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The Painted Bird

Kompromisslos, hoffnungslos, brutal, düster – Eine körperlich anstrengende und psychisch erschütternde Erfahrung. Selten passte die Beschreibung als „Tour-de-Force“ besser als bei The Painted Bird. Warum das so ist und ob die Vergleiche zum sowjetischen Meisterwerk Komm und Sieh gerechtfertigt sind, oder die Fußstapfen, trotz internationaler Starbesetzung, zu groß sind, erfahrt ihr hier.

THE PAINTED BIRD Trailer German Deutsch (2019)

TitelThe Painted Bird
Jahr2019
LandTschechien, Ukraine, Slowakei
RegieVáclav Marhoul
DrehbuchVáclav Marhoul
GenreDrama, Kriegsfilm, Historienfilm
DarstellerPetr Kotlár, Udo Kier, Stellan Skarsgård, Harvey Keitel, Julian Sands, Barry Pepper
Länge169 Minuten
FSKab 18 Jahren freigegeben
VerleihBildstörung
Über dem Schriftzug des Titels, The Painted Bird, sieht man einen braunen Vogel, welcher mit einem weißen "X" markiert ist. Auf der linken Seite hinter ihm, befinden sich Federn in weißer Farbe, rechts ein Totenschädel im Profil. Unter dem Schriftzug, ist im Vordergrund eine Person zu erkennen, welche auf einen riesigen Brand im Hintergrund blickt.
Das Blu-ray Cover von „The Painted Bird“. © Bildstörung

Die Handlung von The Painted Bird

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wird ein jüdisches Kind, das fortan nur noch als „der Junge“ bezeichnet wird, von seinen Eltern in weiser Voraussicht irgendwo in Osteuropa aufs Land geschickt, um vor Schlimmerem bewahrt zu werden. Als nun die ältere Pflegemutter stirbt, ist der Junge plötzlich auf sich alleine gestellt.

Schon die Eröffnungssequenz legt auf erschreckende Weise die Stimmung gegen den Jungen fest: er wird brutal von anderen Kindern angegriffen. Während er mit aller Kraft versucht, es zu schützen, wird sein Haustier bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein ungerechter Kampf, ein sinnloses Wehren, ein Aufflackern voller Symbolik. So endlos diese Qualen scheinen, sind sie doch ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird: widerwärtige Erniedrigung und gnadenloser Missbrauch von verblendeten Bauern, rücksichtslosen Soldaten und niederträchtigen Opportunisten. Das Licht am Ende des Tunnels scheint unfassbar fern.

Dantes „acht“ Kreise der Hölle

Die Handlung ist episodisch in acht Kapitel unterteilt, jedes benannt nach einer neuen Bekanntschaft des Jungen. So kommt Struktur in anderenfalls gänzliche Orientierungslosigkeit. Wie viele Kilometer ist der Junge gereist? In welche Richtung, in welchem Zeitraum? Nur eins scheint sicher: wenn der Bildschirm ein weiteres Mal ins Schwarze blendet, hat er das nächste Schreckens-Kapitel über sich ertragen lassen müssen. Die Richtung ist also doch klar: er dreht sich im Kreis. Was er auch tut, er findet weder Zugehörigkeit noch Akzeptanz.

DIE Schlüsselszene des Films, welche das untermauert, ist ungeachtet der sonst so unzweideutigen rauen Töne, metaphorisch und nahezu poetisch angehaucht: ein Vogel wird weiß angemalt und hoch in die Lüfte entlassen, zu seinen Artgenossen. Allerdings fliegt dieser nicht munter mit dem Schwarm, sondern wird von ihm umgehend zerfetzt. Anders auszusehen, Anderssein hat sein entsetzliches Schicksal besiegelt. Anderssein ist tödlich.

Eine Hand hält einen bemalten kleinen Vogel. Er schaut nur mit dem Kopf aus der geschlossenen Faust hervor.
Der titelgebende „Painted Bird“. © Bildstörung

Dunkle Haare, dunkle Augen, dunkle Bekanntschaften

The Painted Bird ist nicht nur ein Kriegs-/Holocaust-Film, er ist eine Anklage gegen unmenschliches Verhalten allgemein. In vielen Szenen rückt der Krieg in den Hintergrund und man erahnt, dass Figuren auch in anderen Zeiten ähnlich abscheulich handeln würden. Viel hat mit einer stark voreingenommenen, radikalen, rassistischen und abergläubischen Gesellschaft zu tun.

Unter den vielen Charakteren, die unser Protagonist unfreiwillig trifft, befinden sich große Namen wie Udo Kier oder Alexander Skarsgård. Besonders Harvey Keitel bleibt als Pfarrer in Erinnerung, eine der wenigen gutmütigen Figuren. Insbesondere, weil er, wie auch andere Teile des Ensembles, eigens ein Hybrid-Interslawisch spricht, sodass diese nicht mit einem bestimmten Land in Verbindung gebracht werden können.

Der Film ist über weite Strecken äußerst pessimistisch, denn selbst die wenigen Lichtblicke sind mit Vorsicht zu genießen: Der Pfarrer geht etwas zu naiv mit dem neu gewonnenen „Sorgerecht“ um und der väterliche Freund Barry Pepper ist darauf bedacht, dem Jungen die effizienteste Art des Tötens zu demonstrieren… . Ein Gefühl des Foreshadowing lässt einen nicht los. ”Was wird er/sie jetzt gleich schon wieder Ekelhaftes mit ihm vorhaben“, kommt in den Sinn, wenn ein neuer, meist verkommener Charakter eingeführt wird. Ein wahrhaftig perfider Survival-Film.

Staffelübergabe

Die zurückhaltenden Backstories bergen nur noch mehr Finsternis, erfahren wir nämlich nie die Beweggründe der Figuren und doch fühlen sie sich gelebt, real an. Über unseren wortkargen „Jungen“, Petr Kotlár, erfahren wir ebenso wenig. Gewöhnlich ist sein Nicken mit dem Kopf das Höchste aller Gefühle. Seine dunklen Augen wirken fast tot, erzählen und enthüllen nichts, wie eine Puppe, die teilnahmslos über sich ergehen lässt, was denn sein muss. Als ”die Augen eines Vampirs“ werden diese leisen, zurückhaltenden, dennoch ungeahnt tiefen Fenster zur Seele bezeichnet.

Auf der einen Seite spiegelt Kotlár das Publikum wider – beobachtend, ohnmächtig einzugreifen – auf der anderen Seite kann man sich weder mit ihm noch einer anderen Figur wirklich identifizieren. Dies ist zugleich der größte Unterschied zu dem geistigen Vorbild Komm und Sieh. Die Verbindung liegt nahe, da Alexei Krawtschenko eine kleine Nebenrolle verkörpert. Seine Transformation, Verrohung und Traumatisierung bekommen wir im sowjetischen Klassiker hautnah mit: vom euphorischen Möchtegern-Partisanen zu einem gebrochenen „alten“ Mann. Wir werden auf eine Reise mitgenommen.

Kotlár ist hier etwas jünger (auch wenn absichtlich lange Dreharbeiten innerhalb von 16 Monaten stattfanden, um ihn sichtbar altern zu lassen) und steht zwischen kindlicher Naivität – wenn er einem Verletzten etwas „Verlorenes“ zurückgibt – und abgestumpfter Neutralität. Keine bekannten Stilmittel (aufbäumende Musik etc.) werden eingesetzt, um das Publikum emotional zu ködern. In gewissem Sinne arbeitet der Film mit Brechts Verfremdungseffekt. Unser Protagonist, wenngleich im Zentrum, wahrt eine gewisse Distanz zu den Gewaltexzessen, welche wir wiederum noch objektiver wahrnehmen. Der innere Zerfall, das rapide Altern, die Katharsis war in Komm und Sieh vielmehr Teil des Character-Arcs, der Junge in diesem Film scheint von Anfang an gebrochen.

In einem Zelt, sitzen links und rechts zwei ältere Männer in Uniformen und blicken den jeweils anderen an. In der Mitte, unscharf I'm Hintergrund, steht ein kleiner Junge und blickt zu ihnen.
Barry Pepper, Petr Kotlár und Alexei Krawtschenko. © Bildstörung

Einmal in die Finsternis und (nicht?) zurück

The Painted Bird klingt schon nahezu wie ein Exploitation-Film. Das Tempo an Exzessen, das der Film vorlegt, von Tierquälerei, sexuellen Perversionen bis hin zu unverblümten Morden, ist absurd und lässt etwaige Brutalitäten für das Publikum beinahe schon zur Routine werden. Die Menschen hier sind von Grund auf grausam, gnadenlos. Jedoch ist Regisseur Marhoul bei genauerer Betrachtung äußerst diszipliniert bei der Entscheidung, was gezeigt wird. Innerhalb der Szene ist nur das absolut Notwendige wirklich zu sehen, ohne ins Geschmacklose abzudriften.

Der Film spielt mit unserer Vorstellungskraft und lässt das eigentliche Geschehnis im Kopf stattfinden. Man könnte meinen, alles explizit haargenau gesehen zu haben. In Rosemaries Baby haben wir das namensgebende Kind schließlich auch in Gänze gesehen… oder?

The Painted Bird überschreitet nicht die Grenzen der Genrekonventionen. Jedoch ist der Vergleich zu einem Horrorfilm nicht weit hergeholt, beschäftigt sich der Film doch mit den inneren Abgründen in Extremsituationen, eine Sozialstudie und Psychogramm, die von einer Schockszene zur nächsten springt, ähnlich wie Saw.

Kausalitätskette des Grauens

Bei aller Frequenz von Gewalt, trägt die dunkle Atmosphäre voller Vorahnungen den Film. Trotzdem sind die Geräusche und „Resultate“ nichts für schwache Nerven, speziell eine Szene, welche stark an einen Tatort aus Sieben erinnert. Nicht die visualisierte Brutalität macht es so schwer zu ertragen, vielmehr die Radikalität des Gesamtwerks. Während wir dies alles über uns ergehen lassen, fühlen wir eine immer stärkere Verbindung zum Schicksal des Jungen. Wird er diesem buchstäblichen Teufelskreis jemals entfliehen können?

Geschickt weggeschnitten

Es ist schon erstaunlich, wie die Kameraarbeit und der Schnitt es bewältigt haben, Kotlár immer präsent zu haben, betrachtend oder eingebunden. Oftmals ist nicht zu erkennen, wie eine Szene gedreht wurde, um genau „diese“ Einstellungen zu kreieren. Die Dreharbeiten für den Jungen waren natürlich sicher, auch wenn manche Shots fast schon daran zweifeln lassen. Während Krawtschenko von echten Kugeln berichtete, die ihn am Set um Haaresbreite verfehlten, sieht man hier wie ausgefeilt die Kamera postiert wurde, um die Illusion zu erzeugen, Kotlár würde bei einer Verstümmelung zusehen.

Stilistisch nutzt der Film vorwiegend auf Visualität. Dabei baut er eine niederschmetternde Kraft in Thema, Umsetzung und Ästhetik auf, erinnernd an The Witch. The Painted Bird wartet mit unvergesslichen Bildern auf, komplett in Schwarz-Weiß und weitestgehend ohne Soundtrack werden wunderschöne Landschaften in atemberaubenden Bildern festgehalten. Düster und dem Ton entsprechend, aber ästhetisch. Der Film bringt einen damit in konstantes Grübeln. Gleich der Soundtrack-Dissonanz, passt Gesehenes und die Ansehnlichkeit nicht überein und man fragt sich ob man diese Gräuel schön finden darf?

Every Frame a Painting

The Painted Bird ist bildlich eine Hommage an mehrere osteuropäische Klassiker – Ivan’s Kindheit, Andrei Rublev, Marketa Lazarová – tonal treffen es jedoch die Werke von Béla Tarr am besten. Schmerz, Perspektivlosigkeit, fatalistische, apokalyptische Ansichten – die menschliche Existenz am Boden. Wenig Filmemacher suggerieren ein so depressives, Menschen-verurteilendes Bild wie Tarr, diese 169 Minuten Odyssee des nicht enden wollenden Elends, in all seinen Facetten, kommt aber nah heran. Die Tag-Line könnte lauten: Die vielen Wege ein Kind zu misshandeln – Seelisch und Körperlich.

Links, in der Mitte und rechts stehen mehrere bewaffnete Soldaten und unterhalten sich in einem Wald. Zwischen den Bäumen im Hintergrund, hängen mehrere Menschen kopfüber an den Füßen aufgehängt.
Dem Jungen bleiben unmenschliche Anblicke nicht erspart. © Bildstörung

Unser Fazit zu The Painted Bird

The Painted Bird raubt einem die Kraft. Drei Stunden Horror-Achterbahn, in denen einem gut schlecht werden kann. Die Laufzeit ist für sich genommen nicht zu lang. Für das, was der Film schlussendlich präsentiert, aber schon. Ein, zwei Kapitel zusammengefasst oder gleich ganz gestrichen hätten keinen Abbruch getan.

Eine weitere Ähnlichkeit zu Tarkovsky, Tarr etc. ist nicht von der Hand zu weisen: der Impact, den dieser Film besitzt, ist im wahrsten Sinne des Wortes angsteinflößend. Kein Schindlers Liste, dennoch ein Erlebnis, eine Tortur, die eine lohnende Betrachtung darstellt. The Painted Bird ist ein Film, der über einen langen Zeitraum im Gedächtnis bleibt, nicht nur als Schocker, sondern auch als Anreger von Diskussionen und Gedanken z.B., ab wann man einem Menschen die Menschlichkeit absprechen kann.

Eine surreale Erfahrung, die weh tut, ganz besonders in der aktuellen weltpolitischen Lage, aber ein Zeugnis des Überlebens angesichts jeder Form der Unterdrückung und des Missbrauchs ausdrückt.

The Painted Bird ist ab dem 06.05.22 auf Blu-ray und DVD von Bildstörung erhältlich. Beide Versionen glänzen mit umfangreichen Bonusmaterial sowie Booklet! 

Unsere Wertung:

 

 

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© Bildstörung

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