Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Talal Derki lebte zwei Jahre unter Dschihadisten im Norden Syriens. Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats ist eine einzigartig intime Innenaufnahme des Islamismus. Ein erschreckender Film über die Banalität des Bösen. Warum er so wichtig ist, erfahrt ihr in unserer Rezension.[su_youtube URL=” https://www.youtube.com/watch?v=8tMpwR796Ew”]
Titel | Of Fathers and Sons – die Kinder des Kalifats |
Jahr | 2017 |
Land | Deutschland, Syrien, Libanon |
Regie | Talal Derki |
Drehbuch | Talal Derki |
Genre | Dokumentation |
Darsteller | Abu Osama, Ayman Osama, Osama Osama |
Länge | 99 Minuten |
FSK | ab 16 Jahren freigegeben |
Verleih | Eurovideo |
Darum geht es in Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats
Zwei Jahre hat der syrische Dokumentarfilmer Talal Derki (Homs – Ein zerstörter Traum) unter den radikalen Islamisten der Al-Nusra-Front gelebt, einer Al-Kaida nahe stehenden Terror-Miliz. Dabei gewann er das Vertrauen von Abu Osama, einem der Gründer der Al-Nusra. Derki konnte ihn und seine Familie mit der Kamera begleiten. Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats gibt nie zuvor gesehene Einblicke in die Innenwelt der Salafisten – zutiefst erschreckend und bizarr.
Zwölf Kinder von mehreren Frauen hat Abu Osama zum Zeitpunkt der Aufnahmen. Zu sehen bekommt man nur seine Söhne, die alle nach Helden des islamistischen Terrors benannt wurden. Einer von ihnen wurde am Jahrestag des Anschlags auf das World-Trade-Center geboren. Er habe dafür gebetet, sagt Abu Osama, dass das Kind an diesem Tag zur Welt komme. Und Gott habe ihn erhört. Eines von vielen bizarren Zeichen, die der Gotteskrieger als Bestätigung seines Glaubens betrachtet.
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Koran statt Mathematik
Abu Osama ist, wenn er nicht als Heckenschütze auf Feinde anlegt, unterwegs, um Minen zu entschärfen. Doch das geht einmal schief, und er verliert dabei seinen linken Fuß. Auch darin sieht er einen Gottesbeweis. Denn er hatte gebetet, dass es nicht der rechte sein werde.
Doch im Fokus von Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats stehen die ältesten Söhne, Osama (13) und Ayman (12). Der Vater hat seine Söhne von der Schule genommen. Denn es geht in dieser Gemeinschaft nicht um Wissen, es geht um Glauben. So versuchen sich die Kinder im Bett an Mathematik. “Wieviel sind vier Äpfel geteilt durch zehn” will Osama wissen. Schließlich gibt er die Antwort kraft seiner Autorität als Ältester: “Fünf”. Dem wird nicht widersprochen.
Osama und Ayman kommen schließlich in ein Trainingslager der Miliz. Mit Tarnanzügen und Skimützen so uniformiert wie unkenntlich gemacht springen sie durch brennende Reifen, klettern an Hauswänden hoch und kriechen unter Natodraht hindurch. Kämpfer schießen mit scharfer Munition knapp an ihren Köpfen und Füßen vorbei. So nimmt man auch Hunden die Angst vor Schüssen. Osama kann am Ende im Trainingslager bleiben. Seine Zukunft als Gotteskrieger scheint festzustehen. Von seiner anfänglich rebellischen Ader ist nichts geblieben. Er folgt nun dem Pfad des Todes, wie es Derki in seinem Kommentar nennt.
Ein vergeblicher Versuch, die Zeit anzuhalten
Der Film beginnt mit einer Gruppe fußballspielender Kinder vor der Kulisse einer Siedlung, in der Spuren von Zerstörung sichtbar sind. Die Szene zeigt das Spiel in Zeitlupe, als sollte der Moment festgehalten werden. Doch die Zeit lässt sich nicht anhalten. Ein harter Schnitt, und wir sehen einen bewaffneten Mann an einem Checkpoint mitten auf einer stark befahrenen Straße. Wir befinden uns im Reich der Salafisten, dem Kalifat im Norden Syriens.
Es ist ein reines Männerreich, das uns Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats präsentiert. Frauen tauchen in dem Film nicht auf. Nur am Rande hört man sie einmal über die schwere Verletzung des Patriarchen jammern. Der sie verflucht und droht, dass Haus über ihnen einzureißen, wenn sie nicht still wären. Auch die Jungen vergnügen sich damit, Mädchengruppen auf der Straße mit Steinen zu verscheuchen.
Es wirkt zutiefst irritierend, wenn Abu Osama von der Liebe erzählt, als die Kraft, die ihn antreibt. Sie sei so groß, dass der ganze Planet nicht Erde, sondern Planet Liebe heißen müsste. Zumindest dann, wenn der Islam, so wie er ihn versteht, jeden Winkel dieser Welt beherrschen sollte. Was für ihn nur eine Frage der Zeit ist. Man sieht ihn beim liebevollen Spiel, beim zärtlichen Kuscheln mit seinen Söhnen. Und dem Kleinsten flüstert er zum Sprechenlernen nicht etwa “Mama” oder “Papa” vor, sondern Verse des Korans. Auch dies liebevoll.
Vom Schlachten der Söhne
Im Kontrast dazu steht die Kaltherzigkeit, mit der er als Heckenschütze auf einen Feind feuert. Der nur entkommen kann, da Osamas Gewehr klemmt, und die Ersatzbüchse nicht rechtzeitig zur Hand ist. Und auch die Kaltschnäuzigkeit, mit der Männer brutale Scherze austauschen. Die drehen sich auch mal um das Erschießen einer Zweijährigen, die sich ohne Kopftuch auf die Straße traut. Und wenn die erwachsenen Männer den Heranwachsenden neckisch mit dem Häuten oder dem Auspeitschen mit Stromkabeln drohen, ahnt man, dass diese Handlungen ihnen nur allzu vertraut sind.
“Hätte Gott Abraham nicht erlaubt, statt seines Sohnes einen Hammel zu schlachten, müssten wir unsere eigenen Söhne schlachten”, sagt Abu Osama. Und man spürt, dass er auch damit nicht zögern würde. “Für jedes getötete Kind sollen tausend geboren werden”, ist einer der Wahlsprüche der Salafisten.
Es ist diese allgegenwärtige Verrohung, die einen erschrecken lässt. Die Talal Derki in nüchternen Bildern, meist mit der Handkamera im Stil des Direct Cinema, einfängt. Die musikalische Untermalung ist sparsam. Dennoch verstärken sphärische Klänge die emotionale Wucht der Bilder an den richtigen Stellen, wenn etwa die Kinder in einem ausgebrannten Panzer spielen. Doch nutzt auch Abu Osama die Kamera sehr bewusst zur Selbstdarstellung. Der Umgang mit Medien ist den Dschihadisten, wie man weiß, gut vertraut. Aber im Kontext der authentischen Bilder wirken diese Statements entlarvend.
Das Schlachten des Vogels
Die Söhne eifern ihren Vätern nach. Ihre kindlichen Raufereien sind von erschreckender Brutalität. Sie basteln sich kleine Bomben aus Zitronensäure und bunter Erde, die in die Luft gehen, wenn sie drauf springen. Als die Kinder einen Vogel fangen, streicheln sie ihn zunächst. Dann bringt ihn einer der Kleinen um. “Ich habe ihn geschlachtet”, brüstet sich der Junge gegenüber dem Vater. “Ich habe ihm den Kopf abgeschnitten, genauso wie du es bei dem Mann gemacht hast.” Und der Tod sei für den Vogel allemal besser, als gefangen zu sein, meint Abu Osama.
Im Ausbildungslager der Terroristen erscheint Ayman, anders als Osama, als nicht tauglich. Er kehrt nach Hause zurück und darf sogar wieder die Schule besuchen. Hier keimt das einzige Mal im Film so etwas wie Hoffnung auf. Denn in der Schule wird Mathematik gelehrt – und in der Klasse sitzen auch Mädchen.
Dennoch endet Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats pessimistisch. “Der Krieg wird noch lange dauern”, lässt Derki den Kommentator aus dem Off sagen. Ein Satz aus dem Standarrepertoire der Dschihadisten. Der Krieg werde so lange dauern, bis die Ideologie des Dschihad bei den Menschen angekommen sei.
Unser Fazit
Talal Derkis Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats ist ein einzigartig mutiger und erschreckender Film. Er bietet einen intensiven und entlarvenden Blick auf die Funktionszusammenhänge islamistischer Familien. Dadurch wirkt er ähnlich erschütternd wie etwa The Act of Killing über die Massenmörder in Indonesien. Man mag die analytische Ebene vermissen. Derki erklärt nicht, woher der Hass kommt, stellt ihn auch nicht in historische Zusammenhänge. Er beschreibt. Er zeigt in authentischen Bildern, wie Hass und Rohheit von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und das geschieht auf diese oder ähnliche Weise nicht nur in islamistischen Familien. Das ist mitunter schwer auszuhalten. Wer aber wissen will, wie diese Mechanismen funktionieren, sollte sich den Film anschauen.
Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats erscheint am 24. September 2019 auf DVD!
Auszeichnungen
Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats erhielt weltweit mehr als 30 Auszeichnungen. Auf dem Sundance Filmfestival 2018 gewann er den World Cinema Documentary Grand Jury Prize. Er erhielt den Deutschen Filmpreis 2019 in der Kategorie Dokumentarfilm und beim 36. Filmfest München den Fritz-Gerlich-Preis. Er war 2018 für den Europäischen Filmpreis und 2019 für den Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert.
Unsere Wertung:
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