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Berlin Alexanderplatz

Mit einem über drei Stunden langen Gangsterepos geht der afghanische Regisseur Burhan Qurbani in den diesjährigen Berlinale Wettbewerb. Berlin Alexanderplatz ist gleichzeitig ein aktueller filmischer Kommentar zur Flüchtlingskrise und eine Neuinterpretation des Literaturklassikers von Alfred Döblin. Ob dieses Magnum Opus des deutschen Films von 2020 über die gesamte Lauflänge seine Tragfähigkeit beweisen kann, lest ihr in dieser Kritik.

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TitelBerlin Alexanderplatz
Jahr2020
LandDeutschland
RegieBurhan Qurbani
DrehbuchBurhan Qurbani, Martin Behnke
GenreDrama, Gangsterfilm
Darsteller

Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng, Nils Verkooijen

Länge183 Minuten
FSKtbc
VerleihParamount
Das Titelmotiv von Berlin Alexanderplatz
Das Hauptplakat © eOne Germany

Was wird in Berlin Alexanderplatz erzählt?

Dies ist die Geschichte von Francis (Welket Bungué). Auf der Flucht von Afrika nach Europa kentert er und rettet sich mit letzter Kraft an einen Strand der Mittelmeerküste. Dort schwört er dem lieben Gott, dass er von nun an ein guter, ein anständiger Mensch sein will. Bald führt Francis‘ Weg nach Berlin und jetzt ist es an ihm, seinen Schwur auch einzuhalten.

Doch die Lebensumstände als staatenloser Flüchtling machen es ihm nicht einfach. Das Schicksal wird ihn auf eine harte Probe stellen. Dann trifft er auf den zwielichtigen deutschen Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch) und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer düsteren Schicksalsgemeinschaft.




Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er. Schließlich wird Francis von Reinhold verraten und verliert bei einem Unfall seinen linken Arm. Francis wird von Mieze (Jella Haase) aufgenommen und aus seiner Verzweiflung gerettet. Die beiden verlieben sich und werden ein Paar. Seine Geschichte könnte sich nun eigentlich gut ausgehen. Doch Francis kann der Anziehung von Reinhold nicht widerstehen…

Unsere Kritik zu Berlin Alexanderplatz

Im Land, in dem immer noch der 90minütige Tatort die höchsten Einschaltquoten hat und der durchschnittliche Bürger weniger als zweimal im Jahr einen Kinosaal von innen sieht, ist Berlin Alexanderplatz allein schon durch die enorme Länge ein Wagnis. Zudem werden in diesem Epos eine Vielzahl von schwierigen, aber hochbrisanten Themen auf sehr kreative Weise filmisch beleuchtet. Es ist also ein Film, der seine Zuschauer in mehrerlei Hinsicht herausfordert, ja dem Publikum wirklich viel Aufmerksamkeit und auch Empathie abverlangen wird. Allein der Mut muss gelobt werden, aber gleichzeitig sei schon an dieser Stelle festzuhalten, dass sich fast jede Minute dieser mitreißenden, teils niederschmetternden Kinoreise lohnt.

Albrecht Schuch als Reinhold, Welket Bungué als Francis in Berlin Alexanderplatz
Reinhold und Francis © Frédéric Batier/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Die Flüchtlingskrise in fünf Teilen

Ein Werkzeug, das dem Zuschauer etwas beim Durchhalten hilft, ist die von Beginn an klar kommunizierte Struktur. Nach einer gut gewählten Einstiegssequenz, die kurz die Umstände der Ankunft von Francis in Berlin abreißt, wird erklärt, dass dieser Film in fünf Teilen erzählt wird. Diese Kapitelstruktur ist gleichzeitig eine Referenz an das klassische Theater, aber natürlich auch der Bezug zum Roman von Alfred Döblin, der jedoch noch weitaus feingliedriger unterteilt wird. Trotzdem ist die Teilung ein kluger Schachzug, da man nun speziell die Generation Netflix abholen kann, weil der Film quasi wie eine fünfteilige Miniserie aufgebaut ist. Man kann sich sogar vorstellen, dass man später einmal genau diese Art der Ausstrahlung im linearen Fernsehen wählen wird.

Babylon Berlin im Jahr 2020

Auch durch mehrere weitere Aspekte wird deutlich, dass man sich primär doch die Millennials als Zielgruppe ausgesucht hat. Denn die Ästhetik und viele inszenatorische Entscheidungen erinnern an Erfolgsformate des seriellen Erzählens aus den letzten Jahren, an die ersten vielbeachteten deutschen Beiträge zum Golden Age of Television. Das Gangstermilieu weckt Erinnerungen an 4Blocks und Dogs of Berlin und die orgienartigen Partys, die berauschten Nächte, die abgründige und zugleich doch anziehende nächtliche Parallelgesellschaft spiegelt die gegenwärtige Version von Babylon Berlin wider.

Jedoch ist es genau der Kontrast zwischen Scheinwelt und harter Realität, die auch die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts in der Sky-Produktion so mitreißend gemacht hat. Der Glanz, der Francis als Flüchtling aus bitterer Armut verlockt und den Preis, den er dafür bereit sein muss zu zahlen, um mitfeiern zu dürfen, machen den Sog des Films aus. Die Zerrissenheit eines Neuankömmlings in Deutschland zwischen „German Traum“ und der Gefahr sein Dasein in einer neuen Randgruppe der Gesellschaft fristen zu müssen, wird durch die Anleihen an die besagten Vorbilder sehr eindrücklich klar.

Albrecht Schuch als Drogendealer in Berlin Alexanderplatz
Der zwielichtige Reinhold (Albrecht Schuch) © Wolfgang Ennenbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Albrecht Schuch zwischen Tyler Durden und dem Ledger-Joker

Wendet man sich den Figuren zu, so ist Albrecht Schuchs (Systemsprenger) Reinhold das Highlight unter den wirklich fantastischen Akteuren. Reinhold ist ein undurchsichtiger Drogendealer, der scheinbar gewaltige Persönlichkeitsstörungen durch Brutalität und Einschüchterung übertünchen muss. Gleichzeitig ist er aber auch charismatisch, hochintelligent und weiß bei jedem Gegenüber immer die Hebel in Bewegung zu setzen, um seinen Willen durchsetzen zu können. Seine einnehmende Art wird zum Kryptonit des zu ihm aufblickenden Francis.

Wie Albrecht Schuch diesen Psychopathen zur Ikone innerhalb des Films macht, zeugt von seinem wahnsinnigen Talent für derart komplexe Rollen. Seine bohrenden Blicke, die extrem beleidigende Art, mit der er Dinge ausspricht und in der nächsten Minute doch wieder, wie der Rattenfänger von Hameln, die Beleidigten an seinen Lippen hängen hat – diese Charakterzüge eines perfiden Soziopathen stellt Schuch virtuos dar. Dabei erinnert seine fast schizophrene Persönlichkeit an eine Mischung aus Brad Pitts Tyler Durden aus Fight Club und Heath Ledgers Joker aus The Dark Knight, der bis heute Benchmark der Comicbösewichte ist. Reinhold deckt sowohl die Durden’sche Anziehungskraft als auch das Verführungspotential des Bösen, das der Joker personifiziert darstellen soll, in Personalunion ab.

Welket Bungué spielt ein sensationelles Debüt

Leicht im Schatten Schuchs muss man selbstverständlich auf den eigentlichen Protagonisten zu sprechen kommen. Francis, gespielt von Welket Bungué, vereint sinnbildlich die Sehnsucht aller Flüchtlinge, die sich ein besseres Leben in Deutschland versprechen und auf dem Weg feststellen müssen, dass auch hier nicht nur eitel Sonnenschein herrscht, in sich. Die Geschichte wird auch dadurch gerahmt, dass man von Beginn an darauf vorbereitet wird, dass die Hauptfigur im Laufe des Films mehrfach tief fallen wird und dann wieder aufstehen muss. Wie der unerfahrene Schauspieler den Zuschauer auf diese emotionale Reise schafft mitzunehmen, ist auch deswegen bemerkenswert, da Bungué bis dato keinen Auftritt in deutschen Produktionen hatte. Hochachtung auch dafür, dass er erst für diese Rolle die deutsche Sprache gelernt hat.

Welket Bungué spielt Francis in Berlin Alexanderplatz
Francis rutscht immer tiefer in kriminelle Gefilde ab © Wolfgang Ennenbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Jella Haase überzeugt ohne schrille Töne

So ganz abstreifen kann Jella Haase (Das perfekte Geheimnis) auch in Berlin Alexanderplatz die Chantal aus Fack Ju Göhte nicht. Das muss die junge Schauspielerin allerdings auch nicht, denn auch die Rolle der Mieze hat eine Überschneidungen mit ihrem Kultcharakter. Sie ist blauäugig und naiv, aber auch eine Person, die das Positive in Menschen sieht, sogar wenn diese selbst an sich verzweifeln. Sie stellt das Kontrastprogramm zum unberechenbaren Reinhold und auch zum desillusionierten Francis dar, als dieser vor der Selbstaufgabe steht.

Mieze ist der menschgewordene moralische Kompass, den der Immigrant braucht, um hinter die Fassade Reinholds zu blicken. Trotz ihrer weiterhin jugendlichen Leichtigkeit schafft es Jella Haase in dieser Rolle diesmal in einem sehr düsteren Film zu überzeugen.

Eine bunte Mischung im Cast

Neben den drei Figuren in den wichtigsten Rollen, hat man auch die Nebenfiguren sehr divers und teils mit renommierten deutschen Leinwandgrößen besetzen können.

Der Unterweltboss Pums soll sicherlich an die großen Vorbilder aus Mafiafilmen wie Der Pate erinnern. Dass man jedoch kein Abziehbild eines Möchtegern-Brandos zu sehen bekommt, liegt an der Interpretation Joachim Króls (Der Junge muss an die frisch Luft). Ihm gelingt es eine angsteinflößende Aura aufrecht zu erhalten und doch auch noch menschlich und verletzlich zu wirken.

Abgerundet wird der Cast dann durch Annabelle Mandeng und Nils Verkooijen. Die Beiden spielen schillernde Figuren des Berliner Nachtlebens mit sehr sensiblen Seiten, die zwischen äußerlicher Härte und Herzlichkeit auch alle Graustufen rüberbringen können.

Der rote Faden aus dem Off

Wie ein roter Faden führt die allwissende Erzählstimme von Mieze/Jella Haase den Zuschauer durch den Film. Dabei wird die Stimmung sehr bedeutungsvoll aufgeladen, da das Voice-Over immer wieder kryptische Zitate der Döblin-Romans rezitiert, die symbolisch und vielschichtig wie biblische Texte anmuten. Das Ganze wirkt sehr organisch und nicht wie ein platter Versuch eine philosophische Ebene in einen Unterhaltungsfilm einzuweben. Die symbolhafte Aufladung sorgt sogar erst mit Nachdruck nochmals dafür, dass der Film seinen epischen Ansprüchen gerecht werden kann.

Der Protagonist in Berlin Alexanderplatz
Francis (Welket Bungué) im nächtlichen Berlin © Frédéric Batier/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Rauschhafte Bilder, sakrale Musik

Die technische Seite der Produktion ist auch entsprechend auf Opulenz gepolt. Farblich dominant sind in vielen Szenen kräftige Neonfarben auf der einen und die allgegenwärtig Dunkelheit auf der anderen Seite. Die hohen Kontraste sorgen für eine berauschende Bilderflut. Dies unterstützt dann noch der Einsatz von Blitzlichtern.

Der Soundtrack ist eine weitere Komponente, die man sehr bewusst immer wieder zur Betonung und Akzentuierung der wichtigen Momente variiert. Ein wiederkehrendes Motiv sakralen Gesangs, treibende Streicher, aber auch moderne Techno- und Hip-Hop-Musik ergeben einen gelungenen Mix, der die Dramaturgie perfekt zu unterstreichen weiß.

Berlin Alexanderplatz in epischer (Über)länge

Die fünfteilige Geschichte braucht natürlich viel Raum zur Entfaltung und kaum eine Szene könnte man weglassen, um die Stimmung derart konsequent aufzubauen und dann auch zu halten. Sitzfleisch braucht man als Zuschauer trotzdem. Zudem fällt es auch nicht leicht über die drei Stunden die Aufmerksamkeit aufrecht zu halten. Dafür sind die Eindrücke zu anstrengend und die Thematik teils zu niederschmetternd. Man bekommt keine Schonzeit oder Zeit zum Atmen. Das macht den Film natürlich zu einem wahrhaft epischen Kinoerlebnis nachdem man einerseits mit einer nachdenklichen Stimmung aus dem Saal gelassen wird und andererseits auch erschöpft froh ist, dass man die dramatische Odyssee dann überstanden hat.

Leider bewirkt die Atemlosigkeit, dass der Paukenschlag des Finalakts etwas von seiner Wirkung einbüßt. Ein deutlicheres retardierendes Moment vor dem Höhepunkt hätte dem Spannungsbogen doch näher an die Perfektion gebracht.

Dramatik dominiert in Berlin Alexanderplatz die Stimmung
Mieze (Jella Haase) und Francis © Stephanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Unser Fazit zu Berlin Alexanderplatz 

Der Mut die Geschichte eines Flüchtlings dem Romanklassiker überzustülpen und nicht ein Sozialdrama sondern primär ein Gangsterepos daraus zu destillieren, hat sich ausgezahlt!

Berlin Alexanderplatz verlangt dem deutschen Mainstreampublikum einiges ab und belohnt es durch eine atemlose Abwärtsspirale voller Opulenz. Genauso kann aber der cineastische Rezipient noch vielmehr aus dem Film, der Art der Inszenierung und den symbolischen Ebenen herauslesen. Im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale ist der Film wohl derjenige, der für ein Gros der Zuschauer großartige Unterhaltung bietet, ganz egal wie hoch der Anspruch sein mag.

Der fünfteilige Aufbau hätte noch besser ausgefeilt werden können, damit nicht fast jeder Teil mit der selben Schlussnote zum nächsten überleiten muss. Außerdem sorgt die Struktur dafür, dass man unaufgefordert die Einzelteile untereinander vergleicht. Und hier ergibt sich leider eine leichte Unausgewogenheit, wenn nach den sensationellen ersten beiden Teile doch etwas die Luft auszugehen scheint.

Aber neben diesen kleineren Makeln ist Berlin Alexanderplatz ein großartiges Epos aus Deutschland mit dem Anspruch auch international für Furore zu sorgen. Die Schauspieler tragen ihren Teil durch herausragende Leistungen dazu bei, dass man womöglich einen modernen deutschen Klassiker erschaffen hat, der von nun an die erste Wahl der Adaptionen des Kultbuches ist.

Berlin Alexanderplatz läuft im Wettbewerbsprogramm der Berlinale 2020. Kinostart ist in Deutschland der 16. April 2020.

Unsere Wertung:

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