Noah Baumbach ist in erster Linie für intime Dramen mit Charakterstudien-Note berühmt geworden. Nun hat er sich mit Weißes Rauschen einer als unverfilmbar geltenden Vorlage gewidmet und dabei auch seine Genre-Grenzen ausgelotet. Hat sich der Regisseur mit diesem Projekt übernommen?
Titel | Weißes Rauschen |
Jahr | 2022 |
Land | United Kingdom |
Regie | Noah Baumbach |
Genres | Komödie, Drama |
Darsteller | Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Raffey Cassidy, Sam Nivola, May Nivola, Jodie Turner-Smith, André 3000, Sam Gold, Carlos Jacott, Lars Eidinger, Bill Camp, Barbara Sukowa, Francis Jue, J. David Hinze, Gideon Glick, Madison Gaughan, Douglas Brodax, Carly Brodax, Jill Brodax, Wickham Bermingham, Michael Chopra, Santu Chopra, Danielle Williams, Matthew Williams, Henry Moore, Dean Moore, Jacob Weinheimer, Danny Wolohan, Randall L. Johnson, David Neumann, Starlett Sabo, Erik Moth, Gavin Ditz, George Drakoulias, James DeForest Parker, Andrew Barth Feldman, Annie Fitzpatrick, Brooke Bloom, Quincy Tyler Bernstine, Jennifer Tober, David Myers Gregory, Aaron Marcus, Benjamin Sheeler, Ted Weil, Jeanne Madison, Joey Nader, C.C. Boler, Maggie Lou Rader, Alphaeus Green, Jr., Lauren Ashley Berry, Hannah Neff, Dean Wareham, Britta Phillips, Chloe Fineman, Janette Torrico-Woo, Howard Y. Woo, Janellyn Woo, Jacquelyn Woo, Mei Woo, Chris Green, Samantha Russell, Andy Knode, Kenneth D. Early, J. Barrett Cooper, Sarah Eddy, Matt Henderson, Kenneth Lonergan, Meggie Loughran |
Länge | 136 Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Weißes Rauschen – Die offizielle Handlungsangabe
Weißes Rauschen ist die zugleich witzige, absurde und erschreckende Geschichte einer modernen amerikanischen Familie, die versucht, mit den banalen Konflikten des Alltags fertigzuwerden, und sich zugleich mit den Mysterien der Liebe, des Todes und der Möglichkeit, in einer unbeständigen Welt glücklich zu werden, auseinandersetzen muss.
Willkommen bei den Gladnys
In Baumbachs Verfilmung des gleichnamigen Romans von Don DeLillo begegnen wir Jack Gladney, einem Professor, der schon beinahe theatralisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der deutschen Sprache umgeht. Obwohl er nicht einmal Sätze wie „Ich liebe Kartoffelsalat“ richtig aussprechen kann, gilt er als gestandener Lehrer – und großer Hitler-Experte. Inszenierung spielt in seinen Seminaren eine wichtige Rolle, sodass er sich zusammen mit seinem Professorenkollegen Wortgefechte liefert. Adam Driver besticht abermals mit seinem Timing für physische und verbale Comedy. Auch außerhalb seiner Professur setzt der Star-Wars-Schauspieler sein humoristisches Talent im Familienumfeld ein.
Langzeitkolleg:innen Driver und Greta Gerwig erfüllen eine Ehe, in der keine wirkliche Augenhöhe herrscht: Jack ist bereits in seiner vierten Ehe und bildet zusammen mit vier Kinder aus den verschiedenen Ehen eine chaotische Patchwork-Familie. Sohn Heinrich ist – ähnlich wie sein Vater – analytisch veranlagt. Gerade im Medienkonsum besitzt er eine hohe Auffassungsgabe. Die älteste Tochter Debbie kommt ganz nach ihrer Mutter und zeigt sich häufig misstrauisch ihren Eltern gegenüber. In der ersten Hälfte spielt Baumbach seine Figuren herrlich gegeneinander aus und lässt die verschiedenen Dynamiken durch überspitzte, temporeiche Dialoge frei. Die dysfunktionale, aber sympathische Familie Gladney erreicht die Zuschauer:innen mit ihrer schrulligen Art. a
Konfrontiert mit der eigenen Vergänglichkeit
In ihren Schlafzimmergesprächen setzt sich das Ehepaar mit der eigenen Sterblichkeit auseinander. Eine zunehmende Paranoia entsteht. Baumbach nimmt diese Angst als Auslöser, um Risse im Familienbild aufzubauen. Babettes wird sogar so panisch, dass sie auf dem Schwarzmarkt das nicht anerkannte Medikament „Dylar“ erwirbt und einnimmt. Weißes Rauschen packt hier ein Geheimnis in seinen Plot: Was macht ihre Mutter wirklich außerhalb des Hauses treibt, fragt sich die misstrauische Tochter Debbie. Bei Jack ist die Todesangst sehr viel komplexer, weil sie sich in verschiedenartig manifestiert: omnipräsente Angst vor dem körperlichen Tod, Panik vor dem Verfall, Befürchtungen um das Auseinanderbrechen seiner Institutionen. Eine weitere Scheidung würde einem finalen Todesstoß gleichen. Auch ein Karriereende hängt als Damoklesschwert über ihm.
Und mitten in diesem Chaos voller individueller Probleme breitet sich nach einem Chemieunfall eine Wolke aus, von den Medien als „Airborne Toxic Event“ betitelt. Die Folge: eine kollektive Panik. Baumbach gelingt es mit dem Sammelsurium an kleinen Geschichten durch das großeDurcheinander zu manövrieren. Das fordert stets Aufmerksamkeit, aber langweilig wird es nie.
Medien- und Konsumkritik (?)
Der Konsum der frühen 80er-Jahre hervorragend darstellen. Baumbach platziert seine Schlüsselfiguren mehrfach in den damaligen Status-Quo-Konsumtempeln: jedes Regal perfekt angeordnet, jedes Produkt am richtigen Platz, jede Marke klar erkennbar. Die Coca-Cola-Dose oder das freudige Gesicht der Pringles-Dose – Symbole des Kapitalismus, die den Exzess und das Konsumieren als Familienattraktion anprangern. Der Supermarkt als Treffpunkt, an dem wichtige Gespräche und Events stattfinden.
Der Film setzt sich auch mit seinem eigenen Medienschaffen auseinander. Weißes Rauschen beginnt mit einer Montage von Autounfällen aus Hollywood-Streifen, die laut Murray (Don Cheadle) als optimistisches Moment gelten, sofern seine Studierenden in der Lage seien, über das zersplitterte Glas und das Blut hinwegzusehen. Verkehrsunfälle: allgemein in Amerika ein großes Phänomen. Bei jedem größeren Unfall sind die Medien direkt vor Ort und sind bereit, das volle Ausmaß der Katastrophe aufzunehmen. (Stichwort: Nightcrawler) So verhält es sich mit dem mediale Umgang des „Toxic Event“, wo Radio und Fernsehnachrichten im Minutentakt ihre Information neu validieren müssen. Die Gladney-Familie fungiert als Stellvertreter des Publikums. Mit ihnen fragen wir uns, ob wir den Informationen vertrauen sollen und das Ereignis wirklich eine Gefahr darstellt. Sollen wir von unserem Zuhause flüchten? Baumbach gelingt es auf eine sehr intelligente Art und Weise, aktuelle mediale Umgangsformen in sein 80er-Setting zu integrieren und damit hochaktuell zu werden.
Unser Fazit zu Weißes Rauschen
Weißes Rausch ist ein anderer Baumbach-Film. Aber es ist ein weiterer sehenswerter. Wenngleich der eigensinnige Humor, die überbordende, fast plakative Konsumkritik im Verhältnis zur fast schon unterschwellig Horror-suggerierenden Inszenierung, die sicher nicht zufällig an Jordan Peeles Nope erinnern wird, schon eine gewöhnungsbedürftige Melange ergeben. Adam Driver im „Duell“ mit Don Cheadle ist ebenfalls ein Highlight. Auf die über zweistündige Laufzeit muss man sich einlassen können, aber wer das tut, wird mit Diskussionsstoff und Material zum Sinnieren für mehrere Tage belohnt.
Weißes Rauschen ist ab dem 30. Dezember bei Netflix abrufbar!
Unsere Wertung:
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