The Piano Lesson ist die dritte von Denzel Washington produzierte Filmadaption eines August-Wilson-Theaterstücks, und wie Ma Rainey’s Black Bottom erneut von Netflix finanziert und gestreamt. Ob wir der Klavierstunde gerne beigewohnt oder schräge Töne uns den Genuss verhagelt haben, erfahrt ihr hier.
Titel | The Piano Lesson |
Jahr | 2024 |
Land | United States of America |
Regie | Malcolm Washington |
Genres | Drama, Musik, Horror |
Darsteller | John David Washington, Danielle Deadwyler, Samuel L. Jackson, Ray Fisher, Michael Potts, Corey Hawkins, Gail Bean, Jerrika Hinton, Stephan James, Skylar Aleece Smith, Erykah Badu, Malik J Ali, Charity Jordan, Isaiah Gunn, Matrell Smith, Eilan Joseph, Pauletta Washington, Olivia Washington, Kylee D. Allen, Deetta West, Jay Peterson, David Atkinson, Tony Fox, Melanie Jeffcoat, Owen Harn, Charles Green, Scott Andersen, Saige Aristilde, Nigel Barto, Hasani Vibez, Lovell Gates, Gracie Jackline, Anna Mezentseva, Zuri Parker, Trenton Schillinger, Rob Wood, Shaun Woodbury |
Länge | 127 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Die Handlung von The Piano Lesson
Die USA in den späten 1930er Jahren. Ein afroamerikanisches Geschwisterpaar streitet über den Umgang mit einem wertvollen Familienerbstück: dem titelgebenden Klavier. Für Bernice, die Schwester, verkörpert das Instrument ein unersetzliches Stück Familiengeschichte. Doch ihr Bruder “Boy Willie” hat damit nur eins im Sinn – es zu verkaufen, um Besitzer eines Farmlands werden zu können, auf dem ihre eigenen Vorfahren noch als Sklaven arbeiten mussten. Ein heftiger Konflikt ist vorprogrammiert, doch zusätzlich kommt es bald zu weiteren, weniger vorhersehbaren Vorfällen …
Zur Vorlage: Wilsons Theaterstück
The Piano Lesson (1987) ist nach Fences (1986) das zweite Pulitzer-Preis-dekorierte Theaterstück des US-amerikanischen Dramatikers August Wilson (*1945; †2005). Das als Kammerspiel angelegte Werk setzt sich in gewitzten Dialogen mit einer Vielfalt (ein)dringlicher Fragen auseinander, darunter der Umgang mit dem eigenen familiären, kulturellen und spirituellen Erbe und den bleibenden Wunden der Sklaverei. Der spirituelle Aspekt begegnet uns spannenderweise ganz konkret in Form einer Gespenstergeschichte. Die Geister, die hier auftreten, sind eine Metapher für die Heimsuchung durch die Vergangenheit – und für die heilsame Wirkung, die darin liegen kann, sich dieser zu stellen.
Familiensache: Hintergründe zur Adaption
Mit-Produzent Denzel Washington hatte also erneut einen vielschichtigen Stoff zu stemmen, als er mit The Piano Lesson sein ambitioniertes Projekt weiterverfolgte, alle zehn Theaterstücke Wilsons zu verfilmen. Mit Fences (2016) und Ma Rainey’s Black Bottom (2020) war er bereits ziemlich erfolgreich. Die Werke erhielten großes Lob und sind beide preisgekrönt. Für das dritte (Kunst-)Stück holte sich Denzel Washington diesmal vor allem Familienunterstützung. Tochter Katia Washington ist Mit-Produzentin, Sohn Malcom Washington führt Regie und schrieb mit am Drehbuch, Sohn John David Washington spielt als “Boy Willie” eine Hauptrolle – buchstäblich alles an diesem Projekt dreht sich also um Familie, ob nun hinter oder vor den Kulissen.
Auf “Familiarity” setzte Washington sogar bei der Hauptbesetzung: Fast alle Hauptdarsteller:innen gehörten zum Ensemble einer 2022er-Broadway-Aufführung des Stücks. Washingtons Entscheidung, auf diese Erfahrung zu setzen und über die eigene Familie alle wichtigen Fäden in der Hand zu behalten, verspricht eine stimmige Adaption getreu seiner Vision, Ton und Geist der Werke Wilsons einzufangen. Entsprechend gespannt waren wir: Gelang es (den) Washington(s) ein weiteres Mal, ein August-Wilson-Werk adäquat umzusetzen?
Stimmige Ästhetik & Atmosphäre
The Piano Lesson bedient sich einer stimmungsvollen Ästhetik und hat fraglos Schauwerte. Er beeindruckt mit atmosphärischen Sets, die authentisch und detailverliebt wirken. Mitunter entwickelt er eine emotionale und thematische Wucht, die seiner Vorlage sehr gerecht wird: Was als sachliche Diskussion beginnt, eskaliert oft in hitzige Streitgespräche, die echte Sogwirkung entfalten. Auch in anderen Momenten wie dem Finale, das sich darstellerisch am (“Cozy”) Horror-Genre bedient, zieht uns der Film unheimlich in seinen Bann. Letzteres gilt besonders für den musikalischen Glanzmoment des Films, eine elektrisierende Szene, in der die versammelten Männer gemeinsam in das alte Call-and-Response-Gefängnislied “Oh Berta Berta” einstimmen – ein Highlight, das auch völlig isoliert vom Rest des Films beeindruckt.
Ein paar Rückblenden zu viel …
Konträr dazu stehen Szenen, die wenig kreativ oder fokussiert wirken und nichts anderes tun, als das von den Figuren Erzählte in eher konventioneller Weise zu bebildern. Das gilt nicht für alle Rückblenden. Die Eingangssequenz des Films beispielsweise funktioniert ganz wunderbar. Aber nicht immer ist das der Fall: Wenn zum Beispiel Doaker die Geschichte des Klaviers erzählt, wechselt sich unser Blick auf ihn mit Rückblenden ab, die seine Erzählung illustrieren sollen. Das macht die Szene durchaus “cineastischer”, wirkt aber ingesamt recht überflüssig.
Dasselbe gilt für mehrere Sequenzen, die den Tod des früheren Unterdrückers “Sutter” illustrieren sollen und in denen man nicht wesentlich mehr sieht als die Silhouette eines Mannes, der einen Brunnen hinabstürzt. Sie fügen wenig bis nichts hinzu, stehen im Kontrast zum intensiven Spiel der Darsteller:innen und lenken unnötig von der metaphorischen, gesellschaftlichen Ebene ab, die angesichts der Originalvorlage eigentlich wichtiger wäre. Die Entscheidung, relativ viele solcher Szenen einzubauen, schadet dem Film auf Dauer leider.
Großes Schauspiel gegen kleine Schwächen
In puncto schauspielerische Leistungen hat uns The Piano Lesson voll überzeugt. Es ist ein Erlebnis, wie die Darsteller:innen die Musikalität in Wilsons Sprache zum Leben erwecken und sämtliche Figuren mit ihren unterschiedliche Positionen, die sie verkörpern, sind lebendig umgesetzt. Samuel L. Jackson verleiht seiner Figur Doaker Charles eine beeindruckende Präsenz, während Danielle Deadwyler als Berniece mit kühler Entschlossenheit überzeugt. John David Washington spielt Boy Willie mit einer explosiven Energie, die seine Ambitionen und Hartnäckigkeit greifbar macht. Und auch die Nebenfiguren sind liebevoll gezeichnet.
Das beeindruckende Spiel gleicht sogar eine etwas rätselhafte Änderung aus, welche die ansonsten recht werkgetreue Adaption an ihrer Vorlage vornimmt. Im Finale rettet Berniece die Lage durch ihre starke Verbindung zu den (wortwörtlich:) Geistern der Vergangenheit. Im Stück besinnt sie sich selbst darauf, diese mit ihrem Klavierspiel heraufzubeschwören. Ihrer Entscheidung im Film geht jedoch die Aufforderung einer anderen Figur voraus.
Das wäre per se nicht problematisch, wenn es nicht ausgerechnet eine Figur wäre, deren Fremdbestimmungsversuchen – und früheren Aufforderungen, das Klavier zu spielen – Berniece sich bis dahin souverän widersetzt hatte. Ihr Handeln wirkt dadurch fast wie ein Einknicken und nimmt der in der Vorlage so starken Frauenfigur einen Teil ihrer Autonomie. Nur Danielle Deadwylers kraftvolles Spiel kann glücklicherweise hinüberretten, dass wir Berniece trotzdem als starken, unabhängigen Charakter wahrnehmen.
Die Musik: eine heimliche Hauptrolle
Hörbar Mühe wurde auch in die musikalische Umsetzung investiert. Wilsons Theaterstück arbeitet in zwei Schlüsselmomenten mit Musik und Gesang, und diese Szenen sind auch im Film zentral. Dass – und wie stimmig – dieser Aspekt adaptiert wurde, rechnen wir der Produktion hoch an.
Die Bedeutung der Musik für die afroamerikanische Bevölkerung der Zeit klingt im Stück immer wieder an. Gesang und Musikalität sind fest in der afroamerikanischen Kultur und Geschichte verankert – als Ventil für Emotionen und als Weg zur Selbstbehauptung. Für die schwarze Community war Musik lange Zeit eine Möglichkeit, sich Respekt zu verschaffen, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen und soziale Bindungen zu stärken. Gleichzeitig bot sie eine Form der Katharsis – eine Verarbeitung von Schmerz und Verlust, die generationenübergreifend wirkt.
Alle genannten Ebenen werden in der Filmadaption hörbar, sichtbar und greifbar: Hörbar in den Gesangs-, Klavier- und Tanzszenen. Sichtbar in Form der an die Vorfahren der Familie Charles erinnernden Schnitzereien im titelgebenden Piano. Greifbar durch die Gestik und Mimik der Figuren, wenn sie sich ganz und gar den Klängen hingeben.
Die Bedeutung der Musik wird auch im Score und im Soundtrack spürbar, in welche zentrale Genres der afroamerikanischen Musikgeschichte eingewebt wurden: Blues, Jazz, Boogie-Woogie und gewissermaßen auch Sprechgesang. Im Kontrast dazu stehen nur wenige Passagen des von Alexandre Desplat komponierten Scores, die klassische Filmmusik-Standards bedienen und sich in das Setting daher etwas weniger nahtlos einfügen.
Unser Fazit: Klavierstunde mit leisen Disharmonien
Wird die Filmadaption also dem Erbe August Wilsons gerecht? Das Gesamtbild wird leider durch die ein oder andere Schwäche getrübt. Trotzdem haben wir es hier mit einer liebevollen und mitreißenden Adaption zu tun, die sich nah am Original bewegt und dabei eine visuelle und darstellerische Wucht entfaltet, mit der sie der Vorlage gekonnt Leben einhaucht. Stilistisch, schauspielerisch und musikalisch in vielen Momenten überdurchschnittlich, ist The Piano Lesson eine solide Netflix-Produktion, die neugierig auf die kommenden Wilson-Verfilmungen macht.
The Piano Lesson ist am 22. November 2024 bei Netflix gestartet.
Ebenfalls sehr zu Empfehlen: Piano Lesson – Erbe und Vision, ebenfalls seit Kurzem auf Netflix.
Unsere Wertung:
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