In unserer Reihe Top of the Decade stellen wir euch die jeweils 10 besten Filme einer Dekade vor. Dieses Mal: Die Filme der 60er.
Neu soll’s sein: Die Filme der 60er
Die 1960er waren ein turbulentes Jahrzehnt. Bürgerrechtsbewegung in den USA, Studentenbewegung in Deutschland. Bau der Berliner Mauer, Kubakrise, Eskalierung im Vietnamkrieg, die Ermordungen an unter anderem John F. Kennedy, Malcom X und Martin Luther King, Manson-Morde. Aber auch: Mondlandung, Flowerpower, Pop-Art, Beatles, Rolling Stones, Woodstock. Auch die Filmwelt wurde ordentlich durchgeschüttelt. Während das Fernsehen weiter erstarkt, beginnen die 60er mit einem Fast-Bankrott des Studiosystems. Das zieht auch das Ende des veralteten Production Code nach sich, der Filmemachern vorschrieb, was sie zeigen durften. Zunächst in Europa, später in die USA überschwappend, mehrt sich das Autorenkino, auch weil Low-Budget-Produktionen ein immer größeres Interesse der Zuschauer gewinnen können.
Alles auf neu: In Frankreich tritt Jean-Luc Godard mit Außer Atem, einer rebellischen Hommage an den Film noir, die Nouvelle Vague los, der Neue Deutsche Film und New Hollywood sollten folgen. In Italien lernt man unterdessen mit Federico Fellini das Träumen und Sergio Leone tischt uns einen neuen filmischen Hochgenuss auf: Den Spaghetti-Western. Weiter im Norden verdunkelt Ingmar Bergman mit seinen düsteren Visionen weiterhin die Filmlandschaft. Das Fernsehen wird die unterhaltungsindustrielle Institution, das Kino endgültig zum Raum künstlerischer Entfaltung. Und während das Filmschaffen durch die neuen Strömungen erstmals mit vollem Recht als intellektuell bezeichnet werden kann, erkennen wir dank James Bond gleichzeitig: Film darf auch einfach nur Spaß machen.
Die besten 10 Filme der 60er
Kein Filmjahrzehnt war so ambivalent wie die 1960er Jahre. Während das aufwendige Musical Meine Lieder – meine Träume als letztes Aufbäumen des alten Hollywood gilt, setzten junge Regisseure wie Francis Ford Coppola, Martin Scorsese oder Peter Bogdanovich erste Duftmarken. Auch die Stunde der Frauen hatte geschlagen, sie wurden deutlich präsenter auf der Leinwand und erhielten komplexere und facettenreichere Rollen. Sich auf zehn Filme zu beschränken und diese auch noch in eine Reihenfolge zu bringen, fällt dementsprechend extrem schwer. Eine Auswahl etlicher Filme, die den Sprung in die Top 10 knapp verpasst haben, findet ihr deswegen unterhalb folgender Liste.
10. Achteinhalb (Federico Fellini, 1963)
Federico Fellinis vielschichtiges Meisterwerk ist einer dieser Filme, die man immer wieder gerne sieht, etwas Neues entdeckt und der dabei nie etwas von seiner Faszination einbüßt. Das im Kern autobiographische Werk flieht dabei zusammen mit seinem Protagonisten in wahnsinnige und beeindruckend choreographierte Traumsequenzen, die sowohl die Ernsthaftigkeit als auch die Leichtigkeit des Lebens akzentuieren. Und wie bei allen Werken des italienischen Autorenfilmers gilt: Spätestens, wenn die Figuren das Tanzen beginnen, wird noch einem jeden Zuschauer ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Fellinis Abrechnung mit den großen Erwartungen, die an einen gefeierten Regisseur in der Schaffenskrise gesetzt werden, wirft die Frage auf: Ist es überhaupt möglich, künstlerische Inspirationen zu bekommen, wenn der Kreative ständig von allen Seiten bedrängt wird? Offensichtlich schon, denn mit Achteinhalb holte Fellini seinen mittlerweile dritten Oscar für den besten fremdsprachigen Film nach Italien. Absolut verdient.
9. Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7 (Agnès Varda, 1962)
„Ich glaube, ich bin glücklich.“ – Cléo
Doch erst einmal bekommt die junge Sängerin eine Horrornachricht: Sie leidet womöglich an Krebs. Zwei Stunden später wird Cléo die endgültige Diagnose erfahren. Bis dahin streift sie gedanken- und ziellos umher, kauft sich einen Hut, schmust ihre Katzen, besucht ein paar Freunde. Die eigenwillige Melange aus Melodrama und leichtlebiger Komödie wird nahezu in Echtzeit erzählt. Und während das für die titelgebende Hauptfigur einen quälend langen Moment der Ungewissheit bedeutet, verstreicht die Laufzeit von knapp 90 Minuten für den Zuschauer wie im Fluge. Corinne Marchand verpasst ihrer Figur einen ungeheuren Charme und Regisseurin Agnès Varda, die „Großmutter der Nouvelle Vague“, dem Film eine liebevolle Leichtigkeit. Cléos letzter Satz im Film wird „Ich glaube, ich bin glücklich“ sein. Wir sind es definitiv.
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8. Rosemaries Baby (Roman Polanski, 1968)
Zu Beginn werden wir mit dem von Hauptdarstellerin Mia Farrow eingesungenen Lullaby und der kitschig-rosafarbenen Titelschrift im wahrsten Sinne des Wortes, ja, eingelullt. Wenn wir das Lied zum zweiten Mal hören – zum Abspann – macht sich dagegen Unbehagen breit. Die Kamera klebt von den ersten Minuten an förmlich an der von Farrow gespielten Rosemarie, wir folgen ganz ihrer Geschichte. Umso rätselhafter, frustrierter und paranoider bleibt der Zuschauer die meiste Zeit des psychedelischen Horrortrips. Realität vermischt sich immer mehr mit Wahnvorstellungen und Verschwörungsgedanken. Die Atmosphäre von Roman Polanskis raffiniertem US-Debüt verdichtet sich schleichend und meisterhaft durch Musik, Kamera und Schauspiel, die Einleitung in das obskure Finale wirkt umso spannender. Flehentlich erwarten wir die Auflösung. Und die ist schockierend, gruselig und längst (ok)kultig.
7. Die Verachtung (Jean-Luc Godard, 1963)
Wenn Raoul Coutards Kamera im strahlend mediterranen Licht von Capri schwelgt und dabei untermalt von den sanften, melancholischen Klängen Georges Delerues das todtraurige Scheitern einer Liebe im weiten Scope-Format einfängt, dann ist das nicht weniger als auf seine eigene Art und Weise bezaubernd. Und wenn der wunderbare Michel Piccoli auf die verzückende Brigitte Bardot in einem halbstündigen Streitgespräch trifft, dann ist das nicht weniger als herzzereißende, aber immer schön anzusehende Filmkunst. Godards Odyssee über eine Beziehung – und das Filmemachen – ist einer dieser Filme, in die man sich ob seiner schier unglaublichen Schönheit leicht verlieben kann. Die Verachtung ist dabei eines der fast schon ungewöhnlich geradlinig erzählten Werke des Jean-Luc Godard und wirkt weniger als ein Außer Atem oder Elf Uhr Nachts wie eine filmische Kunstinstallation oder Collage, lässt aber absolut nichts von der Kunstfertigkeit des französischen Auteurs und früheren Filmkritikers missen.
6. Der eiskalte Engel (Jean-Pierre Melville, 1967)
Manchmal macht’s der Minimalismus. Nachdem wir zu Beginn mit einem Vertigo-Effekt in die triste Welt von Der eiskalte Engel gezogen werden, dauert es ganze zehn Minuten, bis die ersten Dialogzeilen in Jean-Pierre Melvilles Klassiker gewechselt werden. Und das obwohl wir dem Protagonisten Jef Costello (großartig: Alain Delon) von Anfang an auf Schritt und Tritt folgen. Dessen eiskalte Handlungen als routinierter Profikiller werden von wunderbar elegischen Jazz-Klängen des Komponisten François de Roubaix begleitet. Passend dazu wirkt selbst das sonst so oft romantisierte Paris komplett unterkühlt. In der französischen Metropole erwarten uns zwielichtige, undurchsichtige Figuren, eine der spannendsten Verfolgungsjagden aller Zeiten und ein bittersüßes Ende für die Filmgeschichte. Selten strahlte ein Film – und ein Protagonist – mehr Coolness aus.
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5. 2001: Odyssee im Weltraum (Stanley Kubrick, 1968)
Das Finale ist rundherum ein cineastisches Wunder, eine enigmatische und visuell beeindruckende Reise in eine andere Dimension, in der Zeit und Raum keinerlei Bedeutung haben. Der psychedelische Trip durch den sich dauerhaft in Form und Farbe wandelnden Lichtkorridor, der uns zu diesem philosophisch-intellektuellen Ereignis führt, krönt Stanley Kubricks tricktechnisches Meisterwerk. Eines, das damals freilich noch komplett ohne Computer, sondern nur mit dem intelligenten Einsatz von Modellen und Licht verwirklicht wurde. Mit 2001: Odyssee im Weltraum entfaltete Kubrick endgültig seine visionäre Kraft, mit der er auch in den Jahrzehnten danach noch einige Meisterwerke schuf.
4. Lawrence von Arabien (David Lean, 1962)
Thomas Edward Lawrence führte im Ersten Weltkrieg verfeindete arabische Stämme gegen die mit Deutschland verbündeten Türken an. Doch David Leans Epos ist im Wesentlichen kein Film über Krieg oder Politik, sondern vielmehr ein Trip in eine am Rande des Wahnsinns stehende Psyche. Während die in Jordanien gedrehten Wüsten-Szenen von extremen Weitaufnahmen dominiert werden, bleibt die Erzählung dabei stets ganz nah an Lawrence. So entsteht in der sandigen Einöde und unter gleißender Sonne ein packendes Charakterporträt über eine eigenartige, undurchsichtige und schillernde Persönlichkeit. Und selbst nach den stolzen 227 Minuten sind wir uns noch nicht sicher: Wer war dieser Mann eigentlich? Genau das macht Lawrence von Arabien zu einem der besten Monumentalfilme aller Zeiten – dementsprechend wurde er auch mit immerhin sieben Oscars ausgezeichnet, unter anderem für den Besten Film.
3. Psycho (Alfred Hitchcock, 1960)
Muss man hierzu noch etwas sagen? Die Duschszene, in der in hastigen Schnitten in gerade einmal 45 Sekunden ganze 70 (!) unterschiedliche Kamerapositionen gezeigt werden, und deren entsetzlicher Inhalt von den schrillen Klängen des legendären Bernard Herrmann untermalt werden, kennt ein jeder. Sie ist die vielleicht ikonischste Szene der Filmgeschichte, massenhaft kopiert und in ihrer Intensität nie mehr erreicht. Doch abseits der messerscharfen Inszenierung ist Hitchcocks zeitloses Meisterwerk auch inhaltlich grandios. Allein der Mut, dass er vor mittlerweile 60 Jahren seine vermeintliche Hauptdarstellerin bereits im ersten Drittel des Films bestialisch ermorden lässt, zeugt von wahrer Größe. Allgemein sind große Teile der Handlung – und der Inszenierung – reine Ablenkungsmanöver, die den Zuschauer in die Irre führen. Psycho ist wahrlich die Mutter (hihi) aller Psycho-Thriller.
2. Zwei glorreiche Halunken (Sergio Leone, 1966)
Ein Trio zwielichtiger Typen verteilt sich gleichmäßig auf einem runden, steinigen Feld inmitten eines Friedhofs. Nahaufnahmen der Gesichter. Dann eine Supertotale, wieder Nahaufnahmen und schließlich Detailaufnahmen der Augenpaare und der Colts der drei Männer. Die grandiose Musik Ennio Morricones schwillt allmählich an, die Spannung steigt ins Unermessliche. Mit dem Finale der Dollar-Trilogie hat sich Altmeister Sergio Leone noch einmal selbst übertroffen. Die gewaltvollen Szenen des Spaghetti-Westerns werden dabei immer wieder mit Humor gebrochen, verlieren aber keinesfalls ihre dramatische Wucht. Damit stand er Pate für eine ganze Reihe moderner Regisseure wie Quentin Tarantino und gilt demnach als einer der einflussreichsten Filmemacher der Kinogeschichte. Leones womöglich bestes Werk darf in einer Top-Liste daher definitiv nicht fehlen.
1. Persona (Ingmar Bergman, 1966)
Auf die Idee zu Persona kam Ingmar Bergman im Krankenhaus, als er eine schwere Lungenentzündung auskurierte. Falls er noch einen Film machen könne, so wollte er sich mit diesem auch neu erfinden. In dieser Lebens- und Sinneskrise schuf er ein selbstreflexives Werk über Identifikation und derer Gefährlichkeit. Die Schauspielerin Elisabet Vogler, die nicht mehr spricht, und die Krankenschwester Alma; zwei Charaktere, die sich immer mehr spiegeln und deren Persönlichkeiten nach und nach ineinander verschmelzen. Wenn Alma von ihrer Erfahrung mit Gruppensex erzählt, überprüft man zunächst ungläubig das Erscheinungsjahr des Films: Ja, tatsächlich stammt er aus dem Jahr 1966. Wahnsinn. Schon die Anfangssequenz zeigt provokante Bilder, etwa von einem erigierten Penis, Nahaufnahmen von den genagelten Händen bei einer Kreuzigung oder die Schlachtung eines Schafes. Bergman präsentiert seine intelligente Suche nach Identität in schier unglaubliche, eigenartige Bildanordnungen in einem ästhetisierenden Schwarz-Weiß und schuf so erneut poetische Kinokunst, wie es kein Zweiter vermag.
Ein ganzer Haufen „zweiter Gewinner“ – weitere Filme der 60er international…
Zwar schafften es ja bereits ganze drei Filme unseres Nachbarlandes in die Liste, die Hochzeit des französischen Kinos hatte mit der aufblühenden Nouvelle Vague allerdings noch deutlich mehr zu bieten. Da gäbe es die moralisch-philosophischen Gedanken eines Éric Rohmer (Meine Nacht bei Maud, Claire’s Knie), die fluffigen Musicals eines Jacques Demy (Die Regenschirme von Cherbourg) oder die düsteren Minimalismen eines Robert Bresson (Zum Beispiel Balthasar). Auch François Truffauts wunderbare Ménage-à-trois aus Jules und Jim oder Jacques Rivettes erotisch aufgeladenes Psycho-Drama Die Nonne sollten nicht unerwähnt bleiben. Dazu kommen weitere großartige Filme der in der Liste bereits genannten Filmemacher. Armee im Schatten beispielsweise von Jean-Pierre Melville, Das Glück von Agnès Varda und etliche weitere filmische Experimente des Auteurs Jean-Luc Godard (Elf Uhr Nachts, Die Geschichte der Nana S.).
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Aus Italien seien unterdessen noch Michelangelo Antonionis tief-melancholische Werke über Entfremdung oder Paranoia (Liebe 1962, Blow Up) erwähnt, genauso wie Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod und Federico Fellinis Das süße Leben. Auch aus Russland wehte ein frischer Wind in die Kinos: Sergey Bondarchuk erschuf mit Krieg und Frieden ein siebenstündiges Epos für die Ewigkeit und niemand geringeres als Andrei Tarkovsky realisierte seine ersten beiden Filme. Ferner im Osten bat ein Akira Kurosawa in Yojimbo – Der Leibwächter erneut seine geliebten Samurai zum Klingentanz und drehte zudem mit Zwischen Himmel und Hölle einen der spannendsten Thriller aller Zeiten. Auch Masaki Kobayashi machte in Harakiri kurzen Prozess. In deren Heimatland entstand außerdem eine Art japanischer Nouvelle Vague, mit jungen Regisseuren wie Nagisa Ōshima (Tod durch Erhängen), Masahiro Shinoda (Pale Flower) oder Yoshishige Yoshida (Eros + Massacre).
… und aus Hollywood
Doch auch in den USA war alles andere als Stillstand angesagt. Ob Walt Disneys vielleicht bester Zeichentrickfilm Das Dschungelbuch, Billy Wilders sympathisch-freche Komödien wie Das Appartement oder Eins, Zwei, Drei. Ob Sam Peckinpahs brutaler Western The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz oder John Sturges etwas lockerere Herangehensweise in Die glorreichen Sieben. Oder doch eher George Roy Hills Butch Cassidy und Sundance Kid? Ob Mike Nichols Die Reifeprüfung oder Robert Mulligans Wer die Nachtigall stört. Ob ein Steve McQueen in Bullitt oder Gesprengte Ketten. Oder ein Bonnie und Clyde von Arthur Penn, der Hollywood nachhaltig verändern sollte. Doch auch mit all den genannten Filmen kratzt man nur an der Spitze des Eisbergs von all den großartigen Werken der 1960er Jahre. Es war wahrlich das vielseitigste – und womöglich sogar das beste – Filmjahrzehnt.
Ihr habt ob dieser Auswahl Blut geleckt und möchtet eure Watchlist mit weiteren Top-Filmen erweitern? Dann schaut doch in unsere Top of the Decade der 1970er und 1980er Jahre.
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