Der nervenaufreibende Trailer zu Wir verspricht wieder den gefeierten Mix aus Horror und Gesellschaftssatire, die Jordan Peele für sein gefeiertes Debüt Get Out einen Drehbuch-Oscar einbrachte. Der Hype um und die Erwartungen an seinen zweiten Film sind daher hoch. Ob er diesen gerecht werden kann, erfahrt ihr im Folgenden…
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Titel | Wir |
Jahr | 2019 |
Land | United States of America |
Regie | Jordan Peele |
Genres | Horror, Thriller |
Darsteller | Lupita Nyong'o, Winston Duke, Elisabeth Moss, Tim Heidecker, Shahadi Wright Joseph, Evan Alex, Yahya Abdul-Mateen II, Anna Diop, Cali Sheldon, Noelle Sheldon, Madison Curry, Ashley McKoy, Napiera Groves, Lon Gowan, Alan Frazier, Duke Nicholson, Dustin Ybarra, Nathan Harrington, Kara Hayward, Jordan Peele, Darrel Cherney, James Cobb, Alessandro Garcia, David M Sandoval Jr., Alan Frazier |
Länge | 116 Minuten |
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Worum geht es in Wir?
Adelaide und Gabe Wilson sind ein glückliches Ehepaar mit zwei Kindern. Der geplante Familienurlaub in Strandnähe ruft in der fürsorglichen Mutter allerdings schnell bisher unterdrückte Erinnerungen hervor. Gepaart mit mysteriösen Ereignissen in Form einer Ansammlung merkwürdiger Zufälle, bekommt sie es mit der Angst zu tun und will den Urlaub beenden. Als dann allerdings vier Gestalten in roten Anzügen abends in der Auffahrt stehen, eskaliert die Situation. Nicht nur versuchen diese ins Innere des Hauses zu gelangen, sie wollen auch kein Geld oder andere Besitztümer rauben. Stattdessen haben sie es einzig und allein auf die unschuldige Familie abgesehen. Wäre das nicht erschreckend genug, so wird den vier Hauptpersonen schnell das wahrhaft Absonderliche an den vier Eindringlingen bewusst. Sie gleichen Adelaide, Gabe, Jason und Zora äußerlich bis aufs Haar. Wie kann das sein? Wer sind diese Ebenbilder, und was wollen sie?
Was ist es, wovor wir uns am meisten fürchten?
Er ist spürbar, der hohe Erwartungsdruck. Jordan Peele versucht seiner Linie treu zu bleiben und sich dennoch in allen Bereichen zu steigern. Der Plot ist komplexer, die Botschaft ambitionierter und der audiovisuelle Gestaltungsanspruch höher. Umso erstaunlicher ist es, dass Peele dieses erhöhte Niveau mit Bravour meistert. Es gelingt ihm weiterhin, dem derzeit neu aufkeimenden Horrorfilm einen revolutionären Touch zu verleihen. Dafür besinnt er sich auf dessen ursprüngliche Intentionen zurück und so kommt es, dass ein Filmemacher dieses Genres endlich wieder gesellschaftliche Probleme und Ängste in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Endlich wird es nicht mehr nur auf billige Geistergeschichten, bestehend aus einer Aneinanderreihung von Jumpscares, reduziert. Der eher als Psychothriller, denn als Gruselfilm zu wertende Streifen, stellt vielmehr die elementare Frage nach den Urängsten des Menschen und kommt zu einem schockierenden Schluss: Wir sind es selbst, vor denen wir uns am meisten fürchten.
Dieser Prämisse folgt die Handlung wortwörtlich und leitet über zu der Frage nach der eigenen Persönlichkeit und des „Ichs“ im Allgemeinen. Peele zufolge könne sich ein und dieselbe Identität entsprechend verschiedener Umgebungsbedingungen unterschiedlich ausprägen. Ein gemeinsamer Kern, von äußerlichen Merkmalen bis hin zu gewissen Veranlagungen und Vorlieben, bliebe aber dennoch gewahrt. Man stelle sich also vor, man selbst wäre nicht in einer gebildeten, zivilisierten Gesellschaft aufgewachsen, sondern unter deutlich weniger wohlhabenden Bedingungen, wie etwa in Armut oder ohne Bildung. Was wäre aus uns geworden? Würden wir unter anderen Bedingungen stärker zur Ausübung von Gewalt und dem Empfinden von Hass neigen? Besonders dann, wenn wir einmal das privilegierte Leben, welches wir so selten zu schätzen wissen, kennengelernt haben?
Ein gesellschaftspolitischer Hintergrund
In Jordan Peeles Version der modernen Gesellschaftsverhältnisse konstruiert der Staat eine Zweiklassengesellschaft, in welcher nicht nur die Gesellschaft gespalten ist, sondern der Mensch an sich. Die eine Seite des Menschseins unterdrückt die andere. Da das Unterdrückte jedoch als unästhetisch betrachtet wird, müsse es tief unter der Erde im Geheimen versteckt und möglichst weit von der oberen Klasse ferngehalten werden. Ein solches Nicht-Sehen-Wollen dieser unschönen Seiten und der Wunsch der oberen Klasse nach Exklusivität kommt uns leider in Bezug auf die Flüchtlingsdebatte nur allzu bekannt vor.
„Es wird alles wieder wie früher“ versichert Adelaide in einer Szene ihrem Sohn. Wie früher – also ohne die Anderen. In Wahrheit lebten sie jedoch schon immer unter uns. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sie wohnen in, von der Regierung gebauten, alten U-Bahn-Schächten, derer es in den USA viele gibt und deren Zweck bis heute ungeklärt ist, wie uns die Texttafeln zu Beginn des Streifens mitteilen. Ergeben diese zu Beginn noch wenig Sinn für das Publikum, so wird spätestens mit dem darauffolgenden Werbeclip für die Spendenaktion „Hands Across Amerika“ aus dem Jahre 1986 klar, dass Peele seine Handlung in einen größeren politischen Kontext einordnet, dessen Ausmaße jedoch erst mit zunehmender Lauflänge aufgezeigt wird.
Die Verbindung zwischen den Welten
In diesem Konglomerat aus Verschwörungstheorien und politischem Aktivismus ist jedoch eines für Adelaides Doppelgängerin völlig klar: „Wir sind Amerikaner!“ War Get Out noch eine Satire auf die linksliberale, rassistische Gesellschaft der USA, handelt es sich bei Wir (im Original bezeichnender Weise „US“) um Peeles Entromantisierung des amerikanischen Traums und dessen neoliberalistischer Ideologie. „Du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst“ heißt es zu Beginn des Films am Frühstückstisch der Wilsons. Die Doppelgänger und -gängerinnen würden dieser Aussage vermutlich nicht zustimmen. So läuft beispielsweise die Rolltreppe, welche in die Untergrund-Parallelwelt führt, nur in eine Richtung: hinunter. Dass dort die Bildung so niedrig ist, dass sich nicht einmal eine Sprache ausgeprägt hat, regt die Atmosphäre des Films dabei ungemein an.
Peele wählt somit andere Formen der Kommunikation – besonders zwischen den Ebenbildern und ihren Originalen. Er nutzt Formen, die universell verständlich sind, wie etwa zu spielen, rennen oder tanzen. Kunst und Physis sind unabhängig von Worten und durch diese sogar schwer zu beschreiben. Gerade deshalb besitzen sie die Fähigkeit, eine Verbindung der beiden menschlichen Seiten zu schaffen, wenn man Wir Glauben schenkt. Das gegenseitige Unverständnis und ein Mangel an Empathie steht der Menschheit im Wege, und erst durch die viel zu selten gestellte Frage „Was würde ich an Stelle der anderen Person tun?“, kann diese Mauer überwunden werden.
Eine Verbindung aus klassischem und modernen Horror
Wir bietet somit vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten, sodass insbesondere ein reflektiertes Publikum auf seine Kosten kommen wird, welches nicht nur auf den billigen Jumpscare-Effekt aus ist. Diesen erhält man nämlich kaum. Viel mehr spielt der Film mit seiner Symbolik und seinen phänomenalen Bildern, um eine unangenehme Atmosphäre zu schaffen. Motive, wie etwa die Scheren, die roten Anzüge (welche denen von Gefängnisinsassen ähneln) oder die Spiegel werden so effektvoll in Szene gesetzt, dass man Kameramann Mike Gioulakis nicht oft genug lobend erwähnen kann.
In seinen symmetrischen Bildkompositionen fühlt man ständig eine beklemmende Stimmung, die nicht gerade selten an Stanley Kubricks The Shining erinnert. Nicht umsonst gab Jordan Peele seinem Cast dieses Meisterwerk als Hausaufgabe, um ein Gefühl für die beabsichtigte Stimmung zu vermitteln. Als weitere Inspirationsquellen nannte er zum Beispiel Die Vögel, Der Babadook, Funny Games oder Martyrs. Eine solche gesunde Mischung aus klassischen und modernen Horroreinflüssen ist jederzeit spürbar, was zeigt, dass Regisseur und Drehbuchautor Jordan Peele sich eingehend mit der Kunst des Horrors auseinandergesetzt hat. So reflektiert er zum Beispiel gekonnt einzelne Horrorgenres, wie etwa die Home-Invasion-Filme oder die Zombieapokalypse. Nicht zuletzt lassen sich auch zahlreiche Anspielungen an Klassiker, wie Alice im Wunderland oder Carrie – Des Satans jüngste Tochter finden.
Ein lustiger Horrorfilm?
Ungewohnt ist dabei sicherlich die Verwendung von humoristischen Elementen, die hier noch häufiger als in Get Out zum Einsatz kommen. Dennoch tun diese der allgemeinen Spannung keinen Abbruch! Vielmehr schaffen sie es, das Geschehen von einer anderen Seite zu beleuchten. Dem Publikum kommt eher eine beobachtende und reflektierende Funktion zu, als dass man zu sehr in das Geschehen involviert ist. Letztendlich lassen sich in Peeles zweitem Regiewerk also abermals nicht nur Elemente des Psychothrillers, sondern auch der Gesellschaftssatire erkennen. So handelt es sich niemals um einfachen, unangemessenen Blödelhumor, sondern vielmehr um Anspielungen auf die gesellschaftlichen Zustände und in manchen Szenen sogar um eine Hervorhebung der makabren Bilder, bei denen man nicht gerade selten in Versuchung gerät, zu lachen. Lässt man sich allerdings darauf ein und erforscht den sozialen Hintergrund, auf den diese Bilder anspielen, so bleibt einem das Lachen im Halse stecken.
Soundtrack und Cast
Selbst der Score von Michael Abels fügt sich eindrucksvoll zur visuellen Gestaltung des Films hinzu, indem er von einer enormen Vielfalt geprägt ist und sogar zusätzliche Interpretationsebenen aufmacht. Spielerische Klänge mischen sich mit atonalen Sounds, die an Ligeti und Penderecki erinnern. Der Chor, der zu einem Teil aus Kinderstimmen besteht, sowie eine treibende abgehakte Rythmik sind ebenso präsent, wie die Einbindung von Popsongs wie etwa „I Got 5 On It“, den Beach Boys oder den NWA. Besonders die finale Szene ist an kamera- und schnitttechnischer Perfektion in Verbindung mit der musikalischen Gestaltung eine audio-visuelle Offenbarung und dürfte jeden Filmfan staunend in den Kinosessel drücken. Weitere Details zum Soundtrack könnt ihr in unserer eigenen Soundtrack-Kritik nachlesen
Auch der Cast ist mit voller Hingabe bei der Sache. Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o kann in dieser Doppelrolle besonders glänzen. Ihr Schauspiel ist nahbar, gleichzeitig merkwürdig entrückt und andererseits echt gruselig. Man erhält tatsächlich nur schwer den Eindruck, dass es sich um ein und die selbe Person handelt. Somit trägt insbesondere sie den gesamten Film auf ihren Schultern und liefert eine verblüffende Leistung. Ergänzt wird sie ansonsten weitestgehend durch einen eher unbekannten Cast. Ihr Ehemann im echten Leben, Winston Duke, darf diese Rolle genauso hier einnehmen und auch wenn ihm eher eine humoristische Funktion zukommt, so gestaltet er dies durchaus sympathisch. Neben einer gut aufgelegten Elisabeth Moss muss man auch die Kinderdarsteller hervorheben, die hier eine überaus glaubwürdige Darstellung ihrer Rollen liefern.
Unser Fazit zu Wir
Alles in Allem handelt es sich bei Jordan Peeles Wir um ein überaus komplexes Werk, bei welchem sich sogar ein zweiter Kinogang lohnt und dessen man in dieser Kritik gar nicht in allen Belangen gerecht werden kann. Fest steht allerdings, dass es sich um nicht weniger als ein Meisterwerk handelt, welches jedoch für die meisten nicht ganz so leicht zugänglich sein dürfte wie Get Out. Eine unvorhersehbare Handlung mit zahlreichen metaphorischen und symbolischen Elementen gesellt sich zu einer makellosen und und extrem wirkungsvollen Inszenierung. Peele spielt mit den Genres und den filmischen Mitteln, die sich ihm bieten, ohne zu experimentell zu werden.
Wir ist ein Film, den es zu analysieren lohnt, der einen noch lange nach dem Kinobesuch beschäftigt und in seiner audio-visuellen Kraft geradezu gnadenlos auf den Zuschauer oder die Zuschauerin einprasselt. Peele wagt und gewinnt! Wer auch immer etwas mit intelligentem, eindrucksvoll inszenierten Horror anfangen kann, für den oder die stellt Wir ein absolutes Pflichtprogramm dar, welches Wir uns nicht entgehen lassen sollten!
Wir ist seit dem 25. Juli auf DVD und Blu-ray erhältlich.
Unsere Wertung: