Mysterious Skin von Gregg Araki behandelt das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern zwar direkt, aber auch feinfühlig. Warum das Mediabook zum Film unbedingt empfehlenswert ist, lest ihr in unserer Rezension!
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No data available.Mysterious Skin – Handlung
Im beschaulichen Hutchinson, Kansas wird der Sommer des Jahres 1981 das zukünftige Leben der beiden Jungen Brian Lackey (George Webster) und Neil McCormick (Chase Ellison) nachhaltig prägen. Denn in diesem Sommer werden die beiden von ihrem Baseball-Trainer (Bill Sage) sexuell missbraucht. Während der schüchterne Brian das Erlebnis nicht verarbeiten kann und die traumatischen Stunden in einem Blackout verschwinden, genießt der frühreife, homosexuelle Neil die Aufmerksamkeit des älteren Mannes, der ihn als seinen Star des Teams auf kumpelhafte Art umgarnt.
Einige Jahre später verkauft sich Neil (Joseph Gordon-Levitt) neben der High School als Callboy für ältere Männer. Daneben macht der rebellische Jugendliche mit seinem ebenfalls schwulen Kumpel Eric (Jeffrey Licon) und der besten Freundin Wendy (Michelle Trachtenberg) das verschlafene Nest unsicher. Brian (Brady Corbett) hingegen hat das Erlebte immer noch verdrängt und versucht, den unheimlichen Blackout mit einer Entführung durch Außerirdische zu begründen…
Ein unbequemes Thema in verstörenden Bildern
Die Geschichte von Mysterious Skin behandelt ein wichtiges, wenn auch für viele Leute unangenehmes Thema. Der sexuelle Missbrauch von Kindern war und ist leider allgegenwärtig. Der Film von Gregg Araki konfrontiert den Zuschauer relativ schnell mit Bildern, die einem leicht aufs Gemüt schlagen können. Er brach mit dem Film das Tabu, den sexuellen Missbrauch explizit darzustellen. Dies geschieht aber nicht in obszöner, schmieriger Weise, sondern sehr einfühlsam und ruhig.
Diese Szenen sind dennoch sehr verstörend, für die Wirkung des Films aber auch entscheidend. Denn es ist wichtig für die folgende Erzählung, sich in die Figuren einfühlen zu können, schon bevor der Zeitsprung ein wenig schmeichelndes Bild der beiden im Teenager-Alter zeichnet. So wird verhindert, dass etwaige Antipathien aufgebaut werden, die dem Zuschauer einen unvoreingenommenen Blick auf ihre Gedanken und ihr Handeln verwehren könnten. In der zweiten Hälfte des Films, etwa sechs Jahre später, zeigen sich die Auswirkungen dieser Erlebnisse dann nämlich überdeutlich.
Sowieso scheint Gregg Araki, ein Vorreiter des New Queer Cinema, prädestiniert gewesen, das Buch von Scott Heim zu verfilmen. Seine Agenda umfasste schon immer die Rebellion gegen das Gutbürgerliche und Konservative und die Selbstfindung verunsicherter Heranwachsender, selbst die Motive außerirdischer Intervention sind seinem Œuvre nicht fremd. Trotzdem war es damals für ihn ein Wagnis, den Film zu drehen. Nach Splendor (1999), einer Tragikomödie nach fremden Drehbuch um eine Dreierbeziehung zwischen einer Frau und zwei Männern, war er bei nicht wenigen seiner Fans in Ungnade gefallen. Mysterious Skin wurde dennoch sein bis dato größter Erfolg.
Neil
Der kleine Neil erscheint wie das perfekte Opfer für seinen Coach. Er hat schon früh seine Sexualität entdeckt, auch fehlt es ihm an einer Vaterfigur. Der Trainer, hier bewusst namenlos gehalten als Platzhalter für die lauernde, nicht einfach zu fassende Gefahr, passt scheinbar genau in das Profil einer männlichen Person, nach der sich der Junge sehnt. Zudem gibt er sich noch als cooler Kumpel, der das neueste Spielzeug zuhause hat und für jeden Spaß zu haben ist. Dass er auch noch den frisch erwachten Gefühlen des Frühpubertierenden entgegenkommt, macht es für ihn umso einfacher und geht dann sogar so weit, dass der erst neunjährige Neil selbst zum Täter wird.
Als Jugendlicher hält er es für vollkommen normal, sich an seine, zumeist weit älteren, männlichen Partner zu verkaufen. Er weiß noch, was damals passiert ist, übertüncht es aber durch seine rebellische Ader. Zumeist fördert die Interaktion mit seiner besten Freundin Wendy und seinem Kumpel Eric das zutage, was in ihm vor geht. Regisseur Araki bleibt hier seiner Linie treu und zeigt uns die Bilder von Neils Begegnungen mit seinen Freiern, die denen des Missbrauchs sehr ähneln und uns diesen immer im Bewusstsein halten.
Sowohl Chase Ellison (Zahnfee auf Bewährung) in der jungen als auch Joseph Gordon-Levitt in der jugendlichen Version hauchen dem Rebellen glaubhaft Leben ein. Lustig dabei ist, dass Gordon-Levitt nach dem ersten Zeitsprung etwas zu alt für einen Fünfzehnjährigen wirkt, aber im Jahr darauf als High-School-Detektiv in Brick von Rian Johnson dann seinen Durchbruch feiern konnte. Als wichtiger Fixpunkt ist Jeffrey Licon mit seiner Performance als Eric unverzichtbar, was auch vergessen lässt, das wir nur wenig über ihn erfahren. Michelle Trachtenberg bekommt als Wendy leider kaum richtig Gelegenheit, sich auszuzeichnen.
Brian
Brian hingegen verdrängt das Geschehene schon am selben Abend, sein Unterbewusstsein baut sofort eine körperliche Blockade vor der traumatischen Erinnerung auf. Von da an fällt er jedes Mal in Ohnmacht und bekommt Nasenbluten, wenn er auch nur entfernt daran erinnert wird. Er ist kein willfähriges Opfer wie Neil, obwohl er in einer Familie aufwächst, die nur auf den ersten Blick intakt scheint. Er hat einen Vater, dessen Erwartungen er immer wieder enttäuscht. Seine Mutter umsorgt ihn liebevoll, ist aber berufstätig. Er ist nicht allein, kann sich jedoch niemandem anvertrauen, da er nicht einmal selbst weiß, was passiert ist.
1987 lebt Brian nur noch mit seiner inzwischen geschiedenen Mutter zusammen. Nach außen scheint er vollkommen normal, ist allerdings in seiner psychischen und sexuellen Entwicklung fundamental gestört. Während sich der offen homosexuelle Neil als Jugendlicher, quasi getrieben, von einem sexuellen Abenteuer ins nächste stürzt, ist Brian nicht in der Lage, sexuelle Gefühle zuzulassen, da er sie unterbewusst immer noch unterdrückt. Deswegen beginnt er, selbst nach der Ursache für seine anhaltenden Blackouts zu suchen, was sich in einer Kindheitserinnerung an eine UFO-Sichtung manifestiert. Ob diese Erinnerung nun wahr ist oder auch nur eine Schutzfunktion, bleibt dabei offen, ist aber auch nicht von Belang. Das Bindeglied zwischen Brian und Neil stellt Eric dar. Der findet in Brian einen neuen besten Freund, als Neil die Stadt gen New York verlässt.
Der kleine George Webster kann einen schon leid tun, muss er doch in seiner Rolle zumeist mit Nasenbluten zusammenbrechen, was er aber überzeugend hinbekommt. Brady Corbett (Funny Games US, Melancholia) gibt eine großartige Vorstellung ab, präsentiert den Charakter gleichzeitig verletzlich, aber auch intelligent und aufgeschlossen.
Die Mutterfiguren in Mysterious Skin
Beide Protagonisten leiden unter fehlenden oder unpassenden Vaterfiguren, hier sind die Mütter die wichtigste Bezugspersonen für die beiden Jungs. Das begünstigt in Neils Fall, dass er sich von seinem Coach verführen lässt, und bei Brian die automatische Verdrängung. Ersterer sehnt sich nach einer männlichen Bezugsperson, die ihm auch seine aufkommenden Gefühle erklären kann, letzteren fehlt eine männliche Vertrauensperson, die sein Vater, für den er eine Enttäuschung ist, eben nicht darstellt.
Mrs. McCormick, hervorragend dargestellt von Elisabeth Shue (Karate Kid, Piranha 3D), teilt mit ihrem Sohn eine gewisse Leichtlebigkeit. Sie weiß um seinen promiskuitiven Lebensstil, aber nicht in vollem Ausmaß. Sie toleriert es, weil sie ihm vertraut. Die beiden hegen ein eher kumpelhaftes Verhältnis, das auf Respekt und Vertrauen basiert und auch nur deswegen funktioniert. Die Freiheiten, die ihm seine alleinerziehende Mutter gewährt, geben Neil zwar den Freiraum, seinen schon an Selbstzerstörung grenzenden sexuellen Eskapaden nachzugehen, doch sind diese Freiheiten auch der Ausdruck des Vertrauens und der bedingungslosen Liebe, die sie ihm entgegenbringt. Es ist ein Rückhalt, eine Sicherheit, die ihm vor dem Untergang in der Kleinstadt-Ödnis bewahrt.
Auch Brians Mutter erweist sich als starke Frau, die ihrem Sohn über die Jahre Halt gibt. Sie nimmt ihn ihrem Mann gegenüber in Schutz, der ihn für einen Schwächling hält. Dabei scheint ihr Mr. Lackey unterlegen, sie untergräbt das traditionelle Rollenbild. Allerdings behütet sie ihn auch im Jugendalter sehr, er ist ihr Nesthäkchen. Annäherungsversuche eines Mädchens an ihren Schatz versucht sie beiläufig zu torpedieren. So wächst Brian ein wenig wie in einem Kokon auf, und seine Anfälle werden lange nicht hinterfragt, sondern einfach hingenommen. Das hemmt schließlich vor allem seine psychosexuelle Entwicklung, die durch das Trauma schon schwer gestört wurde.
Das Mediabook von Camera Obscura
Die Veröffentlichung von Mysterious Skin durch Camera Obscura lässt keine Wünsche offen. Damit kann das Liebhaber-Label an vorangegangene Releases wie River’s Edge und Der wilde Planet nahtlos anknüpfen. Das Mediabook selbst ist in stilvollem lila-blau gehalten und gut verarbeitet. Im Inneren befindet sich ein Booklet mit einem hervorragenden Text von Sofia Glasl, in dem sie auf Regisseur Gregg Araki und den Stellenwert dieses Films in seinem Gesamtwerk eingeht. Der Hauptfilm liegt in einer guten Bild- und Tonqualität vor, in deutscher Synchronisation und im englischen Originalton. Alternativ bietet die Blu-ray auch noch einen Audio-Kommentar mit Gregg Araki und seinen beiden Hauptdarstellern.
Auf der Bonus-Disc finden sich verschiedene Interviews, in denen u.a. Corbett und Gordon-Levitt nach zehn Jahren auf den Dreh zurückblicken. Besonders interessant ist eine Buchlesung mit den beiden, in denen sie die ersten beiden Kapitel des Buches vortragen. Hier wird auf der einen Seite sehr schön die Vorlagentreue der Verfilmung illustriert, wie auch die dramaturgischen Verkürzungen, die für das Filmskript nötig waren. Alles in allem bietet Camera Obscura ein lohnenswertes Gesamtpaket, das geradezu dazu auffordert, sich mehr mit dem Film zu beschäftigen.
Unser Fazit zu Mysterious Skin
Gregg Araki hat hier einen beeindruckenden und vor allem auch sehr wichtigen Film geschaffen. Er ordnet die Geschichte dem Thema unter, was sich teils in verstörenden Szenen niederschlägt, aber so auch umso tiefer ins Bewusstsein des Zuschauers fräst. Es geht Mysterious Skin nämlich nicht darum, seine Figuren zu entschlüsseln, sondern zu zeigen, wie das erlebte Trauma ihr Leben bestimmt und sie es nur sehr langsam verarbeiten, um den Zuschauer für diese Situation zu sensibilisieren. So gelingt es, nicht nur Verständnis für die Protagonisten zu wecken, sondern auch das Thema an sich nachhaltig in seinem Gedächtnis zu verankern. Dies alles kleidet der Regisseur in unvergessliche Bilder, die haften bleiben. Es ist ein großartiger Film, den Camera Obscura mit einer würdigen Veröffentlichung bedacht hat. Uneingeschränkt empfehlenswert!
Mysterious Skin ist am 21. August als 2-Disc Edition im Mediabook erschienen!
Unsere Wertung:
© Camera Obscura