beobachterposition verweilen lässt, ohne dabei den Zugang zu verwehren.
Letztlich ist so gut wie jede einzelne Szene einfach ziemlich interessant und entbehrt oftmals auch nicht einer gewissen Spannung. Finsterworld lädt somit sowohl zum Schmunzeln als auch zum Nachdenken an – ein erfrischender (weil angenehm entfremdender) deutscher Film.
Die Themen & Fazit
Finsterworld beschäftigt sich mit der Suche Einzelner nach einer kollektiven, deutschen Identität. Dafür müssen nicht nur konkrete gemeinsame Werte und Vorbilder verhandelt werden, sondern auch allgemeine Grundlagen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens gefunden werden. So sind die einzig stattfindenden (intergenerationellen) Kommunikationsversuche ohne wirkliche gemeinsame Grundlage und letztlich eigentlich zum Scheitern verdammt.
Ein hängenbleibendes Zitat fasst die Schlüsselthemen Schuldfrage, Generationenkonflikt und deutsche Identität anschaulich zusammen:
– Fix und Foxi sind doch deutsch.
– Ja, aber die kennt man doch nicht im Ausland. Also wenn ich das so sagen darf, die einzige berühmte deutsche Figur ist Adolf Hitler.
Unsere Wertung:
© Alamode Film