Zehn Jahre nach seinem gefeierten Debüt Martha Marcy May Marlene erscheint nun Sean Durkins neuer Film The Nest. Ob sich das lange Warten gelohnt hat, erfahrt ihr in unserer Review!
Titel | The Nest - Alles zu haben ist nie genug |
Jahr | 2020 |
Land | Canada |
Regie | Sean Durkin |
Genres | Drama |
Darsteller | Jude Law, Carrie Coon, Oona Roche, Charlie Shotwell, Tanya Allen, Tattiawna Jones, Marcus Cornwall, Wendy Crewson, Michael Culkin, Adeel Akhtar, Annabel Leventon, Peter Hamilton Dyer, Bamshad Abedi-Amin, Oliver Gatz, Christian Jenner, Stuart McQuarrie, Anne Reid, Francesco Piacentini-Smith, Charlie Shaw, Polly Allen, Gunnar Cauthery, Kaisa Hammarlund, Andrei Alén, Alexandra Moloney, James Craze, James Nelson-Joyce, Tommy Gene Surridge |
Länge | 107 Minuten |
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Die Handlung von The Nest – Alles zu haben ist nie genug
“Es ist nicht deine Aufgabe, dir Sorgen zu machen. Überlass das deinem Ehemann.” Den Ratschlag bekommt Allison (Carrie Cool) von ihrer Mutter mit auf den Weg, als sie Mitte der 1980er Jahre eher unwillentlich mit ihrem Gatten Rory (Jude Law) und den zwei Kindern von einem amerikanischen Vorort aufs englische Land zieht. Rory, ein ehrgeiziger Unternehmer, sieht in seinem Heimatland die Chance auf das große Geld. Sich an seine eigenen Illusionen klammernd, mietet er einen weitläufigen, aber düsteren Landsitz mit Platz für Allisons Pferde. Doch bald schon droht die Familie unter dem unerschwinglichen Lebensstil und der zunehmenden Isolation zusammenzubrechen. Die Ehe von Rory und Allison steuert auf einen scheinbar unausweichlichen Kollaps zu…
Langsam brodelt es unter der Oberfläche
Es gehört schon einiges dazu, um einem Regisseur, der nur zwei Spielfilme in seiner Filmografie aufweisen kann und diese auch noch im Abstand von zehn Jahren erschienen sind, einen charakteristischen Stil zu bescheinigen. Doch auf Sean Durkin trifft dies ohne jeden Zweifel zu. Im Jahr 2011 hat der Filmemacher mit dem Sektendrama Martha Marcy May Marlene nicht nur Elizabeth Olsen zum endgültigen Durchbruch verholfen, sondern auch einen Paranoia-Thriller kreiert, der trotz oder eher wegen seiner sehr ruhigen Erzählweise eine einzigartige Mischung aus permanentem Unwohlsein und langsam schwelendem Misstrauen gegenüber allem und jedem in der Geschichte transportieren konnte. Genau dieses schwer einzuordnende Unbehagen zeichnet auch sein zweites Werk The Nest nun wieder aus.
Die Stimmung lässt sich mit Mike Flanagans „Spuk im …“-Serien vergleichen, was auch, aber nicht nur, an der ähnlichen Location liegt. Von alten Herrenhäusern geht seit jeher eine gruselige Aura aus. Wer weiß schon, welche Gräueltaten sich in diesen vier Wänden über die Jahrhunderte hinweg zugetragen haben? Dazu kommt noch eine rätselhafte Kälte, die dieses Gemäuer hier durch seine große Leere ausstrahlt. Im Gegensatz zur Spuk-Anthologie bei Netflix gibt es in diesem Psychothriller jedoch keinerlei Anzeichen von Übernatürlichkeit. Durkin schafft es, in ein Ehe- und vor allem ein Familiendrama mit ganz wenigen, aber dafür extrem effizienten Mitteln eine Horrorfilm-Atmosphäre einfließen zu lassen, die selbst in waschechten, aktuellen Horror-Streifen Seltenheitswert hat.
Kleine Gesten, großer Ballast
Eines dieser Stilmittel ist die Wiederholung bestimmter Einstellungen mit schleichender Variation. So gibt es beispielsweise unter den Eheleuten ein morgendliches Ritual, bei dem Rory seiner Gattin eine Tasse Kaffee direkt ans Bett bringt. Parallel zum Auseinanderleben der Ehepartner bildet das Ausbleiben dieser frühmorgendlichen Geste symbolisch perfekt den Zeitpunkt des irreparablen Bruches zwischen Rory und Allison ab. Kleine Abweichungen von der Routine, Misstrauen und irgendwann Verrat – all diese Stadien des Scheiterns werden kaum verbal artikuliert, sondern in vermeintlich kleine Gesten verpackt. Dabei gibt sich der Regisseur aber Mühe, dass sich der Prozess nicht von einer Eskalationsstufe zur nächsten hangelt, sondern stets sein Tempo beizubehalten.
Das Publikum wohnt dem Zerfall einer Bilderbuchfamilie bei. Schon zu Beginn ist es eigentlich vermessen, die vier als solche zu bezeichnen. Denn schon sehr schnell werden kleine Nadelstiche gesetzt, die von gegenseitigem Argwohn nur so triefen. Von außen betrachtet, scheinen sie füreinander bestimmt zu sein, doch bei genauem Blick ist diese Familie dysfunktional oder gar toxisch. Dieses Spannungsverhältnis sorgt in The Nest beim Zuschauen für Fassungslosigkeit und Schaudern.
Geltungssucht ist keine Begleiterscheinung von Social Media
Die Gründe dieses Ehe-Bankrotts sind ebenfalls vielschichtig und keiner der beiden Ehepartner ist hier klar in der Opfer- oder Täterrolle. Es wirkt zwar schon so, als sei es die Gier nach mehr von Rory, die die ganze Misere erst lostritt, aber selbst wenn hier eine Kausalität vorhanden ist, wo liegt dann die Ursache dieser Geltungssucht? Vieles wird in The Nest zwischen den Zeilen erzählt oder gar ausgespart, um es der Interpretation offen zu lassen. Was das Drama jedoch deutlich macht, ist, dass der unbedingte Wille, sich mit anderen zu messen oder auf Gedeih und Verderb derjenige sein zu müssen, der seine Gegenüber in irgendeiner Weise übertrumpft, nicht erst seit dem Durchbruch der Sozialen Medien ein gefährliches Niveau erreicht hat. Schon vor Jahrzehnten barg es ein selbstzerstörerisches Potenzial, wenn man, wie hier Rory, in diese Spirale der Unzufriedenheit mit dem Status Quo geraten ist.
Sowohl Allison als auch Rory sehen die Vorboten der Katastrophe nicht. Und so ist der finale Kulminationspunkt unausweichlich. Selbst die Kinder werden immer mehr vernachlässigt und so kann es für Zuschauer*innen mitunter schwer fallen, diesem Auflösungsprozess mit beizuwohnen. Aus anfänglicher Herzlichkeit wird gegenseitige Verachtung, doch man kann die Charaktere nicht wachrütteln, obwohl man ihnen so gerne helfen würde.
Überragendes Schauspiel, subtile Kamera
Was sowohl Carrie Coon (The Leftovers) als auch Jude Law (Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen) hier erneut schauspielerisch abliefern, ist ganz große Kunst. Der oben beschriebene Zerfall lässt sich auch anhand des sich verändernden Mienenspiels nachzeichnen. So werden die Gesichtsausdrücke beider Ehepartner im Verlauf immer statischer, bis sie letztlich beide nur noch komplett leere Blicke zeigen können. Die Denkprozesse, anfänglich noch von Zweckoptimismus und gutem Willen geprägt, werden mehr und mehr zu Grübeleien und letztlich zur totalen Verbissenheit und Resignation. Dazu kommen noch inbrünstig ausgetragene Wortgefechte, denen ebenfalls oft eine hohe Ambivalenz innewohnt.
Dass dies jedoch alles so gut zur Geltung kommt, liegt zu einem großen Teil auch an der herausragenden Bildsprache. Die Kamera arbeitet dabei mit Weitwinkeln sowohl in den leeren Innenräumen als auch auf dem ebenfalls nicht sonderlich viel Liebe ausstrahlenden Garten. Darin spiegelt sich die Kälte in der Stimmung der Protagonisten perfekt wider. Was jedoch das signifikanteste Stilmittel des Director of Photography hier ist, ist das gefühlt minutenlange Verharren in markanten Momenten. So gibt es eine Nahaufnahme auf Carrie Coon, die fast wie ein Standbild wirkt, aber millimeterweise Veränderungen in den Mund- und Augenwinkeln haben soviel Aussagekraft, wie oftmals mehrminütige Dialoge. The Nest gibt „In der Ruhe liegt die Kraft“ eine ganz neue Ebene. Denn obwohl hier kein radikaler Exzess stattfindet, ist die Ausweglosigkeithier am Ende mit einfachsten Mitteln nachdrücklich in unvergesslichen Bildern manifestiert.
Unser Fazit zu The Nest – Alles zu haben ist nie genug
The Nest bestätigt eindrucksvoll die erzählerischen Fähigkeiten des Regisseurs Sean Durkin. In seinem erst zweiten Langfilm kann er sich auf die Extraklasse von Jude Law und Carrie Coon verlassen, die sich in ihrer toxischen Ehe gegenseitig an die Wand spielen. Auch wenn man dazu noch Bilder bekommt, die einen so schnell nicht loslassen werden, muss man definitiv wissen, worauf man sich bei diesem Psychodrama einlässt. Denn auch wenn das Finale schon eine Form von höchster Eskalationsstufe darstellt, einen Showdown mit Spektakelcharakter sollte man nicht erwarten. So ist The Nest auch am Ende nicht ganz so schmerzhaft im Nachgang wie das Vorgängerwerk, aber in puncto schwelenden Unwohlseins macht Durkin derzeit kaum einer Konkurrenz.
The Nest – Alles zu haben ist nie genug kann ab dem 5. November digital und ab dem 12. November auf Blu-Ray-Disc und DVD erworben werden!
Unsere Wertung:
© Ascot Elite