Mit Possum verfilmt Regisseur Matthew Holness seine gleichnamige Kurzgeschichte als beängstigendes Psychogramm einer gequälten Seele.
Titel | Possum |
Jahr | 2018 |
Land | United Kingdom |
Regie | Matthew Holness |
Genres | Drama, Horror, Thriller |
Darsteller | Sean Harris, Alun Armstrong, Andy Blithe, Ryan Enever, Charlie Eales, Joe Gallucci, Rohan Gotobed, Raphel Famotibe, Simon Bubb, Katie Lightfoot, Elliot Booty, Abraham Graham, Ryan Davenport, Susie Fowler-Watt, Freya Cannon, Andreas Christoph, Pamela Cook, Rachel Kirby, Keith Moroni, Daniel Eghan, Stuart Dean, Andrea Gold, James Stickley, Callum Prosser, Evie Oliver, Harvey Bellamy, Harrison Tompkins |
Länge | 85 Minuten |
Wer streamt? | Derzeit leider auf keinem Streamingdienst verfügbar. |
Die Handlung von Possum
Philip (Sean Harris), ein Puppenspieler, kehrt in das Haus seiner Kindheit zu Onkel Maurice (Alun Armstrong) zurück. Immer dabei: eine Ledertasche. In dieser transportiert Philip eine obskure Puppe, mit welcher er auf absonderliche Weise verbunden zu sein scheint…
Possum gehört nicht zu der Kategorie Film, die man mittels ködernder Handlung schmackhaft machen könnte. Ganz im Gegenteil, Possum verzichtet beinahe auf all jene Aspekte, die den potentiellen Zuschauer in die Materie ziehen. Er bietet keine deutliche Identifikationsfigur, die Musik gibt sich permanent bedrohlich, die Bildsprache fällt überaus trostlos aus und die dadurch vermittelte Stimmung stellt sich alles andere als erbaulich dar.
Genau diese deprimierende Atmosphäre kennzeichnet den Film. Vielmehr ist Possum eine Visualisierung bestimmter Gefühle und Zustände: Angst. Unsicherheit. Müdigkeit. Depression. Paranoia.
Possum gelingt es mühelos, diese Palette verzehrender Gefühle eindringlich zu verdeutlichen. Darin liegt paradoxerweise gleichwohl Stärke und Schwäche des Werkes. Gefühle sind stets von subjektiver und individueller Natur. Des einen Freud ist des anderen Leid. Während ein Rezipient sich völlig der düsteren Tristesse ausgeliefert sieht, zuckt der nächste unbeeindruckt mit den Schultern.
Possum besitzt natürlich eine Rahmenhandlung, doch ihn anhand dieser zu bemessen, fällt schwer. Die narrative Ebene steht schlichtweg nicht im Vordergrund. Stattdessen ist es die Interpretation, die (Vor)Ahnung auf Geschehenes und Anstehendes, die den Reiz ausmacht. Kurzum: die Handlung ist nur ein Grundgerüst, ein Skelett. Das Fleisch auf den Knochen geben die durchdringenden Empfindungen auf den unausweichlichen Schrecken, der hinter all dieser Düsternis lauert.
Die Interpretation – Spoiler alert!
Was genau diese Finsternis ist, darüber bleibt der Zuschauer lange Zeit im Unklaren. Zwar wird sehr schnell deutlich, dass Philips Schicksal mit seiner furchteinflößenden Puppe verwoben ist, doch wie genau lässt sich lange nur erahnen.
Der Film beginnt mit Philips Reise in seine Heimat in irgendeine heruntergekommene Provinz Englands. Auf seinem Weg versucht er auf unbeholfene Weise, Kontakt zu einem Schüler aufzunehmen. Dieser lässt Philip sichtlich irritiert stehen und geht seines Weges. Kurze Zeit später taucht das Antlitz eben jenen Schülers im Zusammenhang mit einem Verbrechen bei den örtlichen Nachrichtensendungen auf.
Das Publikum stellt hier erste Vermutungen an, ob Philip etwas mit dem Geschehen zu tun hat, zumal er sein Engagement als Puppenspieler für Kinder aus nicht näher beleuchteten Gründen verlor. Der Verdacht drängt sich auf, Philip hätte seine Anstellung aufgrund ähnlicher Vorfälle verloren. Schnell wird außerdem deutlich, dass Philip die Puppe aus seinem Leben entfernen möchte. Er wirft sie weg, verbrennt sie, zerstört sie – aber auf unerklärliche Weise kehrt sie immer wieder zu ihm zurück.
Im Laufe des Films fällt Philip den Anwohnern außerdem zusehends durch sonderbares Verhalten auf. Immer mehr wird man von der Idee eingenommen, Philip sei der Täter und die Puppe symbolisiere die Last seiner Schuld, die ihn seit seiner Tat verfolgt und sich nicht abschütteln lässt.
Possum gelingt es trefflich, das Publikum lange Zeit auf dieser Fährte durch den Film zu führen. Erst in den letzten Minuten offenbart sich der Twist, der zumindest mich eiskalt erwischt hat und mit einem satten Schockmoment eingeleitet wird. Wenn Maurice Philip überwältigt und seine Hände mitsamt langgliedriger Finger pervers tastend über Philips Gesicht fummeln lässt, wird urplötzlich die Tragweite des Geschehens deutlich: Philip wurde als Kind von seinem Onkel missbraucht. Dessen unnachgiebige Finger verfolgen ihn seitdem in Form der dürren Spinnenbeine der Puppe.
Die Puppe
Von Beginn an strahlt die Puppe, ja selbst die Tasche, in welcher sie transportiert wird, eine unheimlich bedrückende Atmosphäre aus. Anfangs werden dem Publikum nur kurze, zaghafte Blicke auf das Tascheninnerste gewährt, aber bereits dann wird mehr als deutlich, dass der innewohnende Schrecken lieber verborgen bleiben sollte.
Wenn sich die Puppe dann erstmals in ihrer schrecklichen Gesamtheit offenbart, überträgt sich Philips offensichtliche Abneigung, gar Furcht vor seinem Begleiter unvermittelt auf den Zuschauer. Ein groteskes Knäuel aus Spinnenbeinen, die einerseits schlaff und leblos wirken, andererseits jedoch eine unterschwellige Lebendigkeit ausstrahlen. Überdimensionale, borstige Glieder rahmen einen Kopf ein, der Philip erstaunlich ähnlich sieht, aber nur stumm und anklagend aus leeren Augenhöhlen starrt. Doch nicht nur Philips Antlitz lässt sich in seiner Puppe erkennen. Auch Maurice interagiert gelegentlich mit einer Puppe, die verblüffende Ähnlichkeiten zu ihm aufweist.
Hier setzt der Ursprung zum Film an, eine Kurzgeschichte Holness’ aus der Anthologie The New Uncanny: Tales of Unease. Diese Sammlung wiederum bezieht sich auf Freuds Essay Das Unheimliche, in welchem er unter anderem vertrautes Unvertrautes als Quelle der Angst definiert. Diese Abstraktion findet sich den “puppigen” Alter Egos der beiden Protagonisten wieder.
Psychoanalyse oder Philosophie außer Acht gelassen, werden Arachnophobiker und Automatonophobiker hier definitiv auf eine harte Probe gestellt.
Die Darsteller in Possum
Sean Harris als verstörter Puppenspieler und Alun Armstrong als gestörter Onkel tragen das Drama auf ihren schmalen, ausgemergelten Schultern mühelos. Insbesondere Harris’ Leistung kann nur als grausam genial bezeichnet werden. Der ausweichende Blick, die flüsternde, brüchige Stimme, die verdrehte Haltung seiner Arme und Hände – einfach der gesamte Habitus – trägt sein erlittenes Trauma unübersehbar nach außen.
Harris weckt mit dieser außergewöhnlich körperlichen Performance Assoziationen an Joe Spinells Darstellung des Frank Zito in William Lustigs Maniac. Hier wie da bringen beide Darsteller die gequälten Seelen der von ihnen verkörperten Protagonisten auf fast schmerzhaft anzusehende Art zum Ausdruck. Bedauerlicherweise habe ich Sean Harris erst mit Possum für mich entdeckt, obwohl sich einige Filme mit ihm als (Neben)Darsteller im heimischen Regal finden. Zu erwähnen wäre an dieser Stelle beispielsweise seine Darstellung eines Furcht erregenden Dealers/Waffenschiebers/Zuhälters in Harry Brown.
Ebenso wenig hatte ich bis dato Alun Armstrong nicht auf dem Schirm, obwohl mir sein Gesicht als High Constable aus Sleepy Hollow durchaus bekannt war. Auch wenn sein Spiel ungleich subtiler und mimischer ausfällt als jenes von Harris, so nehmen sich beide Leistungen im Film nichts.
Nicht außer Acht gelassen werden sollte ebenso wenig der Soundtrack. Ursprünglich hatte sich Regisseur Holness nur an Archivmaterial des BBC Radiophonic Workshop zur Untermalung seines Filmes bedient. Kurzerhand erklärten sich die Mitglieder des Workshops bereit, einen kompletten Soundtrack aufzunehmen und beizusteuern. Was dabei herauskam, potenziert die kalte, unwirtliche Atmosphäre nur noch. Selbst wenn man den Soundtrack losgelöst vom Film erlebt oder diesen hört, ohne Kenntnis vom Film zu haben: er ist ungeheuerlich. Ungeheuerlich intensiv und beunruhigend. Definitiv keine musikalische Begleitung, um ein Kind zum Einschlafen zu bewegen.
Fazit
Ich möchte mir nicht im Geringsten anmaßen, zu urteilen, ob Possum eine authentische Darstellung von Traumata gelingt. Es ist jedoch völlig unstrittig, dass es dem Psychodrama gelingt, die damit einhergehenden Gefühle auf nachvollziehbare Weise zu visualisieren. Die auslaugende Flucht vor den Erinnerungen. Die Versuche, das Erlebte von sich zu stoßen. Die stete Wiederkehr der emotionalen Bürde.
Regisseur Holness hat es fertig gebracht, das gehetzte Innere traumatisierter Personen in dunklen Bildern nachzuzeichnen. Damit ist ihm ein zutiefst deprimierender, aber auch berührender Film gelungen. Der Horror kommt auf leisen Sohlen und entsteht merklich durch die Interpretation des Zuschauers, weniger durch Philips wiederkehrende Handlungen. Dabei hat Holness es sich jedoch nicht nehmen lassen, seinen durch und durch stillen, langsamen Film mit beeindruckenden Bildern zu unterfüttern. Die Ansicht der Tasche auf dem Waldboden, aus der die dicken Äste eines Baumes herauswachsen zu scheinen, wird sich nicht so schnell abschütteln lassen.
Das konsequente Finale entlässt das Publikum ohne jegliche Katharsis, während das zuvor Durchgestandene noch lange nachhallt. Mich jedenfalls hat Possum noch Tage nach der Sichtung beschäftigt. Wem es gleich ergeht: dieses Interview mit dem Regisseur sei euch ans Herz gelegt. Ebenfalls empfehlenswert: eine Analyse des YouTubers Ryan Hollinger. Aktuell ist das Werk leider nur als britischer Import verfügbar.
Can you spy him deep within? Little Possum, black as sin. Bag is open, growing wider. What’s inside it, man or spider? Little boy, don’t lose your way. Possum wants to come and play.
Unsere Wertung:
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