Joe Bell ist ein einfühlsames Drama über einen Mann, der sich nach dem Suizid seines schwulen Sohnes auf einen Fußmarsch quer durch die USA begibt. Er will seine Botschaft gegen Mobbing unters Volk bringen, vor allem aber zu sich selbst finden. Ob ihm dies gelingt, erfahrt Ihr hier.
Titel | Joe Bell |
Jahr | 2020 |
Land | Luxembourg |
Regie | Reinaldo Marcus Green |
Genres | Drama |
Darsteller | Mark Wahlberg, Reid Miller, Connie Britton, Maxwell Jenkins, Morgan Lily, Gary Sinise, Tara Buck, Ash Santos, Igby Rigney, Cindy Perez, Scout Smith, Coral Chambers, Blaine Maye, Blake Barlow, Charles Halford, Jayne Luke, Juan Antonio, Kenadee Clark, Cassie Beck, Jake Brown, Jordan Davis |
Länge | 90 Minuten |
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Die Handlung von Joe Bell
Joe Bell (Mark Wahlberg) ist vielleicht nicht der bester Vater der Welt. Er neigt zu cholerischen Anfällen und hält sich – in diesem Sinne eben ganz Mann – mit seinen Gefühlen zurück. Als ihm sein älterer Sohn Jadin (Reid Miller) offenbart, dass er schwul ist, ist dies ein Problem. Mit dem er fast klar kommen würde, wenn Jadin mit seiner Homosexualität nicht offen umgehen würde. Was sollen denn die Nachbarn denken? Dass der Junge dann auch noch bei den Cheerleadern der heimischen Footballmannschaft mitmacht, empfindet er als Schande. Und stiehlt sich zusammen mit seiner Frau Lola (Connie Britton) aus dem Stadion.
Doch Jadins offener Umgang mit seiner Sexualität macht ihn zu einem Mobbing-Opfer. Der Druck durch seine Mitschüler wird unerträglich. Er begeht Selbstmord. Sein Vater versucht, die Trauer durch Verdrängung zu bewältigen, was scheitert. Und beinahe zum endgültigen Bruch der Familie führt. Doch dann fängt er sich. Er begibt sich auf einen Fußweg quer durch die USA. Vom heimischen Oregon aus will er bis nach New York wandern, dem Sehnsuchtsort seines toten Sohns. Und unterwegs die Menschen über die Gefahr des Mobbings aufklären. Eine wahre Geschichte.
Ein Landstreicher zieht durch die USA
Die ersten Bilder zeigen eine der typischen, schnurgeraden und stark befahrenen Landstraßen in den USA. Aus dem Off hört man Joe Bell offenbar mit seiner Frau telefonieren. Seine Füße seien eine einzige Blase, sagt er ihr. Dann sieht man ihn: Wie ein Landstreicher schiebt er einen dreirädrigen Wagen mit seinen Utensilien vor sich her, während Autos und Lastwagen an ihm vorbeibrettern. Dann taucht Jadin auf, der auf der anderen Seite der Straße neben ihm herzugehen scheint. Zusammen und doch getrennt. Bis der Junge die Seite wechselt und beide Arm in Arm weiterwandern.
Wer nicht weiß, dass es in dem Film um die Bewältigung von Jadins Selbstmord geht, wird an dieser Vater-und-Sohn-Szene nichts Besonderes finden. Doch dürfte dieses Grundthema kaum entgangen sein. Was so im ersten Moment irritieren könnte, ist eine symbolisch aufgeladene Einführung in den Grundkonflikt von Nähe und Distanz. Nicht ungeschickt.
Joe Bell ist ein Film über Joe Bell
Es gibt kritische Stimmen, die dem Film Joe Bell vorwerfen, die Themen Mobbing und Schwulenhass nur unzureichend und inkonsequent abzuhandeln. Was unfair ist. Denn das zentrale Thema des Streifens von Reinaldo Marcus Green ist offensichtlich ein anderes. Es geht um den Vater eines Opfers, um seine Konflikte, um Formen der Verdrängung und die Art, wie er die Trauer bewältigt. Um die Einsicht, dass Verdrängung und das Nicht-wahr-haben-wollen alles nur viel schlimmer machen. Und dass nicht nur er sich so verhält, sondern die meisten anderen auch.
Joe Bell ist eben ein Film über Joe Bell und nicht über Jadin. Die Konflikte des Sohns werden berührt und angemessen dargestellt, die Perspektive aber ist auf den Vater gerichtet. Daran ist nichts falsch. Es ist eine andere Art der Betroffenheit, die angesichts der noch immer massiven Diskriminierung von Angehörigen der LGBTQ+-Community eher selten in den Fokus rückt. Doch auch diese Geschichte will erzählt sein, und der sonst eher auf Macho-Helden abonnierte Mark Wahlberg macht seine Sache dabei außerordentlich gut. Er spielt den zu Wutausbrüchen neigenden und mit sich selbst hadernden Familienvater mit großer Sensibilität.
Er ist der typische Mann, der es für eher unnötig hält, seine Gefühle zu zeigen. Dem der gesellschaftliche Status, die Anerkennung in der Nachbarschaft wichtiger scheinen als der emotionale Zusammenhalt. Auf die Frage seiner Frau, ob sein Sohn denn wisse, dass er ihn liebe, antwortet er etwas stoffelig: „Aber das ist doch offensichtlich.“ Sie erwidert: „Das könntest Du auch mal sagen.“ Er: „Das weiß er doch.“
Seine Art, Liebe zu zeigen
Es mangelt Joe Bell nicht an Liebe, aber an der Fähigkeit, sie zu zeigen. Mit den etablierten Bildern im Kopf davon, was und wie ein richtiger Mann eben zu sein hat. Und der simpel gestrickten Hoffnung, dass, wenn mal etwas von der Norm abweicht, es sich schon irgendwie von selbst regeln wird. Schließlich ist Jadin ja erst 15. Während sein Sohn seine Homosexualität offen ausleben will, will Joe ihn zwingen, sich zu verstecken. Eine Haltung, die sich mit dem Suizid, wenn auch mit Verzögerung, ändert. Zu der Erkenntnis: „Ich habe Jadin nie gesagt, dass es okay ist.“
So wird Joe von Schuldgefühlen geplagt. „Für mich gibt es keine Entschuldigung“, sagt er, „und keine Vergebung.“ In einem Diner rastet er aus, als sich ein paar Rednecks über Schwule ereifern. Doch sein Zorn gilt eigentlich ihm selbst, reflektieren die Beschimpfungen doch letztlich seine eigene frühere Haltung – und die Homophobie viel zu vieler anderer Menschen.
Seine Wanderung hat daher weniger den Zweck der Aufklärung als den der eigenen Buße und Läuterung. Auch dies mag man kritisieren, wird doch sein toter Sohn so wieder zum Objekt. Aber welche menschliche Handlung ist nicht ambivalent? Sein Marsch gegen Mobbing und für Toleranz wird jedenfalls zum Medienereignis. Er hält kurze Vorträge vor kleinen und großen Gruppen. „Viele denken, es ist kein großes Ding, sich über Leute lustig zu machen, die anders sind als sie“, sagt er. „Wisst Ihr, Mobbing und Intoleranz können ein tödliches Ende nehmen.“ Man erkennt ihn auf der Straße, und er erfährt Unterstützung.
Großaufnahmen und große Darsteller
Gefilmt ist diese Reise zu sich selbst in eher unspektakulären Bildern. Viele Großaufnahmen von Gesichtern spiegeln die Emotionen, kleine Details schärfen die Aufmerksamkeit. In Momenten, die in rührseligen Kitsch umschlagen könnten, zieht sich die Erzählung vornehm zurück und bewahrt Distanz. Der Cast spielt hervorragend, insbesondere eben Mark Wahlberg (Lone Survivor, Boston) in einer seiner bemerkenswertesten Rollen. Aber auch der junge Reid Miller ist als Jadin eine Wucht, wie er von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt die ganze Palette der Gefühle zum Ausdruck bringt. Man wird noch von ihm hören und sehen.
Drehbuch zu Joe Bell vom Oscar-Team
Das Drehbuch stammt von Larry McMurtry und Diana Ossana, die für das Script zu Brokeback Mountain einen Oscar bekamen. Vor allem der im März 2021 mit 84 Jahren verstorbene McMurtry lohnt dabei einer näheren Betrachtung. Neben einigen Drehbüchern ist er vor allem als Schriftsteller – insbesondere einer ganzen Reihe ausgezeichneter Westernromanen – bekannt, von denen leider nur Weg in die Wildnis ins Deutsche übertragen wurde. Dieser ist Teil der Reihe Lonsome Dove um die ehemaligen Südstaatenoffiziere und Indianerkämpfer Augustus McCrae und Woodrow Call, die in einigen TV-Miniserien mit namhaften Stars wie Robert Duvall und Tommy Lee Jones recht gelungen umgesetzt wurden.
Sein Drehbuch für Peter Bogdanovichs Die letzte Vorstellung (The Last Picture Show), geschrieben nach seinem halbautobiografischen Roman, wurde für den Oscar nominiert. McMurtry war ein Freund des schriftstellerischen Enfant terrible Ken Kesey (Einer flog über das Kuckucksnest), den er kennenlernte, als Kesey mit seiner drogenaffinen Hippietruppe The Merry Pranksters 1963 bei ihm in Texas vorbeikam. 2011 heiratete er Keseys Witwe Norma Faye.
Unser Fazit zu Joe Bell
Vermutlich werden sich an Joe Bell die Geister scheiden, weil der Film eben nicht das Drama eines Homosexuellen in seinen Mittelpunkt stellt, sondern die Betroffenheit der Angehörigen. Dabei ist es wichtig, sich auch der Frage zu stellen, wie vermeintlich „Normale“ es schaffen können, mit „anderen“ Lebensweisen klar zu kommen, sich nicht davon bedroht zu fühlen. Sie als selbstverständlich zu akzeptieren. Denn dies ist ein Prozess, ein Weg, auf den man sich erst einmal machen muss. Was das bedeutet, zeigt Joe Bell auf eindringliche und berührende Weise, umschifft dabei geschickt einige Male die Klippen zum Kitsch. Dass während des Abspanns einige Originalfotos und Videoaufnahmen des echten Joe Bell zu sehen sind, verstärkt die emotionale Wirkung.
Joe Bell ist ab dem 10. Dezember 2021 als DVD, Blu-ray und digital erhältlich.
Unsere Wertung:
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