In seinem ersten Animationsfilm widmet sich Guillermo del Toro altbekanntem Material, das bereits dutzendfach verfilmt wurde. Kann Guillermo del Toros Pinocchio der Geschichte um die freche Holzpuppe neues Leben einhauchen?
Titel | Guillermo del Toros Pinocchio |
Jahr | 2022 |
Land | United States of America |
Regie | Guillermo del Toro |
Genres | Animation, Fantasy, Drama |
Darsteller | Ewan McGregor, David Bradley, Gregory Mann, Burn Gorman, Ron Perlman, John Turturro, Finn Wolfhard, Cate Blanchett, Tim Blake Nelson, Christoph Waltz, Tilda Swinton, Tom Kenny, Alfie Tempest, Anthea Greco, Francesca Fanti, Sandro Carotti, Rio Mangini, Benjamin Valic, Sky Alexis, Ariana Molkara, Roy Halo, Luciano Palmeri, Peter Arpesella |
Länge | 114 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Die Handlung von Guillermo del Toros Pinocchio
Die Grille Sebastian (Ewan McGregor) nistet sich in einer Pinie ein, um ihre Memoiren zu schreiben. Was Sebastian nicht weiß: Der Baum steht am Grab des Sohns von Holzschnitzer Geppetto (David Bradley). Dieser fällt die Pinie in einem Anfall von Trunkenheit und schnitzt aus ihr eine Puppe, die an sein Kind erinnern soll. Als eine Fee (Tilda Swinton) den Holzjungen zum Leben erweckt, überträgt sie der Grille die Verantwortung für ihn. Gar keine so leichte Aufgabe, denn eine lebendige Puppe zieht in dem kleinen italienischen Dorf, in dem Geppetto lebt, schnell Aufmerksamkeit auf sich. Bald sind nicht nur der Zirkusdirektor Graf Volpe (Christoph Waltz) und sein Affe Spazzatura (Cate Blanchett) hinter Pinocchio her, sondern auch das italienische Militär.
Ein Kinderfilm, nicht für Kinder?
Dass Guillermo del Toro schon immer eine Pinocchio-Adaption umsetzen wollte, war in Hollywood bereits lange bekannt. Der Großmeister des Absurden, der durch blutige Werke wie Shape of Water oder Pans Labyrinth berühmt wurde, traut sich mit Unterstützung von Mark Gustafson hier erstmals an einen Kinderfilm. Dennoch ist es ihm gelungen, seiner Linie treu zu bleiben. Die märchenhafte Atmosphäre, die sich durch all seine Werke zieht, ist alleine durch das Material gegeben. Aber auch die Bilder, so entschärft sie doch sein mögen, hinterlassen bleibenden Eindruck. Ob rote Farbe, die bei einer Paintball-Schlacht verschossen wird, oder verlorene Gliedmaßen, welche vermutlich nur deswegen als kindgerecht durchgehen, weil sie einer Puppe gehören – auf Gewalt wird nicht ganz verzichtet, nur eben kreativ.
Trotzdem muss man betrübt feststellen, dass die Einschätzung der FSK den Film nicht adäquat einstuft. Ein erneutes Zeichen dafür, wie wenig dem jungen Publikum in Deutschland zugetraut wird. Eine Freigabe ab 12 für Guillermo del Toros Pinocchio ist so, als dürfe man das Kettenkarussell auf dem Rummel erst ab 1,70m nutzen. Nichts in diesem Film ist für Kinder ab sechs Jahren überfordernd. Verglichen mit Disney-Werken der 1990er (in denen Figuren erhängt, von Hyänen zerfleischt und aufgespießt werden) wirkt dieses fast zahm. Dennoch werden viele Sechsjährige es vermutlich lange nicht zu Gesicht bekommen. Schade, denn die Botschaften, die vermittelt werden, sind überaus wichtig für ein jüngeres Publikum.
Verpasste Gelegenheiten
Dies soll keinesfalls bedeuten, dass Erwachsene nichts aus dem Film mitnehmen können. Die subtilen Anspielungen auf den Faschismus in Italien und den teilweise morbiden Humor dürften auch sie genießen. Dann jedoch bestehen ganze Musiknummern aus Pupswitzen. Die Figuren sind mit Ecken und Kanten designt, aber unbestreitbar süß. Pinocchios Entdeckung der Welt ist durchgehend auf Augenhöhe erzählt. All dies deutet zweifellos auf Kinder als Hauptzielgruppe hin. Einer jugendlichen oder älteren Person dürfte es indes schwerfallen, die unzähligen verpassten Gelegenheiten zu ignorieren, die mit der Entschärfung einhergingen. So mutig es ist, Faschismuskritik in putzige Stop-Motion-Animation zu verpacken, so wenig wird im Grunde aus dieser Idee gemacht. Ein paar nette Witze gibt es (großartig: Pinocchios erste Begegnung mit dem Podestà in der Kirche), sonderlich tief geht der Film aber selten.
Am deutlichsten wird dies, wenn aus dem Spielzeugland aus der Vorlage in dieser Version ein Militärcamp für Kinder wird. Auf dem Papier ist diese Idee schlichtweg brillant. Statt wachsender Eselsohren wird der unschuldige Nachwuchs mit scharfer Munition ausgestattet. Statt zur Arbeit auf dem Bauernhof wird er in einen bereits verlorenen Krieg geschickt. Umso frustrierender ist es, wie wenig del Toro aus diesem goldenen Einfall macht. Die Situation wird viel zu schnell, viel zu einfach und viel zu harmlos aufgelöst. Der emotionale Nierenhieb der Buchvorlage bleibt aus. Der Film verschenkt damit eine unvergessliche Szene, die quasi schon in Geschenkpapier gewickelt vor ihm lag. Wirklicher Tiefgang gelingt eigentlich nur mit dem fantastischen und bewegenden Ende.
Schöne Stimmen, schwache Musik
Ähnlich frustrierend wie das verschenkte Potenzial ist die Tatsache, dass Netflix es anscheinend für zwingend notwendig hielt, die Adaption als Musical zu gestalten. Komponist Alexandre Desplat hat gemeinsam mit seinem Team eine Vielzahl an Stücken geschrieben, die vom Cast performt werden. Diese reichen meist von durchschnittlich zu irrelevant. Lichtblicke gibt es nur wenige. Zu denen gehört zweifellos die berührende Ballade “Ciao Papa”, interpretiert von Pinocchio-Sprecher Gregory Mann, die bei mehrfachem Hören stark wächst. Einer der stärksten Running Gags des Films geht mit Ewan McGregors Grille und seinem Song “Better Tomorrows” einher. Hier und da findet sich in manchen Liedern noch eine schöne Melodie oder eine clevere lyrische Idee. Doch im Großen und Ganzen ist die Qualität der Songs schwach. Viele von ihnen sind zudem schlicht unnötig, führen die Handlung kaum voran oder bremsen sie sogar. Dies ist das haargenaue Gegenteil von dem, was Musiknummern in einem Musical erreichen sollten.
Lob gebührt dagegen den Stimmdarbietungen, welche sich durchgehend auf hohem Niveau befinden und den Originalton damit zur Pflicht machen. Besonders heraus sticht Gregory Manns Leistung, die in Sachen Kinderperformances 2022 sicherlich zur absoluten Spitze gehört. Christoph Waltz ist herrlich bösartig als Graf Volpe, einer Kombination aus dem Fuchs und dem Puppenspieler Mangiafuoco aus der Vorlage. So gut hat man diesen hochtalentierten Schauspieler lange nicht mehr gesehen beziehungsweise gehört. Gesondert erwähnen möchte ich auch Cate Blanchett, deren Dialog hier zum Großteil lediglich aus Affenlauten besteht. Dass eine Darstellerin ihres Kalibers für solch eine Rolle vors Mikrofon tritt, ist schlicht beeindruckend.
Guillermos Welten
Das beachtlichste Element in Guillermo del Toros Pinocchio ist natürlich die Präsentation. Mit atemberaubenden Welten kennt der Regisseur sich aus; bereits drei seiner Filme waren für den Oscar für das beste Szenenbild nominiert, zwei davon gewannen. Was er hier geschaffen hat, ist aber etwas völlig Neues, das dennoch unverkennbar seine Handschrift trägt. Der Detailreichtum der Sets kann nur als hervorragend bezeichnet werden. Zu jeder Sekunde möchte man sich verlieren in den ausgearbeiteten Hintergründen.
Wenn man del Toro eines nicht nachsagen kann, dann ist es ein fehlendes Auge für einprägsame Bilder. Das Design des Totenreichs in diesem Film ist nicht bloß ein Wunder der Farb- und Lichtgestaltung, es ist auch einzigartig. Ein solches Konzept des Nachlebens habe ich noch nie zuvor gesehen. Sogar das Innere eines Walmagens wird zu einer umwerfend schönen Kulisse. Die Stop-Motion-Animation, die die Welt zum Leben erweckt, ist auf höchstem Niveau und kann locker auch mit den besten Werken von Selick oder Burton mithalten.
Unser Fazit zu Guillermo del Toros Pinocchio
Etwas ärgerlich ist es schon, dass dieser Film so stark auf Kinder abzielt, die ihn dann vielleicht nicht einmal sehen dürfen. Anfang des Jahres durften wir noch Bradley Cooper in Nightmare Alley dabei zuschauen, wie er sich Glasscherben aus den Fingerknöcheln pulte. Von dem Guillermo del Toro, der diese Szene inszenierte, ist hier wenig übrig. Natürlich ist Gewalt nicht gleichzusetzen mit Anspruch. Für einen reifen Film benötigt es keinen Tropfen Blut. Trotzdem vermisst man bei der Düsternis von Pinocchios Welt die letzte Konsequenz. Wer Punkte wie Militärpropaganda und Mussolinis Italien ansprechen will, darf dabei nicht auf halber Strecke anhalten und den zuckersüßen Ausweg wählen.
Eventuell ein bisschen unreif, definitiv ziemlich unausgereift, trotzdem charmant – das ist Guillermo del Toros Pinocchio. Für alle Fans bildgewaltiger Geschichten ein absolutes Muss! Wer Musicals gegenüber eher kritisch eingestellt ist oder bei Kinderfilmen kein Auge zudrücken kann, was Inhalt und Umsetzung betrifft, sollte auf Netflix lieber weitersuchen. Ein zukünftiger düsterer Kinderklassiker à la Der Glöckner von Notre Dame oder Nightmare Before Christmas wird der Film wohl nicht werden. Für einen gemütlichen Familienabend, bei dem sich weder Eltern noch Nachwuchs langweilen, gibt es wohl aber zurzeit nichts Geeigneteres.
Guillermo del Toros Pinocchio erscheint am 9. Dezember 2022 auf Netflix!
All unsere Kritiken und auch viele andere Videos findest du auch auf unserem YouTube-Kanal.
Unsere Wertung:
© Netflix