In der neuen Kategorie „Encounters“ wurde auf der diesjährigen Berlinale das mit Spannung erwarteter Langfilmdebüt einer jungen deutschen Regisseurin präsentiert. Im Folgenden könnt ihr lesen, wie Nackte Tiere von Melanie Waelde geworden ist.
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Titel | Nackte Tiere |
Jahr | 2020 |
Land | Germany |
Regie | Melanie Waelde |
Genres | Drama |
Darsteller | Marie Tragousti, Sammy Scheuritzel, Michelangelo Fortuzzi, Luna Schaller, Paul Michael Stiehler, Florian Schmidtke, Luna Arwen Krüger, Marie Meissner, Xenia Tiling, Ulrike Hübschmann, Marianna Linden, Markus von Lingen |
Länge | 83 Minuten |
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Worum geht es in Nackte Tiere?
Katja lebt in einer kleinen, abgeschiedenen, deutschen Provinz und steht kurz davor, das Abitur abzuschließen. Eine echte Familie, die sich um sie kümmert, hat sie allerdings nicht, weshalb sie mehr Zeit mit ihren Freunden in der Wohnung von Benni verbringt als in ihrem eigentlichen Zuhause. Auch diese haben so ihre eigenen Problemen in der Familie, weshalb sich eine Gruppe verlorener Jugendlicher um die taffe und zielstrebige Katja versammelt. Diese versucht, die anderen zur regelmäßigen Teilnahme am Unterricht zu bewegen und außerdem ihrem Kampfsport nachzugehen. Schnell muss sie sich allerdings eingestehen, dass sie einer solchen Verantwortung noch nicht gewachsen ist und außerdem auch eigene Bedürfnisse besitzt. Sei es die Geschlechterrolle, der eigene Lebensunterhalt oder die Beziehung zu Gleichaltrigen. Katja muss sich einigen Herausforderungen zu stellen, um ihr Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken.
Trostlosigkeit und Minimalismus
„Sag mal, bist du eigentlich schwul?“, fragt Katja den depressiven und zurückgezogenen Benni. Er antwortet mit einem schlichten „Und du?“, bevor er wieder in Schweigen verfällt. Mit einem drastischen Schnitt beendet Langfilmdebütantin Melanie Waelde die faszinierende Szene und verwehrt ihrem Publikum eine endgültige Antwort. Ein solcher Minimalismus wirkt stilprägend für die deutsche Nachwuchsregisseurin. Dem Film ist mehr daran gelegen, Situationen und Momente zwischenmenschlicher Beziehungen einzufangen, als eine kohärente Geschichte zu erzählen. Die familiäre Situation von Katja wird beispielsweise nie vollkommen nachvollziehbar erklärt. Sie will ihr Leben auf jeden Fall selbst in die Hand nehmen und sich von den ihr auferlegten, nur sporadisch angedeuteten, häuslichen Problemen trennen, wie so viele ihrer Freunde. Zu diesem Zweck schufen sie sich einen Rückzugsort bei Benni. Es bildet sich eine Generation, die aus der heimischen Umgebung ausbrechen will, aber noch nicht stark genug ist, auf eigenen Beinen zu stehen.
Dieses typische Missverhältnis, welches das Genre der Coming-Of-Age-Filme so oft zum Gegenstand macht, fängt Regisseurin Waelde in trüben, fast schon trostlosen Bildern ein, als gäbe es keine Hoffnung, diesem Teil des Lebens zu entwachsen. Das späte Jugendalter wird bei ihr nicht romantisiert, sondern vielmehr problematisiert, so als wisse die Gesellschaft nicht wohin mit ihren Jugendlichen. In einem beklemmenden 1:1-Bildformat spiegeln sich gleichzeitig Einengung und Fokus wider. Wie die Passbilder einer Generation wirken die zahlreichen Einstellungen der Gesichter und Szenerien. Die völlige Abwesenheit von Musik trägt ebenfalls ihren Teil zur deprimierenden Atmosphäre bei. Die Abgeschiedenheit einer deutschen Provinz und der Wunsch der jungen Generation, dieser zu entfliehen geben dem Streifen dabei sogar eine leicht politische Ebene.
Loslösung klassischer Erzählweisen
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Waelde versteht die Pubertät insbesondere als eine Phase des Kampfes. Anerkennung, Individualität und die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdwahrnehmung müssen in Nackte Tiere im wahrsten Sinne des Wortes erkämpft werden. Die als taff, aber auch verschlossen geltende Katja lässt sich in einer Kampfsportart ausbilden und besitzt auch keine Hemmungen, diese außerhalb des Trainingsraumes anzuwenden. Gleichzeitig sehnt sie sich nach Naivität, Zuneigung und Halt, was sich insbesondere in ihrer Arbeit mit Kindern und ihrem Einsatz für ihre Freunde widerspiegelt. Für Schwäche jeglicher Art hat sie hingegen insbesondere bei den Müttern ihrer Freunde, die direkt oder indirekt für das Leiden der Jugendlichen verantwortlich sind, kein Verständnis. Selbst ist die Frau! Den Flyer der Ärzte für Hilfe bei Gewalttaten gegen Frauen kann sie als selbstbestimmte Frau nur schnippisch ablehnen.
Wo andere Filme die Entdeckung der Sexualität oder die ersten intimen Beziehungen als aufregendes Abenteuer inszenieren, kontert Waelde mit Pragmatismus. Sex, Gewalt, Schule, Prüfungen, Geschlechterrollen und das Bildnis der anderen über einen selbst, alles muss ausgehandelt und angefochten werden. Das merkt man allein schon daran, dass in Nackte Tiere auf klassische Charakterentwicklungen und traditionelle Spannungsbögen weitestgehend verzichtet wird. Echte Gefühle treten entsprechend selten zutage. Die Jugendlichen wissen, dass ihre gemeinsame Zeit mit dem Abschluss der Schule schnell beendet sein könnte. Demzufolge findet sich die Gruppe an der Grenze zwischen gegenseitiger Zuneigung beziehungsweise Erkundung und beabsichtigter Distanz wieder. Dabei wechseln sich Schmerz und Freude in einer ziellosen Achterbahn der Ereignisse ab. Was könnte man sich da also besseres zu Weihnachten schenken als ein Kühlpack für erlittene Wunden?
Die Figuren sind das Herz von Nackte Tiere
Die Zeit des Heranwachsens, in der die Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehen, ist auch eine Zeit des Erlernens und Erfassens sozialer Interaktionen. Nicht umsonst bilden im Genre des Coming-Of-Age-Films häufig kleinere Gruppen das Zentrum der Erzählung und nicht eine individuelle Person. Zwar ist die Darstellung der gruppendynamischen Prozesse nicht ganz so ausgefeilt und auf den Punkt erzählt wie beispielsweise in Mid90s, The Breakfast Club, oder Stand By Me, aber dennoch spinnt Drehbuchautorin Maelde ein faszinierendes Netz von Individuen und deren Beziehungen zueinander. Sei es der depressive Benni, der engagierte Schöller, der nicht zu wissen scheint, was Liebe bedeutet, die schöne, aber misshandelte Layla und auch der liebenswerten aber unzufriedene Sascha. Alle müssen ihr Päckchen tragen.
Dabei gelingt es Waelde, einerseits ein Bild der Personen zu erschaffen und andererseits nicht zu viel über die Ursachen der individuellen Schwierigkeiten zu verraten. Damit läuft sie nicht Gefahr, die Figuren zu überanalysieren. Vielmehr ergibt sich ein realistischer Einblick in eine Gruppe Jugendlicher, unter deren Oberfläche es zu jeder Zeit spürbar brodelt. Katja steht dabei im Mittelpunkt und erhält die Funktion des Kopfes der Gruppe. Doch je mehr sie versucht, sich ein Image als die Unkaputtbare aufzubauen und sich selbst abzuschotten, desto mehr beginnen die Wunden physischer und psychischer Natur (die bei Katja stets eine Einheit bilden) an ihr zu nagen. Stille Wasser sind bekanntlich am tiefsten und eben dieses Gefühl kann der gesamte Cast auf die Leinwand bannen. Auch wenn zu spüren ist, dass dem Film keine größeren finanziellen Mittel zur Verfügung standen, so ist die Casting-Auswahl durchaus gelungen, wenn auch nicht in allen Momenten vollkommen überzeugend.
Unser Fazit zu Nackte Tiere
Zusammenfassend wagt Regisseurin Melanie Waelde einen deutlich nüchterneren, trostlosen Blick auf die Welt der heranwachsenden Jugendlichen als üblich und erweitert damit das Spektrum des Genres. In minimalistischen Dialogen und Ausstattungen beschreibt sie Momente, die die großen Fragen des menschlichen Miteinanders aufwerfen können. Echte Hoffnungen oder Lösungsansätze bietet sie dabei jedoch keine und schafft es auch nicht, eine detaillierte Analyse einer Generation einzufangen, formuliert allerdings eine neue Perspektive auf die Thematik. Daher kann man in Nackte Tiere die gelungene zurückhaltende Inszenierung einer Independent-Produktion erleben und wird über die kurze Laufzeit mit einer Fülle starker Momente und einprägsamer Charaktere konfrontiert. Kleine erzählerische Schwächen verzeiht man da doch leicht, denn ähnlich wie bei den nackten Tieren kommt es insbesondere auf das an, was unter der Oberfläche versteckt liegt. Auch wenn eine solche Herangehensweise zunächst gewöhnungsbedürftig daherkommt, sollte der Film all denjenigen, die künstlerischem Kino ohne klassische Erzählstrukturen etwas abgewinnen können, empfohlen sein.
Der Film feierte am 21. Februar seine Premiere auf diesjährigen Berlinale und ist ab diesem Zeitpunkt auf dem Festival zu sehen. Ein deutscher Kinostarttermin ist noch nicht bekannt.
Unsere Wertung:
© Czar Film