Matsumotos Klassiker des Queer-Cinemas, Funeral Parade of Roses, erscheint nach knapp 50 Jahren und einer aufwendigen Restauration erstmals mit deutschen Untertiteln auf DVD. Ob der Film auch heute noch einen Blick wert ist, erfahrt ihr hier.
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Titel | Pfahl in meinem Fleisch |
Jahr | 1969 |
Land | Japan |
Regie | Toshio Matsumoto |
Genres | Drama |
Darsteller | Shinnosuke Ikehata, Osamu Ogasawara, Yoshio Tsuchiya, Emiko Azuma, Koichi Nakamura, Masato Hara, Toyosaburo Uchiyama, Nagaharu Yodogawa, 篠田正浩, Yoshihiro Katô |
Länge | 105 Minuten |
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Ein Nachtclub in Tokio
Die Dragqueens Eddie und Leda sind Teil eines Nachtclubs in Tokio. Die beiden konkurrieren um die Gunst des Drogenhändlers und Besitzers des Cubs, Gonda. Eddie und die anderen „Gay Boys“ vertreiben sich entweder in Clubs oder auf privaten Partys die Zeit, Prostitution und Drogenhandel gehören dabei stets dazu. Als sich Gonda für Eddie entscheidet und dieser mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird, eskaliert die Situation.
Die wilden 60er
Der Film wirft den Zuschauer mitten in die Transvestiten-Szene der japanischen 60er-Jahre. So verfolgen wir das Treiben der Subkultur der „Gay Boys“ im Nachtclub auf und neben der Arbeit. In diesem Etablissement leben die Dragqueens tagsüber unter der Fittiche von Madame Leda und Clubbesitzer Gonda, abends ist es gefüllt mit Musik, Tanz, Auftritten, (Drogen-)Handel und Prostitution.
In der Freizeit verkehrt Eddie mit jungen Filmleuten, die schwer verständliche Avantgardefilme drehen und dabei Drogen konsumieren. Hier bewegt sich Matsumoto an vielen Stellen zwischen Selbstparodie und Metaebene. Diese privaten Partys wirken letztlich genauso wie der Alltag im Club: Drogen, Musik, Tanz und Nacktheit. Wenn zu viele Leute für einen winzigen Raum ohne Fenster zu Musik tanzen und in einem nackten Haufen auf dem Boden enden, schreit das nach Hippiebewegung. Ein in einer langen Szene in einer großen Gruppe herum gereichter Joint wird einerseits zum identitätsstiftenden und verbindenden Medium und andererseits zugleich zum Ausdruck der Befreieung und Rebellion; Masken und Kostüme dienen der Transformation.
Eddie, die junge Dragqueen mit Engelsgesicht und Stupsnäschen, wird dabei von Pîtâ dargestellt, der zum damaligen Zeitpunkt in einer ähnlichen Gay-Bar entdeckt wurde und einige Jahre später sogar in Kurosawas Spätwerk Ran mitwirken durfte. Abseits der wuchtigen, wilden Inszenierung ist Eddie der große Träger des Films. Hier ist mit Pîtâ ein Glücksgriff gelungen. Wohl auch dank der Nähe zur Figur und einem ähnlichem Habitus – so ist Pîtâ darauf selbst zu einer bekannten Dragqueen avanciert – verleiht er ihr dank grandioser Mimik zugleich eine faszinierende Schönheit, aber auch ungemeine Tragik, die gegen Ende Maße einer griechischen Tragödie annimmt.
Wildes Kino ohne Grenzen
Funeral Parade of Roses, auch bekannt als Pfahl in meinem Fleisch, ist ein außergewöhnlicher Film. Dies wird bereits in der ersten Sequenz deutlich. In Close-Ups zeigt uns die Kamera in s/w-Bildern in sehr heller Beleuchtung vor weißem Hintergrund eine Sexszene. Die Körper verschwimmen dabei genauso miteinander wie mit dem Hintergrund. Während sich zunächst vermuten lässt, dass es sich hierbei um Mann und Frau handelt, wird erst ein paar Momente später klar, dass es sich bei Eddie um einen Mann handelt. Bereits in der Einleitung gelingt es Matsumoto, den Zuschauer zu täuschen, zu konfrontieren sowie Geschlechterdefinitionen und -bilder zu dekonstruieren. Dies zieht sich auch durch den ganzen Film.
Der Streifen ist aber nicht „nur“ Queer-Kino, sondern beeinflusste auch zugleich Filmemacher über Japans New Wave hinaus, etwa einen Stanley Kubrick bei seiner Arbeit an seinem zwei Jahre darauf erschienenen Uhrwerk Orange. Funeral Parade of Roses selbst atmet dabei den Geist eines Jean-Luc Godards oder Luis Buñuels, entwickelt jedoch seine ganz eigene Art. Jonas Mekas, der als ein Vorreiter des amerikanischen Avantgardekinos gilt, wird in der Mitte des Films zitiert: „Es gibt keine absoluten Definitionen des Kinos mehr. Alle Tore stehen offen.“ Und das lebt der Film in jeder Sekunde vor.
Eine rauschhafte Inszenierung
Trotz der übersichtlichen Figurenkonstellation wird es teilweise schwer fallen, der Handlung ohne Weiteres zu folgen. Denn neben einer nicht linearen Erzählstruktur und wenig kenntlich gemachten Zeitsprüngen werden konventionelle Sehgewohnheiten immer wieder nahezu gesprengt. „Alle Tore stehen offen“ – Matsumoto präsentiert hier gefühlt das gesamte Repertoire des damalig Denkbaren.
Mal hält eine starre Kamera ohne Schnitte den Zuschauer unbeteiligt aus dem Geschehen, mal umkurvt sie extrem nah wie eine weitere Figur die Szenerie und in der nächsten Szene entsteht durch sehr ungewöhnliche Schnitte und Blinkwinkel gar etwas Alptraumhaftes, Wahnhaftes bei gewöhnlichen Handlungen. Durch unterschiedlich lange Dauer aufeinanderfolgender Szenen entsteht oftmals ein irritierender Kontrast, gerade ob des divergierenden inhaltlichen Gehalts. So sehen wir etwa einen extrem kurz eingeblendeten Dialog und direkt im Anschluss sekundenlang gezeigtes Gelächter. Partiell setzt abrupt ein Zeitraffer zu schriller Musik ein, sodass man sich in Filme aus allerfrühester Zeit zurückversetzt fühlt, nur damit die Szene mit einem sekundenlang in Zeitlupe gezeigten Fall einer Vase endet.
Der Kontrast dieser zahlreichen, teilweise fast gewaltsam aufeinander gepresst wirkenden, inszenatorischen Kniffe brechen nicht nur Sehgewohnheiten und Blickstrukturen, sondern lassen sich freilich auch auf die gesellschaftlichen Strukturen übertragen, wenn die Subkultur der lebensfrohen Dragqueens gesellschaftliche Normen und Geschlechterbilder aufbrechen.
Unser Fazit zu Funeral Parade of Roses
Matsumotos Machwerk ist zugleich purer Zeitgeist und abstraktes Avantgarde, inhaltlich und inszenatorisch eine Rebellion gegen Normen und Blickstrukturen. Die Handlung geht bei der audio-visuellen Wucht der Bilder und der außergewöhnlichen Regie manchmal fast ein wenig unter, bietet jedoch einen fesselnden Einblick in eine Welt, bei der Schönheit und Tragik nahe beieinander liegen. Funeral Parade of Roses hat bis heute nichts von seiner Faszination und Lebendigkeit eingebüßt und ist für jeden Avantgarde-Freund einen Blick wert, der sich zugleich irritieren und verzaubern lassen möchte.
Dabei ist nicht immer alles verständlich, doch man hat stets das Gefühl, es ist genau so, wie es sein soll: Wild und außergewöhnlich.
Funeral Parade of Roses ist nun, nach seiner Restauration, seit dem 12. April als Selected DVD Edition von RAPID EYE MOVIES erhältlich und startet ab dem 18. Oktober in deutschen Kinos.
Unsere Wertung:
© Rapid Eye Pictures