Die tagesaktuellen Eindrücke vom Hard:Line Film Festival findet ihr in den nächsten Tagen hier in diesem Beitrag – also klickt täglich rein und lasst euch überraschen!
Es beginnt – Das Hard:Line Film Festival 2025!
Die Pforten des Ostentor Kinos stehen offen, die Gäste strömen hinein, um Tickets zu lösen, Badges abzuholen, in der Kinokneipe ein kühles Helles zu zischen – und sich dann in den schummerigen Kinosaal zu begeben, in welchem einen das geniale Artwork von Christian Fernández Larrere gebührend begrüßt.
Die offizielle Begrüßung und Eröffnung erfolgt dann durch Festivalleiter Florian Scheuerer und dessen Co-Leitung und Koordinatorin Magdalena Würfel, die sich auf sympathische und kurzweilige Art und Weise natürlich gebührend bei allen Wegbereitern und Unterstützern bedanken, nicht zuletzt auch beim Publikum. Denn das Hard:Line Film Festival weist einen zum Bersten gefüllten Saal auf, was sich in blanken Zahlen auf den Höchststand von 99,3% Auslastung herunterbrechen lässt. Ein neuer Rekord und hoffentlich auch ein Garant für ein gelungenes Festival, coole Leute und spannende Filme.
Damit wünscht auch Filmtoast viel Spaß und hält es ganz wie der Flo: “Seid’s keine Arschlöcher!”
Donnerstag, 10.04.2025
The Moor (Chris Cronin, UK, 2023)
Draußen wird es bereits dämmrig, die Temperatur zieht nach einem lauen Sonnentag wieder merklich an – also die idealen Voraussetzungen für den Eröffnungsfilm The Moor.
Denn in diesem verschlägt es uns in die ausgedehnten Moorlandschaften Yorkshires des nördlichen Englands. Die Gegend wird Ende der 90er-Jahre von wiederholten Kindesentführungen geplagt. Der Täter wird gefasst, steht aber 25 Jahre später kurz vor der Freilassung – von den Opfern fehlt jedoch nach wie vor jede Spur. Bill, Vater des entführten Danny, ermittelt mit Hilfe der schuldgeplagten Claire auf eigene Faust. Beide geraten dabei an ihre Belastungsgrenzen und stoßen im Moor auf weitaus mehr, als erhoffte Beweisstücke…
Chris Cronin schafft es ausgezeichnet, mit den atmosphärischen Shots des nebelverhangenen, regennassen und schier endlosen Moores für eine bedrückende Stimmung zu sorgen. Dazu gesellt sich ein dröhnender Score, der das Unbehagen weiter schürt. Zudem spielen die Darsteller authentisch (u. a. der letztjährig verstorbene Titanic-Kapitän Bernard Hill in einer seiner letzten Rollen) und bringen ihre Beklemmung, zunehmende Verbissenheit bis hin zum Wahn überzeugend rüber.
Doch bei aller Macht der Darsteller, des Scores und der Bilder gestaltet sich The Moor als recht zähe Angelegenheit. Lange Zeit ist unklar, worauf Chris Cronin genau abzielt. Folk Horror? Found Footage? True Crime-Thriller? Paranormale Erlebnisse? Letztlich steckt von alledem etwas in The Moor. Wirklich kohärent greifen diese einzelnen Zutaten aber nicht ineinander. Nach klassischer Slowburner-Manier baut sich der Schrecken allmählich und langsam auf, belässt es mehr bei Andeutungen, denn offensiven Schrecken. Die Jumpscares hingegen bauen sich ziemlich vorhersehbar auf und werden auch entsprechend aufgelöst. Die weniger offensichtlichen Schrecken sorgen mit unheimlicher Atmosphäre und unerklärlichen (und auch unerklärten) Geschehnissen dennoch zuverlässig für Gänsehaut.
Doch leider verteilen sich diese starken Momente eher leidlich über den Film, der mit seiner Laufzeit von fast zwei Stunden hinsichtlich der Handlung einfach zu häufig auf der Stelle tritt, Tempo verschleppt und schlicht zu lang geraten ist.
Vampire Zombies…from Space! (Michael Stasko, Kanada, 2024)
Anders bei Vampire Zombies…From Space: Der Titel legt ein gutes Tempo vor und stellt eine so lieb gemeinte wie liebevolle Persiflage auf den Science-Fiction-Film der 50er-Jahre dar – orientiert sich dabei aber eben auch an klassischen Vertretern des Zombiegenres. Denn die Handlung verbindet Vampire und Zombies. Im friedlichen Städtchen Marlow kehren nach 10 Jahren Weltallvampire wieder, um dank neu gewonnener Immunität gegen Kreuze die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch nicht nur das: Ausgesaugte Opfer stehen als Zombievampire wieder auf und sind zusätzlich unempfindlich gegen Sonnenlicht.
Die Parodie nimmt sich zu keiner Sekunde ernst, geizt nicht mit blutigen Szenen, irrwitzigen Einfällen, Zitaten bekannter Genregrößen und zündenden Running Gags, wie dem dauersaufenden Chief der örtlichen Polizei.
Dass der Film unter dem Banner von „Mr. Trash presents“ lief, verwundert dabei nicht. Fledermäuse sind unverkennbar aus Gummi und werden mittels sichtbarer Fäden bewegt, Raumschiffe augenscheinlich Plastikmodelle und ganze Gebäude Nachbauten aus Pappe. Dass bei diesem gewollten Trash dann auch Troma-Oberhaupt Lloyd Kaufman lustvoll stöhnt, versteht sich fast von selbst. Judith „Barbra“ O’Dea gibt sich ebenfalls die Ehre und darf eine weitere Filmikone persiflieren.
Vampire Zombies…From Space begeistert als kurzweilig Vergnügen mit dummen Wortwitzen, reichlich Blut und Gedärm – der perfekte Abschluss für den ersten Festivalabend!
Freitag, 11.04.2025
Abruptio (Evan Marlowe, USA, 2023)
Lebensgroße Puppen mit klar menschlichen Gesichtern, aber kalten, starren Augen und reduzierter Mimik als Protagonisten in unserer realen, gegenwärtigen Welt – Abruptio hat den Uncanny Valley-Effekt in grotesker Perfektion vollendet! Wir folgen Lester einem vom Leben abgehangenen 35-jährigen, der bei seinen Eltern wohnt, einem stupiden Job nachgeht und den seine Freundin jüngst verlassen hat. Zu allem Überfluss wurde ihm eine Bombe im Nacken eingesetzt, die hochgeht, wenn er nicht den mysteriösen Anweisungen auf seinem Handy folgt.
So geht es für Lester und das Publikum auf eine Fahrt, bei welcher der unbedarfte Mann zu allerlei unschönen Dingen gezwungen wird, um seine Haut zu retten. Da soll kurzerhand eine ganze Familie ausgelöscht werden, Leichen auf bestialische Weise entsorgt werden und überhaupt geschehen allerlei mysteriöse Dinge, von denen Lester nie zu träumen wagte.
Ein bisschen erinnert Abruptio dadurch an eine Schnitzeljagd, bei der man sich an jedem Zielpunkt aufs Neue überraschen lassen darf, was für ein grotesker Einfall als nächstes auf den Teilnehmer wartet. Was anfangs dank strengem Zeitlimit und des hohen Tempos an Crank erinnern kann, driftet gen Ende ins Fantastische ab, überrascht und überfordert leichtermaßen.
Doch schlussendlich ist dieser weirde Rausch eine Reise in Lesters tiefstes Innerstes und endet überraschend versöhnlich.
The Behemoth (Kai E. Bogatzki, UK/BRD, 2025)
Nachdem ich jüngst erst Kai Edmund Bogatzkis Erstlingswerk Scars of Xavier sah und mich dieser sehr positiv überrascht hat, hatte sich hinsichtlich seines neuesten Films The Behemoth eine gewisse Erwartungshaltung eingeschlichen. Denn allein der Inhalt stimmt hoffnungsvoll: Ein Pärchen verbringt den Urlaub in den Bergen und gerät dabei an einen geheimnisvollen Kult der „Servants of Blood“, die nichts Geringeres als die Wiedergeburt eines der alten Götter bewerkstelligen wollen, um die Erde zu reinigen.
Bogatzki lässt sein Paar und die Zuschauer erstmal ankommen und setzt, vom Foreshadowing des Prologs einmal abgesehen, auf eine gemächliche Erzählung, die der Charakterisierung der Protagonisten dienen soll. Doch bereits hier hat mich The Behemoth etwas enttäuscht: Das Pärchen fühlte sich für mich nie wirklich authentisch. Hinsichtlich einer späteren Entwicklung der Story mag dies Sinn ergeben, bei mir ließ sich allerdings nie eine stimmige Chemie zwischen den beiden erkennen, geschweige denn eine Form der Sympathie aufbauen.
Das war generell ein Problem, welches ich mit dem Film hatte: Er und ich wollten irgendwie nie so richtig zueinander finden. Oftmals kam mir der Spruch „Show, don’t tell!“ in den Sinn, denn die Figuren reden und reden, beschwören und prophezeien, aber so wirklich aus dem Knick wollte hier niemand kommen. Wenn die Katze aus dem Sack, beziehungsweise der wiedergeborene Gott aus dem menschlichen Gefäß entstiegen ist, ziehen Tempo und Spannung merklich an, aber man wird auch dann das Gefühl nicht los, dass Bogatzki fast schon zu viel wollte.
In bisschen Religionskritik hier, ein wenig Dämonenhorror da, noch eine Prise Hide’n’Seek und eine Portion Final Girl dazu. Wo The Behemoth hingegen überzeugen kann, sind die Effekte, der Score und die Bilder. Eine so denkwürdige Szene, wie der rückwärts und in Zeitlupe ablaufende Mord aus Scars of Xavier gelingt dem Regisseur dieses Mal leider nicht, die Rahmenbedingungen stimmen hier aber dennoch. So bleibt für mich der größte Kritikpunkt die Story – ein wenig mehr Input rund um den Kult und seine Machenschaften wären meinerseits wünschenswert gewesen.
So bleibt ein handwerklich souverän absolvierter Genrefilm aus Deutschland, der für mich leider zu sehr an seiner rudimentären Handlung und fehlenden Charakterbindung krankt.
Sayara (Can Evrenol, Türkei, 2024)
Mit Sayara hielt der erste Film des Director’s Spotlight Einzug beim Hard:Line Einzug. Den Stimmen, die man bereits im Vorfeld vernehmen konnte, war einhellig zu entnehmen: Sayara wird ein kompromissloses Brett. Bis es zum endgültigen Ausbruch kommt, vergeht einiges an Zeit. Doch bereits von Beginn an liegt hier eine Anspannung in der Luft, die sich immer weiter anstaut, um dann in einem gnadenlosen Rachefeldzug zu explodieren.
Auf dem ersten Blick zeigt sich Sayara als klassischer Rape’n’Revenge-Film, die dafür bekannt sind, in der ersten Hälfte das Leiden eines Opfers, mehrheitlich einer Frau, in den Fokus zu stellen. In der zweiten Hälfte wird die erlittene Pein jedoch von einem Rachefeldzug abgelöst und die Täter aufs Drastischste bestraft. Doch lässt sich im Film durchaus so mancher Inhalt finden, der hinter der brachialen Gewalt versteckt ist: Patriarchat, Machismo, Korruption, wiederkehrende, toxische Machtstrukturen.
In Evrenol muss viel Wut über die Zustände seines Heimatlandes stecken, denn wie er im anschließenden Q&A zu verstehen gab, sind die Geschehnisse der ersten Filmhälfte trauriger Alltag. Nicht umsonst beginnt der Film mit der unspezifischen Notiz, dass er auf realen Ereignissen beruht. Genau diese Wut wird von Hauptdarstellerin Duygu Kocabiyik ausdrucksstark verkörpert und entlädt sich auf brachiale Weise gegen jeden, der auch nur im Geringsten mit der Tat verbunden ist: Auch Ehefrauen. Auch Nannies. Auch Kleinkinder.
Evrenol liefert mit Sayara keinen Film ab, dessen Gewaltausbrüche man gemütlich mit Bier in der Hand feiert und der „Heldin“ anerkennend applaudiert. Sayara ist überaus schmerzhaft anzusehen, da die Gewalt stets im unmittelbaren Nahkampf stattfindet und die Protagonisten in intimster Nähe aufeinanderprallen. Viele Close-Ups auf leidende Gesichter, brechende Knochen und deformierte Körper ersparen der Fantasie beinah jegliche Arbeit.
Was eine spätere Veröffentlichung auf dem deutschen (Heim)Kinomarkt hinsichtlich einer Altersfreigabe bringen wird, bleibt vorerst mehr als spannend. Rechteinhaber in Deutschland ist Indeed Film, die dem Film eine limitierte Festivaledition (leider nur Hülle ohne Disc) spendiert haben, dem auch ein Werbeflyer für Blacklava Entertainment beiliegt, was unter Umständen auf eine mögliche ungeprüfte Veröffentlichung im deutschsprachigen Ausland hinweisen könnte.
Sayara ist unbequem, unglaublich brutal und in dieser Hinsicht vermutlich der ärgste Beitrag beim diesjährigen Hard:Line Film Festival.
It Feeds (Chad Archibald, USA, 2025)
Nach der unbarmherzigen Brutalität Sayaras findet sich mit It Feeds eine fast besinnliche Rückkehr zum klassischen Horrorfilm. Chad Archibald (u. a. Bite, Neverlost) begibt sich mit seinem neuesten Film in die düstere Gedankenwelt traumatisierter Menschen: Cynthia ist eine Therapeutin mit außergewöhnlicher Gabe, denn sie kann in die Psyche ihrer Patienten eintauchen und so erkenne, was diese belastet. Dabei gerät sie an einen besonders hartnäckigen und gefährlichen Fall, der zur Gefahr für sie und ihre Tochter werden kann.
Archibald bedient sich bekannter Tropes und erinnert stellenweise frappierend an Insidious, serviert das Ganze aber frisch zubereitet und optisch sehr hochwertig ausgestattet. Vor allem die Blicke in die seelischen Abgründe Cynthias Patienten sind abwechslungsreich gestaltet und überzeugen mit Detailarbeit. Was It Feeds auch sehr überzeugend gelingt: Er zeigt uns sympathische, nachvollziehbare Figuren, mit denen man gemeinsam die Luft anhält und mit deren Schicksalen fiebert.
Mich überkamen zwischenzeitlich auch immer wieder Erinnerungen an Mike Flanagans Before I Wake, was der Regisseur für mich im Q&A indirekt bestätigte, da der in seinem Film vorkommende Dämon für ihn sinnbildlich für ein bestimmtes Krankheitsbild steht. Überhaupt lässt sich eine gewisse Nähe zum Elevated Horror nicht abstreiten, da die Schreckgestalten in It Feeds eben mehr verkörpern als ein bloßes Monster. Verborgene Traumata, Verlust und Bewältigung sind immanenter Bestandteil des Films und lassen ihn zu sehr viel mehr als einer bloße Geisterbahnfahrt werden.
Trotzdem vergisst Archibald den eigentlichen Horror nicht: Die Schockeffekte sitzen und auch wenn diese oft als Jumpscare ihren Weg in den Film finden, werden sie nicht dröge auf Ewigkeiten aufgebaut, sondern sind öfter der Marke und kurz und bündig. Hier greifen Grusel, Emotionen und sympathische Rollen stimmig ineinander – so geht moderner Horror! Und, so viel Spoiler sei mir erlaubt, der heute fast schon untypische Ausgang der Geschichte stellt ungemein zufrieden.
Short & Hoart 1
Ganze neun Kurzfilme gab es im ersten Block der Short & Hoart-Reihe zu bestaunen, die hier einzeln zu besprechen, würde jedoch den Rahmen sprengen. Aufgrund der geringen Laufzeit je Film warteten hier aber erfahrungsgemäß die kurzweiligsten 90 Minuten des Festivals. Mal verläuft ein Film nach eher bekannten Mustern und Motiven, aber eines eint dann doch fast jeden einzelnen Beitrag: Kreativität, (schwarzer) Humor und eine gewisse Pointe regen wenigstens zum Schmunzeln an. Wer sich die Shorts entgehen lässt, ist selber schuld!
Samstag, 12.04.2025
Heresy (Didier Konings, Niederlande, 2024)
Witte Wieven, so der Originaltitel der auf „Weiße Frauen“, geisterhafte Gestalten in der niederländischen Folklore, Bezug nimmt, ist ein knackiger 60-Minüter, der uns in ein mittelalterliches Dorf im eisernen Griff der Gottesfürchtigkeit entführt. Dort lebt Frieda, die sich gemeinsam mit ihrem Gatten Hikko nichts sehnlicher als einen Nachfahren wünscht. Doch Gott scheint ihre Gebete nicht zu erhören und lässt ihre Vereinigung stets kinderlos. Als sich Frieda nach einem Zwischenfall in den gefürchteten Wald flüchtet, steht für die Dorfgemeinschaft alsbald fest: Frieda ist mit dem Teufel im Bunde.
Wer dabei an Werke wie The Witch, Hagazussa oder Nightsiren denkt, liegt goldrichtig. In Heresy schwebt, einer schweren Decke gleich, von Beginn an eine düster-trostlose Atmosphäre über den Geschehnissen. Frieda, die im Dorf eh schon mit Argwohn betrachtet wird, da sie unfruchtbar scheint, wird zur endgültig Verstoßenen, wenn sie in den Augen des Pfarrers eine teufelsanbetende Sünderin ist. Regisseur Didier Konings lässt dabei kein gutes Haar an religiösem Eifer und dem male gaze, zeigt in der Figur Frieda aber deutliches Empowerment als Ausweg aus diesen starren Strukturen.
Dabei gelingen stimmungsvolle Bilder, die später das triste Grau des verregneten Himmels mit strahlenden Farben austauschen und sogar mit einer beeindruckenden psychedelischen Sequenz faszinieren können. Heimlicher Star ist hier definitiv die Natur, insbesondere der dunkle Wald löst gleichermaßen Faszination und Erschaudern aus. Wie heißt es doch sinngemäß in Lars von Triers Antichrist: Die Natur ist die Kirche Satans. Neben den wunderschönen Naturaufnahmen überzeugt auch der wandelbare Score, der bei einigen Stücken an Projekte wie Heilung oder Wardruna erinnert. Bisher mein Überraschungsfilm!
Girl With No Mouth (Can Evrenol, Türkei, 2019)
Hat Evrenol mit Sayara nach wie vor den für mich heftigsten Film des Hard:Line Film Festival 2025 abgeliefert, so hat er gleichzeitig mit Girl With No Mouth den wohl herzerwärmendsten und massentauglichsten Film des Festivals im Gepäck gehabt.
Auch wenn die Ausgangslage alles andere als hoffnungsvoll stimmt, denn: In unbestimmter Zukunft sind durch einen Unfall Gifte freigesetzt wurden, welche die verbliebenen Kinder deformiert auf die Welt kommen ließen. Ihnen fehlen einzelne Sinnesorgane und sie werden gnadenlos von der sogenannten Corporation gejagt. Ein dieser Jäger ist Kemal, der Onkel von Perihan, dem titelgebenden Mädchen ohne Mund. Auf der Flucht vor ihren Häschern stößt sie auf drei weitere Kinder mit den Schäden des Unfalls und gemeinsam schlagen sie sich durch diese unwirtliche neue Welt.
Mit Girl With No Mouth konnte sich Evrenol endlich den lang gehegten Traum eines Kinderfilmes verwirklich, auch wenn er dabei nicht ganz aus seiner Haut kann und seinem Film trotzdem die ein oder düstere Szene hinzufügt. Dieser 2019 entstandene Film ist also noch immer nicht für die Kleinsten zu empfehlen, aber Kids mit 11, 12 Jahren sollten den Film durchaus verkraften können.
Und auch mich hat der Film ziemlich begeistert und abgeholt, weckt er doch nostalgische Gefühle an selbst als Kind erlebte Filme. Denn wie Evrenol im Gespräch angab, wollte er weniger einen Coming-of-Age-Film, sondern eher einen Kids on a mission-Film verwirklichen. Er selber hat den Vibe des Films mit Stand By Me oder der zweiten Hälfte aus Mad Max Beyond Thunderdome umrissen – und damit hat er einen ziemlich passenden Vergleich hergestellt. Denn Girl With No Mouth kuschelt sich behaglich in diese nostalgische Kuhle, präsentiert erstklassige Jungdarsteller, vermittelt wichtige Botschaften und rührt den hartgesottenen Horrorfan tief im kindlichen Herz.
Fréwaka (Aislinn Clarke, Irland, 2024)
Nach Heresy folgt am Samstag mit dem irischen Fréwaka direkt der nächste folkloristisch angehauchte Elevated Horror. In ihrem Film nimmt uns Regisseurin Aislinn Clarke mit ins irische Hinterland. Dort soll Shoo zeitweise die Pflege und Alltagsbegleitung einer eigenbrötlerischen Dame sicherstellen. Peig ist nach einem Sturz zwar auf die Unterstützung angewiesen, ändert für die Pflegekraft aber nicht ihre schrulligen Angewohnheiten.
Die Figuren überzeugen mit natürlicher Charakterisierung, durch ihre Ecken und Kanten werden sie enorm greifbar. Clarke war es besonders wichtig, die Rollen nicht perfekt erscheinen zu lassen, um sie plastischer zu gestalten. Das gelingt wunderbar, da man als Publikum prächtig die Perspektiven der beiden Frauen einnehmen kann. Grundsätzlich hat die Regisseurin die intime und persönliche Geschichte mehrerer Frauen in äußerst dunkle Bilder verpackt, die den emotionalen Inhalt fast schon überlagern. Fréwaka verzichtet auf Jumpscares, sondern beschwört einzig durch die düstere Bildsprache eine unglaublich intensive Atmosphäre herauf, die in so einigen Szenen für dicke Gänsehaut sorgt. In Verbindung mit dem dröhnenden Score gelingen hier wirklich herausragend unheimliche Szenen, ohne dass hier plakativ erschreckt werden müsste.
Denn offensichtlich kommt der Schrecken hier nicht ausschließlich auf den Sohlen von geisterhaften Gestalten, sondern fußt in einschneidenden Erlebnissen in der Vergangenheit der beteiligten Frauen, die als Bürde über Generationen weitervererbt werden, allmählich an die Oberfläche treten und ihren Tribut fordern. Hier findet sich auch der Titel wieder, der aus dem gälischen stammt und im weitesten „Wurzeln“ bedeutet.
Dass es Regisseurin Clarke dabei um reale Grundlagen ging, macht sie im Q&A deutlich: Alkoholismus, Suizide und seelische Erkrankungen sind in Irland weit verbreitete Phänomene, die den Betroffenen entweder als Ausweg dienen sollen oder eben als Folge der Verdrängung dieser Probleme auftreten.
Devils (Kim Jae-Hoon, Südkorea, 2025)
Body Switch meets Rachethriller: In Devils tauschen ein psychopathischer Killer und der ihm nachjagende Detective auf unerklärliche Weise die Körper. So wird der Kommissar im Körper des Verbrechers verhaftet, während der Killer im Körper des Polizisten genüsslich dessen Platz im trauten Eigenheim an der Seite von Frau und Tochter einnimmt.
Man kann es bereits ahnen, hier werden moralische Grenzen ganz in der Tradition ähnlicher Filme wie I Saw The Devil oder The Chaser ausgelotet. Devils bleibt auch formal seinen Genrekollegen treu, überzeugt mit erstklassiger Ausstattung, macht aber trotz der Hochglanzoptik keine Gefangenen in Sachen fragwürdiger Ermittlungsmethoden und damit einhergehender Gewaltanwendung. Mit dem Thema des Körpertauschs bringt er aber dennoch eine ganz eigene Note mit sich – und qualifiziert sich damit für den einen oder anderen Twist und Mehrfachsichtungen.
Möglichst wenig im Vorfeld über den Film in Erfahrung bringen und sich von der atemlosen Katz-und-Maus-Jagd zwischen Jäger und Gejagtem fesseln lassen. Denn hier gilt: Wer ist eigentlich wann was i dieser Beziehung?
Übrigens spielt Jang Dong-yoon den bestialischen Killer, der bereits in Project Wolf Hunting den abgefuckten Psycho mimte.
Short & Hoart 2
Beim zweiten Block der Kurzfilme gingen 8 Werke an den Start und ich sage an dieser Stelle nur so viel: Es herrschte wieder Abwechslungsreichtum, wenn es in der Summe mehr in Richtung Horror ging. Besonders überzeugt haben mich dieses mal der Bodycam/Found Footage angehauchte Body Worn Video mit düster-brutaler Sektenthematik und der sehr creepige Imago mit einer Art Erzählung einer Urban Myth. Sind wir gespannt, welche Filme am Sonntag Publikums- und Jurypreis für sich entscheiden können.
Sonntag, 13.04.2025
Sew Torn (Freddy Macdonald, USA/Schweiz, 2024)
Lola rennt Trifft auf die Cohen-Brothers! Schrullige Figuren verleihen dem Leben der begabten Schneiderin Barbara im beschaulichen Bergdorf der Schweizer Alpen etwas Würze – oder rauben ihr besser gesagt den letzten Nerv. Doch damit nicht genug, steht sie doch kurz vor der Aufgabe ihrer Schneiderei. Auf dem Heimweg von einer Kundin beobachtet sie einen Unfall und steht vor mehreren Entscheidungspfaden: Das perfekte Verbrechen, die Polizei rufen oder doch einfach nur abhauen?
Was Debütant Freddy Macdonald hier abliefert ist nicht nur in wunderschöne Alpenpanoramen eingebettet, sondern überzeugt durch Einfallsreichtum und Witz. Mit Spannung verfolgt man, wie sich die möglichen Lebenswege Barbaras entwickeln und was die junge Frau unternimmt, um ihrer Entscheidungen Herr zu werden. Dabei kehren einzelne Situationen und Figuren immer wieder, sind aber immer in einen anderen Ablauf eingebettet, wodurch die eigentlich stets gleiche Situation; Barbara will mit heiler Haut aus ihrer Misere entfliehen; neue und überraschende Eintwicklungen erfährt.
Es brillieren nicht nur alle Darsteller und schwarzer Humor, sondern auch ein teils herrlich konträrer Soundtrack und punktgenaues Editing. Wenn ihr also irgendwann die Möglichkeit haben solltet, den Film zu sehen: Unbedingt anschauen und vom hohen Tempo mitreißen lassen.
Baskin (Can Evrenol, Türkei, 2015)
Can Evrenols erster Spielfilm funktioniert auch 10 Jahre nach seinem Release noch immer ausgezeichnet. Baskin nimmt sich reichlich Zeit, um seine doch eher unsympathische Truppe machohafter Polizisten einzuführen. Wie auch später in Sayara lag in dieser Art der Charakterisierung Kalkül durch den Regisseur, sind genau diese Verhaltensweisen doch damals und heute traurige Realität in seinem Heimatland. Abgesehen davon wandelt Baskin auf äußerst fantastischen Pfaden. Von Beginn an schwebt eine schwer greifbare, albtraumartige Atmosphäre über dem Geschehen. Bis die Männer dann zum gerufenen Einsatzort, einem mysteriösen Vorort Istanbuls, gelangen, deutet sich bereits an, dass dort Böses in den Schatten lauert.
Bis sich dieses schleichende Unbehagen Bahn bricht, vergeht also reichlich Zeit, was Evrenol so von Beginn beabsichtigt hat, denn umso krasser wirken die finalen Minuten der Männertruppe. Die Cops geraten an einen erbarmungslosen Kult, bei dem Schmerz und Lust eine blutige Symbiose eingehen. Teils wird Baskin deswegen auch als türkischer Hellraiser betitelt. Wenn die Männer in dem verfallenen Gemäuer in ihre persönliche Hölle hinabsteigen, erwartet sie ein Albtraum aus grotesken Gestalten und Folter – in einer drastischen Szene perfekt untermalt von Riz Ortolanis Adulteress‘ Punishment aus Cannibal Holocaust. Wem dieses Musikstück geläufig ist, der kann sich sehr gut vorstellen, welch verstörend-unwirkliche Atmosphäre in den Tiefen des verwahrlosten Baus vorherrscht.
Viel dieser unbehaglichen Stimmung liegt im ruhigen, aber ehrfurchtgebietenden Schauspiel von Mehmet Cerrahoglu, der den Gebieter des ominösen Kultes darstellt. Durch seine angeborene Erkrankung, das GAPO-Syndrom, konnte er seiner Rolle noch einmal zusätzlichen Eindruck verleihen. Kurioserweise verfügte er bis zu seinem Auftritt in Baskin über keinerlei Schauspielerfahrung. Wie Regisseur Evrenol nach dem Screening bekanntgab, ist Cerrahoglu jedoch leider erst kürzlich verstorben.
Escape from the 21st Century (Yang Li, China, 2024)
Escape from the 21st Century kam die Ehre zuteil, das 12. Hard:Line Film Festival abzuschließen. Diese Aufgabe hat der chinesische Streifen mit Bravour gemeistert. Hier erwartet das interessierte Publikum eine wahre Wundertüte an Ideen und Humor. Insbesondere das erste Drittel ist so vollgestopft mit kreativen Einfällen, aberwitzigen Entwicklungen und skurrilen Charakteren, dass man mit dem Staunen, Lachen und Kopfschütteln kaum nachkommt – im besten Falle sogar alles gleichzeitig. Escape from the 21st Century kann aufgrund dieses überbordernden Wahnsinns aber auch anstrengend sein, denn der Film macht nicht nur inhaltlich riesige Sprünge (drei Jugendliche gelangen durch Zufall an die Fähigkeit, ihren 18-jährigen Geist in den Köper ihres 38-jährigen Ichs zu katapultieren und fortan zur Weltenrettung hin- und herwechseln müssen), sondern lässt sich auch formal mitnichten bändigen: Formatwechsel; Anime-Einschübe; Szenenübergänge; die komplette Farbpalette findet Anwendung, so dass der Film ein einziger Rausch wird. Unablässig wird aufs Gaspedal gedrückt, erst im Mittelteil reduziert Regisseur Li Yang für geraume Zeit das Tempo und schafft es dabei sogar noch, in all diesem bunten Wahnwitz eine überraschend aufrichtige dramatische Note zu etablieren.
Im letzten Drittel werden Tempo und Irrsinn wieder angehoben und der Film schafft es selbst dann immer noch, frische Ideen aus dem Ärmel zu schütteln. Vor allem, wenn in all diesem Chaos zum Schluss ein Hauch von Melancholie und Ernsthaftigkeit mitschwingt, die man diesem Wunderbonbon anfangs nicht zugetraut hätte. Die anfängliche Leichtfüßigkeit tritt dann etwas in den Hintergrund, der Film stimmt sogar nachdenklich, gibt mit „Let’s be better persons!“ aber genau den richtigen Anstoß und entlässt mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen hinaus in die Welt.
Abschließende Worte zum Hard:Line Film Festival 2025
Bevor es jedoch zum gerade vorgestellten Abschlussfilm kam, hieß es noch einmal kräftig headbangen, denn die Thrash-Metaller von Antipeewee brachten den Kinosaal mit rasanten Riffs und dröhnenden Drums ordentlich zum Beben. Danach durfte man kurzzeitig innehalten und die vergangenen 3,5 Tage Revue passieren zu lassen. Festivalleiter Flo präsentierte in seiner liebenswürdigen Art ein paar finale Fakten zum Hard:Line Film Festival 2025. Die am Eröffnungstag kundgegebene Auslastung von 99,3% hat sich durch die eine oder andere Absage von reservierten Tickets auf den geringfügig geringeren Wert von 98,9% reduziert. Verteilt auf alle Festivaltage fanden sich mit 2338 Besuchern aber noch immer über 10% mehr Besucher als im Vorjahr – Chapeau!
Neben der Nennung nackter Zahle lechzte die Menge aber natürlich vor allem nach der Bekanntgabe der diesjährigen Festivalgewinner. Bei den Kurzfilmen konnte sich Elevation den Preis der Fachjury, das heißt den Mèliès D’Argent und damit das Ticket zum Sitges Film Festival sichern. Das Silberne Razorblade und damit der Preis für den besten Kurzfilm aus Sicht des Publikums konnte mit Cosmic Crash eine so charmante wie blutige Claymation (Stop Motion mit Knetmodellen) ergattern. Das Goldene Razorblade durfte der noch immer anwesende Can Evrenol für seinen beinharten Racheactioner Sayara einheimsen.
Nachdem das Festival mit Escape from the 21st Century anschließend seinen endgültigen Abschluss fand, hieß es Abschied nehmen: Auf Wiedersehen liebe Filmfreunde! Auf Wiedersehen liebes Organisationsteam! Auf Wiedersehen Hard:Line-Family!