Sechs Jahre nach dem Himmel über Berlin kehrte Wim Wenders zurück in die ehemals geteilte Stadt. Die hat sich In weiter Ferne, so nah! zur Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands gewandelt. Eine Wandlung, die der Engel Cassiel (Otto Sander) auf fatale Weise nachvollzieht. Ob es sich lohnt, ihn dabei zu begleiten, erfahrt ihr in unserer Rezension.
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Titel | In weiter Ferne, so nah! |
Jahr | 1993 |
Land | Deutschland |
Regie | Wim Wenders |
Drehbuch | Wim Wenders, Ulrich Zieger, Richard Reitinger |
Genre | Drama, Fantasy, Romanze |
Darsteller | Otto Sander, Bruno Ganz, Nastassja Kinski, Rüdiger Vogler, Horst Buchholz, Heinz Rühmann, Willem Dafoe, Peter Falk, Michail Gorbatschow, Lou Reed, Hanns Zischler, Solveig Dommartin, Monika Hansen |
Länge | 144 Minuten |
FSK | ab 6 Jahren freigegeben |
Verleih | Studiocanal |
Darum geht es in In weiter Ferne, so nah!
Der Engel Cassiel (Otto Sander) möchte nicht länger nur beobachten, er möchte handeln. Er beneidet seinen alten Engelsfreund Damiel (Bruno Ganz), der in Der Himmel über Berlin aus Liebe zur Trapezartistin Marion (Solveig Dommartin) zum Menschen wurde. Als Schutzengel beobachtet Cassiel, wie die kleine Raissa (Aline Krajewski) vom Balkon stürzt. Um sie zu retten, wird nun auch er zu einem Menschen.
Schnell verfällt er den allzumenschlichen Lastern, verliert bei einem Hütchenspieler das Geld, das ihm der ominöse Emit Flesti (Willem Dafoe) zuvor geschenkt hatte. Emit Flesti ist ein Anagramm von Time Itself, die seltsamste Figur in In weiter Ferne, so nah! Er ist die Zeit selbst, der auf Erden niemand entkommen kann. Cassiel wird von der Polizei festgenommen. Damiel, mittlerweile Pizzabäcker, holt ihn von der Wache ab. Nun muss sich Cassiel eine menschliche Identität besorgen, einen Pass, denn “wenn man kein Abbild von sich hat, ist man ein Niemand.”
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Erneut verführt ihn Emit Flesti. Diesmal verfällt er dem Alkohol und erleidet einen rasanten Abstieg zum Penner. Dann aber schließt sich Cassiel, der sich nun Karl Engel nennt, dem halbseidenen Geschäftsmann Tony Baker (Horst Buchholz) an, den er vor der Russen-Mafia rettet. Als er erfährt, dass Baker sein Geld verdient, indem er Raubkopien von Pornos gegen Waffen tauscht, nimmt er ihm diese mit Hilfe der Artistentruppe um Marion ab. Das Boot, mit dem die Waffen abtransportiert werden, fällt in die Hände der Russen. Bei der Befreiungsaktion findet Engel den Tod und kehrt als Cassiel zurück in den Himmel.
Eine Geschichte über den Wandel
Im Schlussbild vom Himmel über Berlin steht der Engel Cassiel auf der Siegessäule und blickt sehnsüchtig nach unten auf die Menschen, zu denen sich sein Freund Damiel gesellt hatte. In weiter Ferne, so nah! schließt nahtlos an dieses Bild an. Wieder steht Cassiel dort oben, wieder ist sein Blick voller Sehnsucht. Doch die Welt, Berlin hat sich geändert. Und so erzählt der Film keine Fortsetzung, sondern eine ganz andere Geschichte.
Diesmal ist es nicht die Liebe, die einen Engel ins Land der lebendigen Menschen herüberholt. Es ist Cassiels Verlangen, etwas bewirken zu können, nicht nur zu beobachten und zu lauschen, sondern in die Schicksale der Menschen eingreifen, helfen zu können. Engel sind zeitlos. Und sie sind überall zugleich. Erst seine Menschwerdung konfrontiert Cassiel mit der Zeit. Und die Zeit lässt ihn scheitern. Oder auch nicht. Denn sie gibt ihm auch die Chance zur Entwicklung, zur Veränderung. Und das, so könnte eine Botschaft von In weiter Ferne, so nah! lauten, jederzeit. Denn Zeit ist zeitlos, wie Mister Time Emit Flesti es formuliert. Und der muss es schließlich wissen.
Die entfesselte Kamera fliegt über Berlin
Das Wesen der Engel fängt die entfesselte Kamera mit virtuos wirbelnden Bildern ein. Sie fliegt dank Minihubschrauber wie mit Engelsflügen über die Plätze und durch die Straßen der einst geteilten Stadt. Der massive und hervorragend gelungene Einsatz der Steadycam verschafft dem Film Bilder von selten gesehener Beweglichkeit.
Wie schon in Himmel über Berlin ist auch in In weiter Ferne, so nah! die Welt der Engel schwarz-weiß. So hat sie zwar schärfere Konturen, doch fehlt es ihr an Emotionen und Sinnlichkeit, die sich erst in der farbigen Welt der Menschen entfalten können. Es zumindest könnten. Denn von diesen Möglichkeiten machen die wenigsten offenbar Gebrauch. “Das Herz ist verstopft, die Augen verschlossen, die Ohren hören schon nicht mehr”, sagt Engel Raphaela (Nastassja Kinski). Doch müsse man mit den Augen sehen und den Ohren hören, um mit dem Herzen zu verstehen. Und dennoch wünscht Cassiel sich nichts sehnlicher, als einmal einer von ihnen zu sein.
Denkwürdiger Auftritt von Gorbatschow in In weiter Ferne, so nah!
Der Abstieg Cassiels zum Menschen Karl Engel ist aber auch ein Gleichnis für Berlin nach dem Mauerfall. Die Kamera zeigt Bilder einer Stadt des Übergangs, vom Chaos auf dem Potsdamer Platz mit Wohnbaracken zwischen Mauerresten und Baustellen. Mehr als jeder andere Mensch, so Wenders, sei Michail Gorbatschow für die friedliche Wende verantwortlich gewesen. Der ehemalige KP-Chef und Staatspräsident der Sowjetunion hat in einer Art Prolog in In weiter Ferne, so nah! einen denkwürdigen Auftritt. Dort schreibt er: “Auf Blut lässt sich keine sichere Welt bauen” und beschwört die Eintracht aller Menschen.
Cassiel, der diese Gedanken hört, kommentiert: “Das klingt, als wäre sie ein Schmerz, die Zeit.” Den Schmerz kennen Engel so wenig wie die Zeit. Als Mensch erfährt Karl Engel davon genug. Zeit ist auch Vergänglichkeit, ist Tod. Und Einsamkeit. “Das ist schlimm”, sagt er, “keiner hört, was in anderen vorgeht. Keiner sieht dem anderen ins Herz.” Aber auch: “Es ist alles verführerisch schön.”
Cassiel alias Karl Engel scheitert an dieser Verführung bis er sich fängt und aus Schuldgefühl versucht, alles ins Lot zu bringen. Das Leitthema des Films ist ein Song, den Lou Reed, der hier ein paar kurze Auftritte hat, extra für den Film geschrieben hat: Why can’t I be good? – Warum kann ich nicht gut sein? Eine Frage, die sich Karl Engel nun häufig stellt: “Kann man denn in die Hölle fallen, ohne das Böse gewollt, ja ohne das Böse erkannt zu haben?”
Heinz Rühmanns letzte Rolle
In weiter Ferne, so nah! enthält eine Vielzahl solch intensiv verdichteter Momente menschlicher Weisheit, deren letzte Botschaft wieder die Liebe ist. Die am stärksten berührenden Momente sind die Sequenzen mit dem großen Heinz Rühmann in seiner letzten Rolle. Einer Ikone der deutschen Filmgeschichte in all ihren Höhen und Tiefen. Der hier mit über 90 Jahren körperlich stark eingeschränkt noch einmal alles gibt, um seinen Charakter durch kleinste Nuancen in Blick und Stimme mit Tiefe zu füllen.
Doch auch der übrige Cast ist großartig. Allen voran Otto Sander, der Cassiel in all seiner Hilflosigkeit Wahrhaftigkeit verleiht – und auch sein komödiantisches Talent ausspielen darf. Die Szene, in der er, Mensch geworden, erst lernen muss, zu laufen, zu riechen und zu reden, ist unübertrefflich. Bruno Ganz kehrt in der Rolle des Damiel aus Der Himmel über Berlin zurück und zeigt insbesondere in den gemeinsamen Szenen mit seinem alten Freund Sander ungehemmte Spielfreude.
Wenders Stammschauspieler Rüdiger Vogler gibt einmal mehr den Phillip Winter, einen leicht trotteligen Privatdetektiv, den man zuvor schon in Bis ans Ende der Welt gesehen hat. Alt-Star Horst Buchholz (Die Halbstarken, Eins, Zwei, Drei, Die glorreichen Sieben) glänzt in der Rolle des halbseidenen Tony Baker. Peter Falk spielt wie schon im Himmel über Berlin sich selbst und darf einige seiner tollen Zeichnungen zeigen. Und Willem Dafoes hartgeschnittene Züge verleihen seiner personifizierten Zeit klassisches Profil.
Zerfasernde und wirre Handlungsstränge
Hervorragende Schauspielleistungen und großartige Bilder trösten über die manchmal arg zerfasernde Handlung in ihrer episodenhaften Struktur hinweg. Manche Szenen haben kaum erzählerischen Mehrwert und wirken als seien sie reiner Selbstzweck. Das kann zwar lustig sein, wenn etwa der Detektiv Winter auf der Straße mit Peter Falk alias Columbo zusammenstößt. Stört aber den Fluss der Handlung. Anderes wirkt zerhackt und leicht wirr, insbesondere die Schlusssequenz, bei der es um die Rückeroberung der Alekahn, des Bootes der Artisten, geht.
Insgesamt hätte In weiter Ferne, so nah! etwas weniger Dialog vertragen können, wirkt er doch in Teilen arg redselig und manchmal sogar dämlich. Zeilen wie “Die Menschen haben kein Dahinter mehr” würde man sich lieber ersparen. In der Schlussszene aber zeigt Steadycam-Operator Jörg Widmer noch einmal seine ganze Meisterschaft. In einer langen Plansequenz bewegt er sich vom Bug zum Heck über das ganze Boot, mit dem die Protagonisten davonziehen. Er fängt jeden einzelnen mit der Kamera ein, wechselt dann auf ein anderes Boot und lässt die Alekahn ohne jeden Schnitt davonziehen.
Mein Fazit zu In weiter Ferne, so nah!
Wenders hat sich von der emotionalen Liebesgeschichte aus Der Himmel über Berlin weg bewegt. In weiter Ferne, so nah! ist ein sehr viel spirituellerer Film geworden, der in seinen gelegentlich etwas bemühten Dialogen zu angestrengt daher kommt. Dann wieder glänzt er mit Momenten großer Weisheit. Die intensive Bildsprache fesselt. Es gibt Szenen, die bewegen, und solche, die amüsieren. Der Film erfasst die Dialektik der Wandlung, sei es die eines Menschen oder die einer Stadt, zerfasert jedoch zu sehr in einer wirren Handlungsstruktur. Dennoch ist In weiter Ferne, so nah! ein mehr als nur sehenswerter Film. Auch, weil er Bilder eines Berlins zeigt, das es so nicht mehr gibt.
Der Film erscheint auf Blu-ray und erstmals digital restauriert auf DVD am 5. Dezember 2019. Die Bildqualität ist hervorragend und das Bonusmaterial enthält unter anderem einen äußerst sympathischen Audiokommentar von Wim Wenders.
Unsere Wertung:
© Studiocanal Home Entertainment