Mit Der siebente Kontinent gab der Österreicher Michael Haneke 1989 sein in Cannes gefeiertes Kinodebüt. Warum der damalige Skandalfilm bis heute nichts von seiner Wirkung verloren hat, erfahrt ihr in unserer Review!
Der siebente Kontinent – Handlung
Die Schobers sind eine scheinbar ganz normale, gutbürgerliche Familie, die in der Vorstadt in einem Reihenhaus lebt. Vater Georg (Dieter Berner) arbeitet als Techniker, Mutter Anna (Birgit Doll) führt mit ihrem Bruder Alexander (Udo Samel) ein Optikfachgeschäft. Nur Tochter Evi (Leni Tanzer) entpuppt sich als verhaltensauffällig und ein wenig als Sorgenkind. Wir folgen der Familie über drei Jahre, von 1987 bis 1989, für je einen Tag.
1987 erhält Georg eine neue Position in der Firma, die bessere Aufstiegschancen verspricht. Durch eine Erbschaft nach dem Tod von Annas Mutter ist die Familie zudem finanziell abgesichert. Nur Evi sorgt bei ihrer Mutter für Fassungslosigkeit, als sie in der Schule behauptet, plötzlich erblindet zu sein. 1988 übernimmt Georg die Leitung in seiner Abteilung, nachdem sein Vorgesetzter nach längerer Krankheit aufs Altenteil abgeschoben wird. 1989 haben sie gerade Georgs Eltern besucht, als sie beginnen, systematisch alle Spuren ihrer bürgerlichen Existenz auszulöschen. Vorgeblich will man nach Australien auswandern, doch eigentlich steckt dahinter der perfide Plan, sich unwiderbringlich aus der Gesellschaft und dem Leben zu entfernen…
Die Absenz von Glück
In Der siebente Kontinent betrachtet Regisseur Michael Haneke das Leben einer gutsituiereten Mittelstandsfamilie in fast dokumentarischen Bildern. Oberflächlich betrachtet könnte es den Protagonisten des Films kaum besser gehen – guter Job, ein eigenes Geschäft, Geld auf der hohen Kante. Doch unter dieser Oberfläche einer Bilderbuchfamilie brodelt es, oder eher gesagt, es brodelt eben nichts mehr. Das Familienleben beschränkt sich meist darauf, dass man schweigend den Aktivitäten nachgeht, die man für eine solche auch als typisch bezeichnen würde. Während am Tage jeder seiner eigenen Beschäftigung in Beruf und Schule nachgeht, isst man abends zusammen und schaut fern.
Sowieso scheinen sie sich nicht viel zu sagen zu haben. Schnell wird hier gewahr, dass dort nicht viel Lebendiges ist, das an die Oberfläche gespült werden könnte. Das Schweigen zieht sich durch nahezu alle Bereiche des Privatlebens der Familie. Emotionale Regungen, gerade von Mutter und Tochter, wirken daher schon beinahe befremdlich. Anna schreibt Briefe an Georgs Eltern, die die ersten beiden Tage einleiten. Sie schildern die Geschehnisse im Leben der drei, so dass wir das im Folgenden zu Sehende zeitlich und thematisch einordnen können. Doch selbst hier bleibt sie durchgehend ruhig und sachlich.
1987
Annas Brief an Georgs Eltern verkündet nur gute Nachrichten. Georg wird auf einen anderen Posten versetzt, der bessere Aufstiegschancen verspricht, auch wenn sein neuer Vorgesetzter ihn als Konkurrenten sieht. Anna hat nach dem Tod ihrer Mutter geerbt, was eine Absicherung, ein finanzielles Sicherheitsnetz darstellt. Beim Abendessen ist Annas Bruder Alexander anwesend und bricht heulend zusammen. Alle verfallen um ihn herum in eine unbeteiligte Starre, bis seine Schwester ihn in den Arm nimmt.
Doch die Signale zuhause stehen auf Resignation, die Freude am Leben und soziale Wärme gehen allen irgendwie vollkommen ab. In der Schule behauptet Anna, plötzlich erblindet zu sein. Von ihrer Mutter kassiert sie dafür eine Ohrfeige, obwohl diese versprochen hatte, sie nicht zu schlagen. Es war ein Hilferuf nach Aufmerksamkeit, denn sie hatte in einem Zeitungsartikel von einem erblindeten Mädchen gelesen. Schon die Überschrift verkündete davon, dass dieses trotzdem glücklich sei, weil ihre Eltern ihr viel Liebe entgegen brächten.
Der erste Tag scheint noch gespickt mit Ereignissen, die den Anschein von Lebendigkeit innerhalb der kleinen Familiengemeinschaft erwecken. Die Erbschaft nach dem Tod von Annas Mutter, der Zusammenbruch Alexanders, Georgs rosige Zukunftsaussichten und auch die Lüge Evis – all das zeugt von einer gewissen Dynamik.
1988
Der zweite Tag beginnt mit einem leidenschaftslosen Sexualakt des Ehepaares. Danach erheben sich alle und bereiten sich stumm auf den bevorstehenden Tag vor. Es folgt ein zweiter Brief. Doch wissen wir nun, dass der positive, wenn auch sachlich gehaltene Grundton trügt. Zwar manifestiert Georg seine neue Stellung in der Firma, seinen Aufstieg. Auch Alexander scheint in Form gebracht, doch er wird nur erwähnt. Er spielt von nun an keine Rolle mehr. Es stellt sich folgend merklich ein Gefühl der Stagnation ein, jeder von ihnen scheint nur noch auf das Leben um sie herum zu reagieren.
Die Handlung wird nun stets begleitet von sich zuspitzenden Konflikten des Weltgeschehens aus dem Radio. Nachdem die Familie am Abend an einem Verkehrsunfall mit Toten vorbeigekommen ist, bricht Anna bei der anschließenden Fahrt durch die Autowaschanlage plötzlich in Tränen aus. Es ist der Punkt, an dem unausweichlich feststeht, dass ihnen etwas fehlt, das sie sich weder gegenseitig noch die Welt um ihnen herum geben kann. Denn eigentlich haben sie alles, was es braucht, um in dieser Welt glücklich zu sein. Die Tragödie dabei ist, dass sie es wissen, aber dem einfach nicht Ausdruck verleihen können.
1989
Am dritten Tag verabschieden sie sich nach einem Besuch bei Georgs Eltern. Am Abend betet Evi ein letztes Mal: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm‘.“ Die Konsequenz, mit der die Protagonisten am dritten Tag ihr oberflächliches Leben in seine Bestandteile zerlegen, hält Haneke in zermürbend langen Einstellungen fest. Sie gehen dabei pragmatisch und gründlich vor, sehr gefasst. Alleine Evi sorgt noch einmal für einen emotionalen Ausbruch, bevor sich die Familie auf den finalen Akt zubewegt.
Die Unausweichlichkeit dessen steht eigentlich schon seit dem Ende des zweiten Tages, eines ganzen Jahres zuvor fest, was die Situation umso bedrückender macht. Die Frage, ob und wie dies noch zu verhindern wäre, stellt sich einfach gar nicht. Sie wollen an einen Ort, an dem sie glücklich sein können, der jedoch nicht auf dieser Welt ist – das ist Der siebente Kontinent, illustriert durch ein immer wieder auftauchendes Traumbild eines wilden, mit großen Steinen gefüllten Strandes, an dem das Meer heranrauscht.
Die Frage nach der Aktualität, der Wirkbeständigkeit
Michael Hanekes Kinofilm-Debüt wurde seinerzeit in Cannés mit stehenden Ovationen bedacht, das ist nun 32 Jahre her. Hat die Qualität des Films denn so lange überdauert? Skandalfilme haben nicht selten ein Verfallsdatum anhaften, das durch den Wandel der Zeit bestimmt ist. Doch Der siebente Kontinent ist ein Film, der vorrangig vom Moment der Reflektion lebt. Zwar wird der heutige Rezipient wahrscheinlich mit Vorwissen an ihn herangehen. Michael Haneke ist als Filmemacher ein Begriff, sein Werk war Gegenstand von Retrospektiven, Abhandlungen und Büchern.
Dennoch hat der Regisseur diesen Film so universell gehalten, wie nur eben möglich. Im Mittelpunkt steht eine Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter, die nichts aus ihrem Innern preisgibt, weil sie es eben nicht kann, weil dort nichts ist. Sie sind reine Projektionsfläche, da die Geschichte uns keine Ursachen präsentiert. Und ohne Ursachen gibt es eben auch keine Lösungen. Das ist das, was Der siebente Kontinent so bedrückend macht, ihm seine Eiseskälte verleiht.
Und die Welt um die Protagonisten herum? Sie ist eigentlich im Kern auch heute noch dieselbe. Die Trends, die sich in Mode, in der Musik, in der Architektur abzeichnen, haben sich in 32 Jahren natürlich geändert. Die Technik ist weiter fortgeschritten. Aber der Drang, eine Familie zu gründen, beruflich Erfolg zu haben, sich finanziell abzusichern, um so dem Drang an sich Genüge zu tun, scheint immer noch ein Selbstzweck, eine Funktion innerhalb der Gesellschaft.
Es geht eben nicht um die Sinnhaftigkeit des Handelns der Schobers im Film, sondern deren Absenz. Haneke nahm einen realen Fall eines Familiensuizids als Vorbild, verneint aber dessen Hintergründe wie Schulden und sexuelle Probleme für seine Version konsequent. Er möchte nicht analysieren, nichts in seinen Figuren offenlegen. Er zwingt den Zuschauer, sein eigenes Leben und seine Vorstellung von Glück an ihnen zu reflektieren.
Unser Fazit zu Der siebente Kontinent
Michael Haneke macht es einem nicht leicht. Der siebente Kontinent ist in gewisser Weise taktlos, er hat keinen Erzählrhythmus, er hat kein Leitthema. Durch immer wieder eingefügte Schwarzbilder drängt er den Zuschauer in sich selbst zurück. Man könnte es fast schon schizophren nennen, dass der Film gerade deshalb so gut funktioniert, weil er inhaltlich eben so banal ist. Das einzige, was seine Wirkung heute etwas abfedert, ist der durchaus vorhandene Zeitgeist, den Haneke zeitweise transportiert. Insofern ein notwendiges Übel, da er sich, um seine Zuschauer derart intensiv einzubeziehen, nicht von der Realität seiner Zeit abwenden konnte.
Camera Obscura veröffentlichte den Film in einer mehr als lohnenswerten Edition. Als Mediabook präsentiert sich Der siebente Kontinent als HD-Premiere zusammen mit Bennys Video und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls als „Trilogie der emotionalen Vergletscherung“. Als Extras befinden sich eine zweigeteilte Analyse der ersten beiden Filme durch Prof. Dr. Marcus Stiglegger und Prof. Dr. Andreas Hamburger, Interviews mit Michael Haneke zu jedem der Filme und die Dokumentation Michael H. Profession: Director auf den drei Blu-rays. Abgerundet wird das Paket durch einen Essay von Prof. Dr. Stiglegger im Buchteil der Veröffentlichung.
Das Mediabook von Camera Obscura ist am 26. März 2021 im Handel erschienen!
Unsere Wertung:
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