Der Eröffnungsfilm eines renommierten Festivals muss sich grundsätzlich einer hohen Erwartungshaltung stellen. Schließlich soll das vorgeführte Werk bereits einen Ausblick auf die volle kreative Kraft des Programms bieten. Diese Anforderung, aber auch gleichzeitige Ehre, kam Lone Scherfigs neustem Episodenfilm The Kindness of Strangers auf der diesjährigen Berlinale zu. Ob dieser in seiner Funktion als Festivaleinstieg funktioniert hat und inwiefern der Streifen auch einen Blick außerhalb der Berlinale wert ist, erfahrt ihr im Folgenden.
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Titel | The Kindness of Strangers: Kleine Wunder unter Fremden |
Jahr | 2019 |
Land | United Kingdom |
Regie | Lone Scherfig |
Genres | Drama |
Darsteller | Zoe Kazan, Andrea Riseborough, Tahar Rahim, Caleb Landry Jones, Jay Baruchel, Bill Nighy, David Dencik, Jack Fulton, Will Bowes, Patricia McKenzie, Masa Lizdek, Gugun Deep Singh, Esben Smed, JoAnn Nordstrom, Daniel Kash, Lisa Codrington, Kim Roberts, Rodrigo Fernandez-Stoll, Samantha Wan, Nicolaj Kopernikus, Martin Buch, Finlay Wojtak-Hissong, Catherine Fitch, Kola Krauze, Scott Edgecombe, Scott Anderson, Chris Baker, Miguel Anthony, Sally Shepard, Pat Thornton |
Länge | 115 Minuten |
Wer streamt? | Kaufen: Apple TV, Amazon Video, Google Play Movies, YouTube, Sky Store, Rakuten TV, maxdome Store, Videobuster, MagentaTV, Videoload, Verleihshop Leihen: Apple TV, Amazon Video, Google Play Movies, YouTube, Sky Store, Rakuten TV, maxdome Store, Videobuster, MagentaTV, Videoload, Verleihshop, Freenet meinVOD |
Worum geht es in The Kindness of Strangers?
Clara ist auf der Flucht im winterlichen New York City. Doch sie ist nicht alleine. Ihre jungen Söhne hat sie ebenfalls bei sich. Ohne Geld und ohne Bleibe übernachtet das Trio im Auto oder auf der Straße und ist auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Clara flieht vor ihrem gewalttätigen Ehemann, der Polizist ist, was leider nur bedingt erklärt, weshalb sie sich nicht traut, sich an die Gesetzeshüter zu wenden. Währenddessen engagiert sich die junge Krankenschwester Alice für die sozial Benachteiligten der Gesellschaft und vergisst darüber, dass sie selbst auch noch ein Privatleben hat.
Neben diesen beiden Hauptcharakteren lernt das Publikum außerdem den hart arbeitenden und integren Anwalt John Peter, den etwas zurückgebliebenen Jeff, den zu Unrecht für vier Jahre inhaftierten Marc und den exzentrischen und stets gut gelaunten russischen Restaurantbesitzer Timofey kennen. Ihre Schicksale werden mit zunehmender Laufzeit miteinander verstrickt.
Eine unausgegorene Handlung
Ein großes Drama, weich eingebettet, will uns Lone Scherfig (Italienisch für Anfänger; The Riot Club) hier präsentieren. Auch wenn wir ganz unten angekommen sind, so können wir durch gegenseitige Unterstützung in Zufriedenheit leben. So oder so ähnlich lautet ihre Botschaft, welche sie durch diesen doch etwas arg konstruierten, aber im Grunde doch wohlig daherkommenden Episodenfilm verbreitet.
Und doch benötigt das Publikum eine gewisse Zeit, um mit den Figuren warm zu werden. Zu holprig und sprunghaft erfolgen die Introduktionen und außer des verbindenden, übergeordneten Themas der sozialen Hilfsbedürftigkeit beziehungsweise Hilfsbereitschaft lassen sich kaum Elemente erkennen, die eine Gegenüberstellung der einzelnen Erzählstränge rechtfertigen würden. Diese wirken hier nämlich eher zusammengeworfen, als wirklich durchdacht, was man leider auch über die doch sehr unrealistische Ausgangssituation der verfolgten Clara sagen muss. Besonders konstruiert und erzwungen wirken schließlich auch die letzten Szenen des Films, in welchen zwanghaft versucht wird, alle Charaktere (im wahrsten Sinne des Wortes) an einen Tisch zu bekommen.
Klischeehafte, aber liebevolle Charaktere in The Kindess of Strangers
Die Charaktere bleiben leider über die gesamte Laufzeit ziemlich eindimensional und ohne erkennbare Entwicklung. Die Regisseurin, die auch das Drehbuch geschrieben hat, scheint hier vielmehr an der Erzeugung einer angenehmen, hoffnungsvollen Atmosphäre hervorgerufen durch gemeinschaftliche Nächstenliebe, interessiert zu sein, als an der Darstellung von Figurenprofilen mit Ecken und Kanten. Besonders der böse Ehemann wird hier doch arg zweckdienlich auf einige wenige Eigenschaften reduziert. Dennoch gelingt es dem Streifen, mit zunehmender Laufzeit gewisse Sympathien zu erzeugen. Der fast schon Romcom-hafte Charakter von The Kindess of Stranges schafft es durch nette Witzeleien und einige charmante Situationen, an denen zumeist Bill Nighys Figur beteiligt ist, dem Publikum ein wohliges Gefühl abzuringen. Nur allzu gerne kann man sich von den seichten dramatischen Momenten und den weisen Kommentaren des Restaurantbesitzers einlullen lassen. Wirklich tiefsinnig oder gesellschaftlich relevant wird es allerdings nie.
Welchen Beurteilungsmaßstab sollte man hier anlegen?
Entsprechend ratlos gingen Kritiker also aus der Premiere des Streifens, der doch Lust auf innovatives, gesellschaftskritisches und allgemein kreatives Kino machen sollte. Zu rosarot und zu unprovokant kam der Film daher – so, als wolle er niemandem weh tun. Ironischerweise erzürnte gerade das den Großteil der Presse. Doch tut man dem The Kindness of Strangers nun unrecht, indem man ihn an solchen Ansprüchen misst? Nein! Denn entzieht man sich einmal einer Betrachtung, die sich vornehmlich auf die Positionierung des Films innerhalb der diesjährigen Berlinale bezieht, so kann man den Film als zwar seichte und genrekonforme, aber auch charmante und kurzweilige Sozial-Dramedy einordnen. Ein zweiter Blick lohnt sich sicherlich nicht, aber für einen unterhaltsamen Abend mit einigen emotionalen Momenten, auf die man sich einlassen kann, taugt der Film allemal.
Cast und Inszenierung
Das liegt insbesondere an dem begeisterten Spiel des gesamten internationalen Cast. Allen voran hat Bill Nighy sichtlich Spaß an seiner Rolle (näheres zu seiner Rolle hat er der Filmtoast-Redaktion in einem Interview verraten). Außerdem darf Zoe Kazan neben ihren sonst eher komödiantischen Rollen endlich einmal zeigen, dass sie auch in ernsteren Partien überzeugen kann, während der französische Darsteller Tahar Rahim den charmanten Partner glaubwürdig porträtiert. Besonders imponieren können allerdings Andrea Riseborough als Alice und Caleb Landry Jones als Jeff, deren gemeinsame Szenen zu den mitunter mitreißendsten des Streifens zählen. Allgemein scheint das gesamte Schauspieler/innen-Team mit Eifer dabei zu sein. Vereinzelt überträgt sich dieses Gefühl auch auf das Publikum, jedoch verwehren die zu simplen Charakterzeichnungen eine wirkliche Identifikation mit den Figuren. Hier werden ein paar Mal zu viel gängige Rollenklischees bedient.
Diesen inhaltlichen Schwächen muss man allerdings die handwerkliche Arbeit des Films und Lone Scherfigs Inszenierung entgegenstellen. Man erhält hier einen überaus wertigen Look. Besonders Manhattan wurde selten so schön in Szene gesetzt. Da fühlt man sich sogar ein wenig an den bekannten gleichnamigen Woody-Allen-Klassiker erinnert. Die schillernde Lichtsetzung und die langsamen Kameraschwenks verleihen Hoffnung und Trost neben den dramatischen Szenen. Überhaupt gelingt der Wechsel zwischen erheiternden, zum Schmunzeln anregenden Sequenzen und der Darstellung tragischer Situationen erstaunlich gut. Scherfig stellt hier ein gutes Gespür für Timing und Rhythmus unter Beweis. Hinzukommt ein wohlklingender Score und Soundtrack von Andrew Lockington, dessen minimalistische Klänge dem Zuschauer oder der Zuschauerin noch eine Weile nach Verlassen des Kinosaales im Ohr bleiben können.
Fazit
Alles in allem ist The Kindness of Strangers gute Unterhaltung. Das liegt vor allem an den charismatischen und leidenschaftlichen Darstellern und Darstellerinnen, einigen liebevollen Momenten, denen man sich kaum verwehren kann und einer teils wunderschönen Inszenierung begleitet von wohliger Musik. Andererseits kann man dem Film auch vorwerfen, er sei effekthascherisch, klischeehaft und wirke an viele Stellen konstruiert. Besonders in seiner Konzeption als Episodenfilm gelingt es leider dem Werk mehr schlecht als recht, die verschiedenen Erzählstränge sinnvoll zusammenzuführen. An einigen Stellen wird arg auf die Tränendrüse gedrückt und in wieder anderen will Lone Scherfig das Publikum durch glückselige Momente milde stimmen.
Die Welt ist voller schlechter Menschen, will uns der Film sagen. Doch gleichzeitig solle man sich davon nicht blenden lassen, denn es gäbe auch jede Menge Gutes um uns herum. Was man abschließend nun von dieser ambivalenten Aussage halten soll, bleibt sicherlich jedem selbst überlassen, wodurch der Streifen letztendlich leider extrem belanglos bleibt. Dennoch kann man sich dem Film an einem gemütlichen Winterabend durchaus widmen und dabei eine gute, kurzweilige Zeit haben. Ein kreatives Feuerwerk ist allerdings nicht zu erwarten.
Ein Kinostart in Deutschland ist zum 12. Dezember 2019 geplant.
Unsere Wertung: