Serienschöpfer David E. Kelley hat schon einige Hits zu verschiedenen Sendern und Diensten gebracht. Nun erscheint seine erste Netflix-Kooperation Anatomie eines Skandals. Lest in dieser Kritik, ob Kelley damit wieder seine gewohnte Qualität abliefert oder ob die Romanverfilmung sich eher negativ in die Filmografie einreihen wird.
Titel | Anatomie eines Skandals |
Jahr | 2022 |
Land | United States of America |
Genres | Drama |
Darsteller | Sienna Miller, Rupert Friend, Michelle Dockery, Naomi Scott, Josette Simon, Joshua McGuire, Sebastian Selwood, Amelie Bea Smith, Ben Radcliffe |
Länge | Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Anatomie eines Skandals – Die offizielle Handlungsangabe
Diese Psychothrillerserie ist ein fesselndes Gerichtsdrama, in dem persönliche und politische Skandale von Großbritanniens Elite bloßgelegt werden, wobei die Wahrheit irgendwo zwischen Gerechtigkeit und Privileg liegt. Das Ehepaar James und Sophie Whitehouse lebt ein sorgloses und ruhiges Leben. James’ Karriere verläuft steil – mit einem Ministerposten im Parlament und einer liebenden Familie zu Hause. Doch dann droht ein skandalöses Geheimnis alles zunichtezumachen. Die Prozessanwältin Kate Woodcroft verfolgt ihre eigene Karriere und ihre Anklage hat weitreichende Folgen für Westminster, die Whitehouse-Ehe und ihr eigenes Ansehen.
Diese Serienkritik bezieht sich auf die komplette Miniserie, verzichtet jedoch selbstverständlich auf Spoiler.
HBO > Netflix?
Erst vor kurzer Zeit hat Netflix einen klasse besetzten Thriller im Miniserienformat veröffentlicht, der wie Anatomie eines Skandals auch eine erfolgreiche Buchvorlage zur Basis hatte. In Ein Teil von Ihr wollte jedoch der Funke trotz Toni Collette nicht überspringen und leider schließt sich nun das nächste großangelegte Projekt ähnlicher Güteklasse diesem Trend an. Um einmal etwas weiter auszuholen: der Autor dieser Serienbesprechung ist grundsätzlich großer Fan vergleichbarer Serienproduktionen. Kurze, abgeschlossene und vor allem eher ernste und nachhallende Kriminalgeschichten sind eine eigene Serienliga für sich. Der Primus in dieser Klasse ist in den letzten Jahren der US-Sender HBO gewesen, der pro Jahr mindestens zwei bis drei Miniserien im Thriller-Genre veröffentlich hat, zu denen weltweit das Presseecho einhellig positiv war und die man größtenteils auch nach einiger Zeit Abstand noch guten Gewissens empfehlen kann.
Ob Sharp Objects, The Undoing oder im vergangenen Frühjahr Mare of Easttown, an diese Serienhighlights erinnert man sich zweifelsohne zurück. Der Vollständigkeit halber sei natürlich auch erwähnt, dass es auch bei Showtime oder immer mehr auch bei Apple TV+ Serien in diesem Bereich gibt, über die die Fan- und Fachwelt wochenlang diskutiert. Der Streaminggigant Netflix setzt nun seit einiger Zeit verstärkt auch bei den Verantwortlichen hinter den Projekten auf erfahrene Leute mit ruhmreichen Namen. Hier sollte nun mit einer David-E.-Kelley-Produktion augenscheinlich eine Qualitätsoffensive gestartet werden. Trotz der starken Besetzung und dem fähigen Personal in verantwortlicher Position erinnert in Anatomie eines Skandals jedoch wenig an die Qualitätsserien à la HBO. Die neue Netflix-Miniserie reiht sich vielmehr dort ein, wo man seit zwei bis drei Jahren mit den eher als Massenware einzustufenden Harlan-Coben-Krimis stets gut durchzuschauende Serien liefert, die man jedoch direkt nach dem Ende schon wieder vergessen hat.
Überbordender Einsatz von visuellen Tricks
Über die Gründe dieser qualitativen Diskrepanz ließe sich natürlich jetzt lang und breit schreiben, aber um es hier kurz zu halten, soll sich auf die offensichtlichsten Unterschiede konzentriert werden. Diese beginnen im Fall von Anatomie eines Skandals mit dem vergleichsweise viel zu überdramatisierenden Einsatz von optischen Spielereien, die definitiv das Prädikat „style over substance“ verdient haben. Sei es der Einsatz von Lens Flare, Unschärfe oder Zeitlupen – weniger wäre mal wieder mehr gewesen. Zusätzlich soll auch die dramatische Soundkulisse die Atmosphäre aufladen, schafft jedoch eher das Gegenteil. Das erinnert hier nie an die audiovisuelle Güte großer Vergleichsserien, sondern eher an – und das soll nicht abwertend verstanden werden – südeuropäische oder lateinamerikanische Telenovelas.
Kaum Verbindung zum Opfer möglich
Ein weiterer, signifikanter Unterschied zu den prägenden Shows des Genres, ist die meist in kurzer Zeit wahnsinnig ambivalente Figurenzeichnung. Allein schon von der Prämisse her erinnert extrem viel in dieser Geschichte an The Undoing mit Nicole Kidman und Hugh Grant. Auch diese Serie war nicht perfekt, aber sowohl Kidman als auch Grant ist es dort gelungen durch ihr nuanciertes Spiel dem Zuschauer genau soviel Wahrheit zu offenbaren, um immer ein gewisses Maß an Restzweifeln an ihrer Glaubwürdigkeit zu lassen. In Anatomie eines Skandals sind die Perspektiven so deutlich gewählt, dass man dem Publikum komplett abnimmt selbst ein (moralisches) Urteil zu fällen. Mit diesem Charakteraufbau, insbesondere im Hinblick auf die Flashbacks, nimmt man seiner Geschichte die Komplexität und damit schon im Keim die Möglichkeit mitzufiebern oder emotional anzuknüpfen.
Dazu kommt noch, dass vor allem das mutmaßliche Opfer der Vergewaltigung zu wenig zu Wort kommen darf und schnell dieser Konflikt für einen weiteren in den Hintergrund rückt. Das soll zwar als große Wendung der Story fungieren, ist aber erschreckend vorhersehbar und damit auch ohne Wirkung. Das Trio aus Selena Miller, Michelle Dockery und Rupert Friend bleibt erstaunlich blass. Weder zum Opfer bzw. zu den Opfern wird wirklich eine emotionale Bindung möglich, noch erzielen das finale Urteil und die Schlussszene die Wirkung, die man augenscheinlich intendiert hatte.
Ernüchternd austauschbar und zum Glück recht kompakt
Hängen bleibt, nachdem man die sechs Folgen gesichtet hat, kaum etwas. Das ist auch deswegen sehr schade, da das Thema „Einvernehmlichkeit zum Geschlechtsverkehr oder Vergewaltigung“ definitiv eines ist, das hier eine gute Diskussionsgrundlage hätte bekommen können. Die Nüchternheit mit der im Gerichtsprozess die Vorgänge des mutmaßlichen Vergewaltigungsakts geschildert werden, ist markerschütternd und mit Sicherheit sind es diese Momente, die man noch am ehesten im Gedächtnis behalten wird. Ansonsten ist die Miniserie jedoch kaum empfehlenswert. Auch wenn mit nur sechs mal knapp sechzig Minuten die Lauflänge angenehm übersichtlich für Netflix-Verhältnis ist, so sollten am ehesten noch die Zuschauer auf ihre Kosten kommen, die die hier im Text erwähnten Genre-Benchmarks nicht kennen. Ohne Vergleichswerte im Hinterkopf ist Anatomie eines Skandals doch eine solide inszenierte, überdurchschnittlich gespielte und flott vorgetragene Thriller-Serie.
Unser Fazit zu Anatomie eines Skandals
Der Versuch durch Miniserien-Mastermind David E. Kelley in die qualitativen Gefilde von HBO und Co. vorzustoßen ist mit Anatomie eines Skandals erstmal gescheitert. Die überstilisierende Inszenierung wird dem wichtigen Thema nicht wirklich gerecht und die überraschende Wendung ist zu plakativ, vorhersehbar und unglaubwürdig. Netflix hat also eher eine weitere Serie im Stangenwaren-Stil à la Ich schweige für dich und Co. kreiert, als dass man ein packendes Gerichtsdrama abgeliefert hätte, für das die Grundlage durchaus da gewesen wäre.
Anatomie eines Skandals ist ab dem 15. April komplett bei Netflix abrufbar!
Unsere Wertung:
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