Mit Siberia begibt sich Willem Dafoe als Alter Ego seines Regisseurs Abel Ferrara auf eine symbolische Reise durchs eisige Sibirien und die eigene Gedankenwelt. Ob das nun faszinierend, erleuchtend oder vielleicht einfach nur verwirrend ist, erfahrt ihr hier!
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Titel | Siberia |
Jahr | 2020 |
Land | Germany |
Regie | Abel Ferrara |
Genres | Drama, Fantasy, Horror |
Darsteller | Willem Dafoe, Dounia Sichov, Simon McBurney, Cristina Chiriac, Daniel Giménez Cacho, Anna Ferrara, Phil Neilson, Stella Pecollo, Valentina Rozumenko, Ulrike Willenbacher, Laurentio Arnatsiaq, Fabio Pagano, Trish Osmond, Marc Pistono |
Länge | 92 Minuten |
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Siberia – Handlung
Clint (Willem Dafoe) führt in selbst gewählter Isolation in der Abgeschiedenheit Sibiriens ein kleines Wirtshaus. Doch die Vision eines Kampfes mit einem Bären rüttelt ihn aus seiner Lethargie. Er spannt seine Hunde vor den Schlitten und begibt sich auf eine Reise durch die Wildnis, um sich selbst und seinen Dämonen gegenüberzutreten…
Der Zuschauer steht alleine da…
Siberia ist ein nur schwer zu fassender Film. Er besitzt keine fortlaufende Handlung, keinen feststehenden Ort und keine definierte Zeitlinie. Ausgehend von Clints Aufbruch zur Reise in sich selbst, spiegelt er dessen Gedankenwelt wieder. Er nutzt dazu nicht die zumeist angewandte Technik von Rückblenden, nicht mal eine allegorische Erzählung, sondern setzt sich aus Fragmenten in Clints Erinnerungen zusammen. Diese präsentieren sich dabei nicht als roter Faden, als vorsortiert und in Zusammenhang gesetzte Aufbereitung filmischer Natur, sondern quasi ungefiltert und chaotisch, genau in der Art, wie sie sich in dem Kopf des Erimiten festgesetzt haben. Wir sehen wichtige Stationen im Leben des gezeichneten Mannes, die wir nicht zeitlich oder kausal, sondern nur aufgrund der Art und Weise, wie sie sich manifestieren, ihrem Stellenwert für Clint zuordnen können.
Wir werden Zeugen prägender Ereignisse, die oftmals sehr eindrücklich von Ferrara auf die Leinwand geworfen werden. Auf seinem Weg lässt der ruhelose Geist dieser Figur Geschehnisse Revue passieren, die mal mehr, mal weniger klar zu deuten sind. Siberia lässt aufrüttelnden Bildern von Gewalt und Tod, augescheinlich ein Kriegsverbrechen, den ruhigen Anblick von Clints schwangerer Frau folgen. Wir springen von Zwiegesprächen mit sich selbst zu Collagen vergangener Liebschaften und auch mal plötzlich aus der Tundra Sibiriens in die Wüste Arabiens, um den Tod des Vaters mitzuerleben. Das entbehrt jeglicher Kohärenz und Kontinuität, was zeitweise verwirrend sein mag. Doch dem Regisseur ging es wohl eher darum, intuitiv das Gefühlsleben seines Alter Ego nach der Intensität der Erinnerungen aufzuschlüsseln, nicht nach seiner stringenten Entwicklung entlang einer Zeitachse.
… und dieser Film ist nur Teil seiner Reise
Dieser fehlende Fokus beziehungsweise bewusst diffuse Ansatz dürfte es den meisten Zuschauern eher schwer bis unmöglich machen, den Gedankengängen des Protagonisten zu folgen. Es erfordert einiges an Aufmerksamkeit, Verbindungen zwischen diesen mehr Bruchstücken denn Puzzleteilen aus Gedanken herzustellen. Zumal es nicht immer eine zu geben scheint, jedenfalls nicht im Film selbst. Denn bei Siberia handelt es sich um den filmischen Gefährten zu Ferraras vorangegangenen Tommaso und der Tanz der Geister. Dessen Protagonist, ein italienischer Regisseur in einer Sinnkrise, beginnt dort die Arbeiten an eben diesen Film.
Wenn man es irgendwie auf einen verständlichen Nenner herunterbringen möchte, verhält es sich ungefähr so – während Tommaso als Alter Ego des Regisseurs seinen konkreten Umgang in sozialer und gesellschaftlicher Weise beschreibt, also die Außenwirkung seiner Handlungen reflektiert, taucht Clint in Siberia in sich selbst hinein, bildet die Erinnerungen und Gedanken ab, die sich dort manifestiert haben. Und selbst diese Aufschlüsselung ist nur eine Annäherung an das, was Ferrara damit darstellen und aussagen möchte.
Jedoch findet sich nicht zu längst allen Stationen in Siberia in Tommaso und der Tanz der Geister ein Gegenstück. Wahrscheinlich wird man, selbst ausführlicher Kenntnis von Ferraras Werk und Biografie, nicht jedes Einzelteil zuordnen können, da der Film dafür einfach zu eigen, zu persönlich und intim erscheint. Allerdings sollte damit schon klar sein, dass der sich nicht an den durchschnittlichen Filmfan richtet, sondern nur an Leute, die mit dem Werk des Regisseurs zumindest einigermaßen vertraut sind. Andernfalls könnten die eindringlich geschilderten Ideale von Männlichkeit und der Hang zur Gewalt schon sehr verstörend wirken, wie sie hier ohne Kontext dargeboten werden. Denn der Macher trifft hier schließlich keine allgemeine Aussage, sondern bildet den inneren Kampf eines Mannes mit den Entscheidungen und den Ereignissen, die sein Leben bestimmen und bestimmten, ab.
Der Regisseur und sein Star
Abel Ferrara begann seine Karriere als Enfant terrible der New Yorker Underground-Filmszene, erarbeitete sich bereits mit seinen Frühwerken Driller Killer und Die Frau mit der 45er Magnum einen Ruf als eigensinniger, aber ausdrucksstarker Filmemacher. Letzteres lässt sich auch noch heute über ihn sagen, auch wenn er sein Metier seit spätestens Anfang der 2000er gewechselt hat. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zog er von New York nach Europa. Doch seine Heimatstadt spielt oftmals auch eine wichtige Rolle in seinen Filmen, und auch in Siberia gibt es einen kurzen, nicht unwichtigen, Ausflug in eben diese Vergangenheit.
Generell hat sich der Filmemacher seitdem dem Arthouse-Kino zugewandt, weswegen er nicht mehr gänzlich von der Vermarktbarkeit seiner Filme abhängig ist, die sich vermehrt aus den Töpfen verschiedener Filmförderungsanstalten finanzieren. Die exploitative Ausschlachtung pikanter Themen ist nun passé, auch wenn seine Werke nichts von ihrer Direktheit eingebüßt haben. Zwar dürfte das Budget dieses Films mehr als überschaubar gewesen sein, dennoch schaffte der Regisseur es, in Südtirol einige beeindruckende Landschaftsaufnahmen zu arrangieren, die erfolgreich das unwirtliche Sibirien doubeln.
Willem Dafoe ist derzeit Ferraras bevorzugter Star, er arbeitete seit New Rose Hotel von 1998 sechsmal mit dem Charakterdarsteller zusammen. Der inzwischen 65-Jährige gilt als Spezialist für schwierige, auch gerne manische Charaktere. Er wurde bisher viermal für den Oscar nominiert und 2018 in Berlin mit dem Goldenen Bären für sein Lebenswerk ausgezeichnet. In den letzten beiden Filmen Ferraras fungiert er als Abbild des Regisseurs auf der Leinwand und legt auch hier, wie eigentlich immer, eine überzeugende Performance hin.
Unser Fazit zu Siberia
Was kommt am Ende dabei rum? Kann man Siberia weiterempfehlen? Dem normalen Filmfan, der im schlimmsten Falle noch nie etwas von Ferrara gehört hat, sicherlich nicht. Für Fans, die Abel Ferrara dafür lieben, was er ist, nämlich egozentrisch, streitbar und unbequem, dem bietet der Film ein reichhaltiges Büffet. Allerdings sollte man sich gewahr sein, dass es sich hierbei aber auch nur um eine Auswahl von Möglichkeiten handelt. Einen unverstellten Blick auf seine Person gibt Ferrara auch hier nicht preis. Und wie auch? Dafür steht er sich, wie immer, selbst im Weg, was ihm aber nur allzu bewusst ist.
So ist es sehr schwer, ein Urteil über den Film zu fällen, das ihm, aber auch seinem Verhältnis zum Publikum als kommerzielles Produkt, wirklich gerecht wird. Wer wagt, gewinnt. Jedenfalls an Erkenntnis, und ob die lohnt, wird sich für viele vielleicht erst im Nachgang erschließen. Zumindest eine Sichtung des leichter bekömmlichen Tommaso und der Tanz der Geister ist zuvor unbedingt anzuraten.
Siberia ist von EuroVideo am 19. November 2020 im Handel erschienen und auch als VoD erhältlich!
Unsere Wertung:
© EuroVideo