Marcell Jankovics erzählt in seinem experimentellen Animationsfilm vom titelgebenden Sohn der weißen Stute, der sich in die Unterwelt begibt, um drei Prinzessinnen vor drei Ungetümen zu retten. Wie sich das ungarische Märchen knapp 40 Jahre nach Erscheinen nun in restaurierter Fassung schlägt, erfahrt ihr hier.
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Titel | Sohn der weißen Stute |
Jahr | 1981 |
Land | Hungary |
Regie | Marcell Jankovics |
Genres | Abenteuer, Animation, Fantasy |
Darsteller | György Cserhalmi, Pap Vera, Gyula Szabó, Mari Szemes, Ferenc Szalma, Szabolcs Toth |
Länge | 86 Minuten |
Wer streamt? | Derzeit leider auf keinem Streamingdienst verfügbar. |
Sohn der weißen Stute – Der Baumausreißer
Der Sohn der weißen Stute wird von seiner Mutter in einem Baum aufgezogen und bis ins Erwachsenenalter von ihr gestillt. Durch die Muttermilch erlangt er eine erstaunliche Stärke, sodass er bald als Baumausreißer bekannt ist. Sein Ziel ist es, die drei Drachen der Unterwelt zu bekämpfen und die gefangenen Prinzessinnen zu befreien. Auf dem Weg trifft er seine zwei Brüder, Steinbröckler und Eisenkneter, die ihm nach der Demonstration seiner Stärke die Treue schwören und sich seinem Vorhaben anschließen.
Ein furioser Beginn
In Erinnerung an die Skythen, Hunnen, Awaren und andere nomadische Völker
Mit dieser Texttafel und treibender, manischer Musik wird der Zuschauer begrüßt, ehe in der ersten filmischen Einstellung die weiße Stute völlig entkräftet durch einen dichten Wald flieht, verfolgt von einem dunklen Monster. Es wird schnell klar: Dieser Film wird kein Zuckerschlecken. Rund 15 Minuten lang erzählt der Film nun in einer absolut furiosen und wilden Einleitung die Vorgeschichte der Stute, die in die Gefangenschaft der Drachen gerät, die die Welt unterjochen und den einstigen König stürzten. Nachdem die weiße Stute zwei Kinder gebar und an die Drachen verlor, gelingt es ihr, mit dem dritten Sohn zu fliehen.
Dabei sollte man sich bewusst sein, dass es sich hierbei nicht um einen herkömmlichen Animationsfilm, sondern um experimentelles Avantgarde handelt. Die Exposition erzählt in der Darstellung durch einfachste Formveränderungen, die in einem Fluss der Bewegung immer wieder neue Schemen bilden. An dieser Stelle erinnert die Machart gar an den Silhouetten-Stummfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926) von Lotte Reiniger, die mit Scherenschnitt-Figuren im Stop-Motion-Verfahren arbeitete.
Baumausreißer, Steinbröckler, Eisenkneter und Prallsack Langbart
Nachdem dem Sohn und dem Publikum von der Mutterstute die Vorgeschichte erzählt wurde, beruhigt sich die Inszenierung etwas und zeigt klarere Animationen. Es bleibt jedoch höchst unkonventionell in der Darstellung und der Zuschauer verliert sich weiterhin in einem einzigartigen Spiel aus Farben, Formen und Tönen. Die Geschichte bildet dabei eher das Grundgerüst. Nachdem sie einander ihre Stärke demonstriert haben, macht sich das Brüder-Trio Baumausreißer, Steinbröckler und Eisenkneter auf den Weg zur Unterwelt.
Die Figuren sind dabei nur höchst rudimentär charakterisiert und agieren oftmals ohne gesprochene Worte. Dabei spart der Film auch nicht an dem einen oder anderen witzigen Moment, wenn Baumausreißer mal wieder das Unvermögen der anderen Brüder ausbaden muss und ihnen anschließend den Hintern versohlt. Auf ihrem Weg treffen die Brüder so auch etwa auf ein Kobold-Wesen namens Prallsack Langbart, der ihnen das Essen wegfuttert.
Apropos Prallsack: Die vereinfachte Darstellung von Figuren, Formen und Erzählung wirkt teilweise fast putzig, wären da nicht Jankovics‘ Bemühungen, das Ganze zu verfremden. So widmet sich der Film in einer erstaunlichen Unmittelbarkeit immer wieder aufgeladenen Symbolen. In nahezu jedem Bild prangen phallische oder ovale Formen. Sei es die ovale Baumöffnung als Zeichen der Fruchtbarkeit, das zwischen den Beinen getragene und gehaltene Phallusschwert als Ausdruck der (männlichen) Kraft und Macht, oder gar ganze Wesen wie ein Greif, der wie ein fliegender Penis mit zwei Beinen aussieht.
Wildes Kino vs. einfache Erzählung
Interessant ist aber auch die Gestaltung der bösen Drachen, die bis zu 12 Köpfe besitzen. Diese sind nämlich nicht, wie man erwarten würde, geflügelte schlangenartige Wesen, sondern unterschiedlich dargestellte Ungetüme wie ein Steinmonster (natürlich auch mit Steinskrotum) oder erinnern an einen Panzer. An diesen Stellen oder anhand des speziellen Humors macht sich für den Zuschauer schon bemerkbar, dass sich der Film einem hierzulande quasi gänzlich unbekannten ungarischen Volksmärchen widmet und, wie schon die Texttafel am Anfang ankündet, andere Narrative und Motive bietet als hiesige Erzählungen. So bleibt dem Zuschauer nicht viel mehr übrig, als sich haltlos diesem psychedelischen LSD-Trip hinzugeben, wie es das Animationskino leider viel zu selten bietet.
Während die absolut wilde Inszenierung wohl über die meisten Zweifel erhaben sein sollte, schwächelt der Film leider ab und an an seinem Märchencharakter. Das Brüdertrio sorgt zwar immer wieder für erheiternde Momente, oftmals wird auf Kosten dessen aber auch die gleiche Szene dreimal hintereinander gezeigt, wenn erst die beiden anderen Brüder versagen und der Baumausreißer schließlich erfolgreich sein darf. Auch die finalen Kämpfe gegen die drei Drachen inklusive der Ankunft an der Burg und der Befreiung der Prinzessin ist letztlich dreimal hintereinander der exakt gleiche Ablauf. Für Langeweile sorgt das freilich nicht, doch man kommt nicht drumherum, mit dem Gedanken zu hadern, dass der Film in noch höhere Kategorien vorstoßen könnte, wenn die Erzählung auch nur halb so abgefahren wäre wie die Inszenierung.
Unser Fazit zu Sohn der weißen Stute
Marcell Jankovics‘ Sohn der weißen Stute ist ein berauschendes Fest an Farben und Formen. Kindliche Darstellungen und Humor vermischen sich mit sexuell aufgeladenen Symbolen und erzählen auf höchst experimentelle Weise die eher konventionelle Geschichte vom Baumausreißer, der in der Unterwelt gegen drei Drachen kämpft. Die Redundanz mancher Szenen schmälert leider teils etwas den anarchischen Geist der Inszenierungswut, es bleibt aber dennoch ein wildes Erlebnis und rares Avantgarde-Animationskino, das allen ans Herz gelegt sei, die etwas mit unkonventionellen Animationsfilmen anzufangen wissen.
Sohn der weißen Stute startet am 13.08.2020 in ausgewählten Kinos und erscheint im Herbst bei Bildstörung auf DVD & Blu-ray.
Unsere Wertung:
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