Auch wenn es sich inzwischen schon rumgesprochen hat, dass eine Serie über eine medikamentensüchtige Schachspielerin wohl der Überaschungshit des Serienjahres ist, wollen auch wir die Das Damengambit in einer Ausgabe von 10 Reasons Why (Not) nochmal eindringlich würdigen.
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Titel | Das Damengambit |
Jahr | 2020 |
Land | United States of America |
Genres | Drama |
Darsteller | Anya Taylor-Joy, Chloe Pirrie |
Länge | Minuten |
Wer streamt? | Abonnement: Netflix, Netflix basic with Ads |
Das Damengambit – Schachtalent und Suchtpatient
Die auf dem Roman von Walter Tevis basierende Netflix Miniserie Das Damengambit ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden und den wahren Preis der Genialität. Die junge Beth Harmon (Anya Taylor-Joy) wächst in den späten 1950er Jahren in einem Waisenhaus in Kentucky auf, als sie ihr erstaunliches Talent für das Schachspiel entdeckt. Gleichzeitig wird sie von den Beruhigungsmittel, mit denen der Staat damals Kinder ruhig stellte, abhängig. Gejagt von ihren Dämonen und angetrieben von einem Cocktail aus Narkotika und ihrer Obsession entwickelt sich Beth zu einer extrem talentierten und glamourösen Außenseiterin, die die traditionellen Grenzen der von Männern dominierten Schachwelt einreißen will…
10 Reasons Why (Not)
(In unserem Kritikformat werden wir die Argumente, die für oder gegen einen Serienmarathon sprechen, ohne große Spoiler auf 10 Punkte kompakt bündeln. Abschließend gibt es eine Pro-Kontra-Gegenüberstellung mit einem kurzen Fazit. Dabei geht es uns nicht um eine folgenweise Analyse, sondern darum, auf gute Serien Appetit zu machen und vor schlechten Serien zu warnen, um für etwas Überblick im Serien-Dschungel zu sorgen.)
1. Das Damengambit macht Schach massentauglich
Zugegeben: Schach ist per se nicht gerade die telegenste unter den Sportarten. Die Faszination, die vom Spiel der Könige ausgeht, vollziehen wohl in erster Linie die nach, die selbst aktiv spielen. Von daher kann man jeden verstehen, der sich nicht gerade ein Quell an Spannung und Nervenkitzel auf Basis der nüchtern betrachtet voll auf das Schachspiel fokussierten Serie Das Damengambit verspricht. Was man jedoch den Skeptikern von vornherein versprechen kann, ist, dass es die Miniserie schafft, innerhalb von wenigen Minuten auch den größten Desinteressierten neugierig auf das Spiel zu machen. Nicht nur, dass man kein großes Vorwissen braucht, um trotzdem dem Sog des Netflix-Originals zu erliegen, auch die Art und Weise, wie man es schafft, die Erfolgsformel von Filmen über wesentlich publikumswirksamere Sportarten auf ein Brettspiel zu transportieren, ist ein wahrer Geniestreich.
2. Die Visualisierung des Spiels ist atemberaubend
Bedenken könnte man auch haben, ob es sich nicht schnell in Wiederholungen festfahren könnte, da man, von außen betrachtet, dann ständig nur unterschiedliche Personen beim Figurenrücken beobachtet. Doch auch diese Befürchtung kann ich definitiv zerschlagen. Schachspiele werden in Das Damengambit in zig verschiedenen Varianten optisch ansprechend dargestellt. Mal in Stop-Motion-Technik, mal als Schattenspiel an der Zimmerdecke, dann im Zeitraffer oder auch in dutzenden Splitscreen-Varianten. Die Tricktechniker durften sich hier definitiv nach besten Gewissen austoben und haben es geschafft, Abwechslung zu erzielen, ohne jedoch zu verspielt oder ziellos zu arbeiten.
3. Die Ausstattung bringt Kostümfreaks ins Schwärmen
Die Serie ist hauptsächlich in den Sechzigern angesiedelt und dementsprechend ist die Mode auch für heutige Maßstäbe fast schon museumsreif. Was die Kostümabteilung hier abgeliefert hat, ist ein weiterer ganz großer Pluspunkt des Formats. Denn die Kleidung ist nicht nur authentisch, was die zeitliche Dimension betrifft. Auch wird ganz bewusst die innere Entwicklung der Protagonistin mit den aufwendigsten Outfits gespiegelt. Anfangs als Waise im Heim noch in den ärmlichen, uniformen Kleidern klar und deutlich als gesellschaftliche Außenseiterin zu erkennen, wächst mit dem Erfolg im Schach dann auch das Selbstbewusstsein von Beth und dementsprechend extrovertiert beginnt sie, sich zu stylen. Ihr Hang zu exklusiver Designermode trägt dazu bei, dass man in den nur sieben Folgen unzählige Kostüme bewundern kann, die allesamt enorm detailreich und stimmig von Kopf bis Fußsohle sind.
4. Berliner und Berlin-Fans können die Drehorte entdecken
Spielen soll Das Damengambit an verschiedenen Schauplätzen rund um den Globus. Tatsächlich gedreht wurden viele der Szenen jedoch bei uns in der Bundeshauptstadt Berlin. So dienen verschiedene Locations als Kulisse für die Schachturniere unter anderem in Las Vegas, Mexiko oder Moskau. Wer also selbst einmal in Berlin zu Gast ist oder sogar dort wohnt, der kann sich vor Ort ein Bild der Drehorte machen.
5. Das Damengambit ist eine One-Woman-Show,…
Beth Harmon ist eine manchmal zerbrechliche, dann wieder unheimlich souveräne Frauenfigur und damit schauspielerisch alles andere als einfach. Zum Glück konnte man mit Anya Taylor-Joy wohl eine der talentiertesten jungen Künstlerinnen für diese Rolle gewinnen. Mit ihrer unvergleichlichen Aura schon so früh in der Karriere hat es dieses Talent schon beispielsweise geschafft, in Vollblüter als Psychopathin jedem Zuschauer Gänsehaut den Nacken hinunter zu jagen.
Wie sie jedoch in Das Damengambit das ganze emotionale Spektrum ihrer Rolle darstellt, hievt Taylor-Joy nochmals auf ein neues Level. Teils ist Beth manipulativ und setzt ganz bewusst die vorherrschenden Ressentiments gegenüber jungen Frauen zur damaligen Zeit ein, um ihre männlichen Gegenüber zu lenken. Dann wiederum offenbart sie insbesondere in Szenen, in denen sie auf sich allein gestellt ist, ihre fehlerhaft verlaufene Entwicklung zu einer eigenständigen Erwachsenen, wenn sie jegliches Maß bei Drogen- und Alkoholkonsum oder auch beim Umgang mit Geld vermissen lässt. Doch wenn sie dann in ihrem Refugium am Schachbrett Platz nimmt, blendet sie die Welt um sie herum aus. Anya Taylor-Joy schafft es, die Übergänge der Aggregatzustände der Beth Harmon derart fließend zu spielen, dass sie damit oftmals auch den Zuschauern über ihr wahres Befinden im Unklaren lässt und damit eine extrem spannende, weil mysteriöse Person bleibt.
6. … bei der aber auch jeder Nebendarsteller glänzt
Glücklicherweise spielen im Cast sämtliche Nebenrollen dem Schachtalent in die Karten, sodass sie erst so glänzen kann, wie sie es tut. Im gesamten Ensemble herrscht eine fantastische Chemie. Dies sorgt dafür, dass man es gut nachvollziehen kann, wenn Beth aus jeder Begegnung, aus jeder geknüpften Freundschaft etwas mitnimmt, was ihren fragilen Charakter ein bisschen mehr festigt. Sei es Bill Camp als erster väterlicher Mentor im Waisenhaus, der ihr das Schachspiel zeigt, sei es Marielle Heller als Adoptivmutter, die es schafft, Beth auch als heranwachsender Frau Selbstvertrauen einzuimpfen, oder sei es Harry Melling als einstiger Rivale, der ihr in mehrfacher Hinsicht in entscheidenden Situation dann als Freund die Augen aufs wesentliche zu richten schafft. Dazu kommen noch Thomas Brodie-Sangster und Marcin Dorocinski, die zwei ebenfalls spannende Schachgenies mit reichlich Exzentrik und doch viel Herz spielen.
7. Eine faszinierende Charakterstudie
Der Fokus des Siebenteilers liegt ganz klar auf dem Werdegang zur Schachkoryphäe von Beth Harmon. Nichtsdestotrotz ist Das Damengambit kein typisches Sportler-Biopic, bei dem der porträtierte Held durch Niederlagen angestachelt wird, dann seine Schwachstellen reflektiert und am Ende seiner Nemesis auf Augenhöhe begegnen kann. Da die junge Spielerin anfangs jeden Gegner nach Belieben dominiert, entwickelt sie eine ganz eigene Interpretation des Besiegtwerdens.
Man verfolgt also nicht bloß den üblichen Aufstieg und die zunehmende Stärke der Konkurrenten, sondern vor allem auch den ganz speziellen Lerneffekt, den eine verlorene Partie auf die sensible, leicht authistisch veranlagte Waise hat. Zudem machen der eigenwillige Umgang mit ihren Verehrern und vor allem auch die exzellent dargestellte Suchtproblematik die Serie zu einer dicht konstruierten Charakterstudie. Als Zuschauer ist man immer hin und hergerissen zwischen Wut über Beths Entscheidungen und Verständnis für Rückfälle auf Basis der Umstände ihrer Kindheit. Damit ist eine junge Schachspielerin wahrscheinlich mit die interessanteste Serienfigur, die uns 2020 beschert hat.
8. Jedes Bild ein Postermotiv, jedes Lied ein Ohrwurm
Nicht nur die Schachspiele an sich sind herausragend bebildert. Die ganze Serie hat einen enorm hohen Produktionswert und sieht einfach fantastisch aus. In Verbindung mit einem äußerst passenden Color Grading wirken viele Aufnahmen perfekt komponiert, sodass man sich die Motive reihenweise als Poster an die Wand hängen könnte. Und auch die akustischen Eindrücke bleiben weit nach Beenden der Serie noch im Gedächtnis. Der stimmige orchestrale Sound von Carlos Rafael Rivera (Godless) wird durch zahlreiche Hits der damaligen Zeit akzentuiert, die größtenteils bis heute Evergreen-Status haben. Damit kommen sogar Sinatra- und Aretha-Franklin-Fans voll auf ihre Kosten.
9. Ohne Leerlauf und genau zum richtigen Zeitpunkt beendet
Selbst bei der Lauflänge macht die Serie von Scott Frank (Logan) keinen Fehler und schafft es, ohne jegliche Längen zu einem runden Abschluss zu kommen. Von Folge eins bis Folge sieben lässt einen der Sog nicht los und sorgt dafür, dass man sich, ohne zu ermüden, die gesamte Staffel auch en bloc anschauen kann. Die Entwicklung der Persona Beth Harmon halten einen ebenso bei der Stange, wie die unterschiedlichen, teils skurrilen Gegner am Schachbrett oder die Aussicht auf das Endspiel gegen den Überspieler Bogov, dessen Ausgang hier keinesfalls so vorhersehbar ist, wie in “normalen” Sportdramen. Letztlich gelingt es gar ein Ende zu erzählen, das die Reise mit der lieb gewonnenen Beth zu einem konsequenten Abschluss bringt. Und trotz der oberflächlich beendeten Geschichte, bieten die letzten Einstellungen doch noch genug Raum für etwas Interpretation und Kopfkino.
10. Das Damengambit ist einfach ein Gesamtkunstwerk
Die Handlung von Das Damengambit ist abgeschlossen, und damit steht diese herausragende Staffel mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit als Gesamtwerk fest. Natürlich ist heutzutage eine Fortsetzung selbst nach dem perfekten Ende nie gänzlich auszuschließen. In diesem Fall kann man den Machern aber wohl vertrauen, dass sie genau wissen, das man dieses Werk für sich belassen sollte. Damit bleibt uns wohl eine Miniserie erhalten, die hohes Wiedersichtungspotential hat. Aufgrund ihrer Zeitlosigkeit wird sie noch in vielen Jahren gut anzusehen sein. Im Katalog von Netflix hat man von nun an ein Paradebeispiel für eine nahezu perfekte Miniserie, bei der alle Komponenten optimal zusammengeführt wurden.
Pro: 10 Contra: 0
Unser Fazit zu Das Damengambit
Um es noch einmal kurz auf den Punkt zu bringen: Das Damengambit ist der unerwartete Überraschungshit bei Netflix. Die Serie kam aus dem Nichts, wird aber noch lange als Vorzeigeproduktion im popkulturellen Gedächtnis bleiben.
Man weiß gar nicht, wofür man Scott Frank am meisten huldigen sollte. Für den gar nicht mehr notwendigen Beweis, dass Anya Taylor-Joy wohl eine der spannendsten Namen Hollywoods ist? Für eine authentische Zeitreise in eine Epoche, in der in Flugzeugen noch geraucht werden durfte? Oder für eine Werbung für eine zu Unrecht manchmal belächelte Sportart?
Kurzum: Danke für dieses Serienerlebnis und den kleinen Lichtblick im Jahr 2020! Man darf sich schon jetzt auf die nächsten Projekte freuen, die Scott Frank bald anpacken wird.
Das Damengambit kann seit dem 23. Oktober komplett bei Netflix gestreamt werden.
Unsere Wertung:
© Netflix