Kunst gegen Repression und totalitäre Systeme: Wie zeitlos wichtig das Thema (leider) ist, daran erinnert uns Michael Lockshin mit seiner Leinwandadaption von Michail Bulgakows Literaturklassiker Der Meister und Margarita (Мастер и Маргарита). Hat der Stoff von 1928 in Lockshin seinen Meister gefunden oder sind die 2,5 Stunden Laufzeit nur mit genügend Margaritas zu ertragen?
Die Handlung von Der Meister und Margarita
Im Moskau der 1930er Jahre wird ein Dramatiker – der ansonsten namenlose “Meister” (Jewgeni Zyganow) – Opfer staatlicher Zensur: Sein Theaterstück Pilatus wird als regimekritisch eingestuft und verboten, er selbst aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und schon bald öffentlich diskreditiert.
Trotz dieser bedrohlichen Lage lässt er sich von seiner Geliebten Margarita (Julia Snigir) und dem geheimnisvollen Deutschen Woland (August Diehl) dazu ermutigen, ein noch brisanteres Manuskript zu verfassen, das die Abrechnung mit dem herrschenden Regime in einen fantastischen, Faust-inspirierten Plot verpackt. Ein Spiel mit dem Feuer beginnt …

Werkhintergrund: Gegen alle Widerstände
Wir blicken zurück, 1928: Michail Bulgakow beginnt mit der Arbeit an seinem Roman Мастер и Маргарита, der sein bekanntestes Werk und ein Klassiker der Literaturgeschichte werden soll. Doch der Weg dahin ist dornig: Erst 1940, einige politische Krisen und einen Weltkriegsbeginn später, wird das Buch fertig, zu seiner Veröffentlichung kommt es erst 1966 – in einer wegen seiner politischen Implikationen zunächst stark zensierten Version, deren gestrichene Teile von engagierten Leser:innen handschriftlich vervielfältigt und verteilt wurden.
Wir spulen vor, 2021: Michael Lockshin beginnt mit der Verfilmung von Der Meister und Margarita, die zum Kritiker:innenliebling und einem der umsatzstärksten Spielfilme des russischen Kinos werden soll. Doch der Weg dahin ist dornig: Erst 2024, eine weltweite Corona-Krise und einen russischen Ukraine-Überfall später, kommt der Film in die Kinos – nach vielen Versuchen, Lockshin zu einem zensierten, weniger politischen Plot zu überreden, denen der Regisseur aber weitestgehend widerstand.
Dass die Verfilmung ähnliche Kontroversen wie die Veröffentlichung der Romanvorlage auslösen würde, war anfangs nicht absehbar – zunächst wurde sie sogar von der russischen Filmförderung unterstützt. Mit Veränderung des politischen Klimas und infolge kritischer Äußerungen des Regisseurs gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde jedoch die Förderung eingestellt und Lockshin sah sich mit seinem Filmprojekt zunehmend öffentlicher Diffamierung ausgesetzt.
Getreu dem Zitat aus Bulgakows Roman, „Feigheit ist die schrecklichste aller Sünden“, beendete Lockshin das Projekt, das die Themen Zensur und Kunstfreiheit sehr deutlich in den Fokus rückt, schließlich trotzdem. Der mutige Film wurde ein Riesenerfolg in den russischen Kinos und wir freuen uns, dass er nun auch in Deutschland zu sehen ist.

Eine meisterhafte Adaption …
Bulgakows Roman Der Meister und Margarita galt lange Zeit als unverfilmbar. Das Wagnis der Verfilmung allein verlangte Lockshin also sicher einiges an Mut ab – was sich gelohnt hat, wie wir finden. Das Ergebnis ist ein erfrischendes und geistreiches Fantasy-Politdrama.
Lockshins Ansatz ist dabei keine 1:1-Adaption, sondern eine deutlich freiere Werkannäherung. Statt der modernistischen Struktur des Romans entschied man sich für die Fokussierung auf einen stringenten (“filmfreundlichen”) Plot. Tatsächlich finden wir es gut gelöst, wie aus dem thematisch überbordenden Original eine eher lineare Handlung herausdestilliert wurde.
So kann man auch ohne Kenntnis des Buches leicht folgen. Und diejenigen, die das Buch kennen, dürfen sich über kleine Anspielungen auf gestrichene Plot-Elemente und die durchweg gelungene Umsetzung des Romans in Bilder freuen. Als Autoren-Duo – die eine mit, der andere ohne Buchkenntnis – konnten wir den Film aus beiden Perspektiven betrachten und hatten beide gleichermaßen viel Spaß damit.
… fantastisch inszeniert
Zuallererst setzt der Film natürlich eine romantische Liebesgeschichte in Szene – wie in der Vorlage ist die Beziehung zwischen dem “Meister” und seiner Margarita zentral für den Plot. Die überzeugt nicht zuletzt dank Schauspieler:innen-Ehepaar Jewgeni Zyganow und Julija Snigir, die ihre Chemie gekonnt einsetzen, um die Anziehungskraft und die Vertrautheit des Liebespaars glaubwürdig auf die Leinwand zu bringen.
Wie die Romanvorlage verhandelt der Film aber weit mehr als eine Liebesgeschichte. Er ist auch ein Politdrama um einen Schriftsteller im Fokus politischer Zensur. Gleichzeitig ist er aber auch ein Fantasy-Film; uns begegnen Hexen, Vampirinnen und der Teufel höchstpersönlich, der als deutscher Tourist Moskau besucht – in bester Mephisto-Tradition diabolisch-charmant verkörpert von August Diehl.
Die vielen grotesken Ereignisse und skurrilen Einfälle der Vorlage wurden genüsslich umgesetzt und der feinsinnige Humor der Erzählung gekonnt in das Medium Film transportiert – etwa mit gewitzten Dialogen, Schnitten oder Filmmusik. So werden der augenzwinkernde Charakter und die Leichtigkeit bewahrt, die auch die Romanvorlage so unterhaltsam machen.
Die Szenen des Romans mit ihrem überbordenden Einfallsreichtum übersetzt der Film in wunderschöne, detailreiche Bilder. Neben der 30er-Jahre-Ästhetik bestechen vor allem die fantastischen Sequenzen mit einer Mischung aus Gothic- und zeittypischem Art-déco-Stil, was dem Filmdesign eine ganz eigene Optik verleiht. Dass die CGI dabei teilweise recht sichtbar ist, stört nicht so sehr, sondern trägt in unseren Augen vielmehr zum Charme des Films bei.
Schon ein wenig gestört haben uns hingegen zwei Passagen, die vor allem für Nichtkenner:innen des Buches eher langatmig geraten sind (Stichwort Theater und Ball) – abgesehen davon hat der Film trotz seiner 157 Minuten Laufzeit kaum Längen und vermag sein Publikum erfolgreich zu fesseln (wir sind sicher, unser Kinosaal war nicht nur deshalb so auf die Leinwand fixiert, weil alle mit den Untertiteln zur russischen und teils sogar lateinischen Tonspur beschäftigt waren).

Freiheiten im Namen der Kunstfreiheit
Lockshins freier Umgang mit der literarischen Vorlage rückt das Thema Kunstfreiheit noch deutlicher in den Mittelpunkt als Bulgakows Roman. Ganz im Geiste seiner Vorlage schlägt Lockshins Romanadaption einen historischen Bogen von der als Volksverhetzer verurteilten biblischen Figur Jesus bis zur sowjetischen Zensur der 1930er Jahre. Ein Bogen, der sich in den Köpfen der Zuschauer:innen ohne weiteres bis in die Gegenwart fortführen lässt.
Im Dienst der interpretativen Zuspitzung auf die Zensur-Thematik wurden sogar Plot-Elemente hinzugefügt, wie der Schauprozess gegen den “Meister”-Autor, den es so im Roman nicht gibt. Auch die fantastischen Elemente aus dem Roman wurden dafür neu kontextualisiert. Was bei Bulgakow “wirklich” geschieht – sprechende Katzen, fliegende Menschen, magische Bälle –, wird bei Lockshin in die Handlung des Manuskripts verlagert, das der “Meister” schreibt. Es sind die Rachefantasien des Schriftstellers an denjenigen, die ihm alles genommen haben.
Die Szenen dieses Manuskripts sind ganz deutlich Ausdruck des Widerstands, eine Art Ermächtigung über die totalitäre Repression – und ganz nebenbei ein schöner Verweis auf die Fähigkeit der Kunst, über die bedrückende Realität hinaus- und auf andere mögliche Realitäten hinzuweisen.

Dass das Manuskript außerdem wie die Romanvorlage den Titel Der Meister und Margarita trägt, führt uns zu einer weiteren Lockshin’schen Freiheit im Dienst der (Zuspitzung auf) Kunstfreiheit: Der Film erzählt auch eine fiktive Entstehungsgeschichte von Bulgakows Buch und webt biografische Elemente aus dessen Leben in die Handlung ein, etwa das Verbot seiner Theaterstücke. Obwohl derartige Änderungen tiefgreifend sind, führen sie weniger von der Romanvorlage weg als immer wieder zu ihr und ihren Themen hin, allen voran die Kunstfreiheit.
©Capelight Pictures
Unser Fazit zu Der Meister und Margarita
Regisseur Lockshin spricht laut und deutlich Themen an, die im derzeitigen politischen Klima Russlands (und nicht nur dort!) kaum gern gesehen sind. Damit wird der Film selbst zu dem, was im Film das Manuskript des Dichters verkörpert: eine Manifestation der Kunstfreiheit als Widerstand gegen Repression. Allein dafür: Applaus!
Doch nicht ALLEIN dafür. Mit Der Meister und Margarita ist Lockshin eine souveräne Literaturadaption gelungen, gleichzeitig aber auch ein spannender Kinofilm mit echten Entertainment-Qualitäten.
Der Meister und Margarita läuft seit dem 1. Mai in den deutschen Kinos.
Christian, eigentlich Digital Marketer bei der Berliner Agentur Moccu, unterstützt uns seit April 2024. Am Tage ist er SEO, bei Nacht ein Film- & Serienfan – ein Liebhaber, der bei einem Liebhaber-Projekt wie Filmtoast bestens aufgehoben ist. In Sachen Genres ist er flexibel, ein Faible für Animation, Horror & Arthouse ist aber nicht zu leugnen; seine Liebe zum "gehobenen" Film wurde dabei 2001 von "A beautiful Mind" geweckt.
All-Time-Favs? Dr. Strangelove, The Great Dictator, Donny Darko, Back to the Future, Little Miss Sunshine, Across the Spiderverse 1 + 2, The Lego (Batman) Movie, Wall-E, The Incredibles, Toy Story 2, The Lion King, Das weiße Band, Hereditary, It Follows. Guilty Pleasure? Love Actually ("Meisterwerk!")
Bevorzugtes Setting zum Filmschauen? "Lange Zeit Kino, aber aufgrund rücksichtloser Smartphone-Addicts mehr und mehr Home Cinema ... leider." Christian unterstützt Filmtoast mit: Rezensionen + SEO.
Agnes gehört seit April 2024 zum Filmtoast-Team, lebt in Frankfurt am Main und liebt Filme, Bücher und Kuchen. Filmkritikerin wollte sie schon während der Schulzeit werden — zwischendurch auch mal Maskenbildnerin für Horrorfilme. Am Ende studierte sie dann Literaturwissenschaft und beruflich kam alles ganz anders. Privat liebt sie es aber immer noch, über Filme und Serien zu fachsimpeln.
Agnes interessiert sich vor allem für Filme, die etwas zu sagen haben und dafür die Möglichkeiten des Mediums voll ausschöpfen. Diese Filme bewegen sich für sie oft im Bereich des Fantastischen, von Science Fiction oder Animationsfilmen (Dark City, Three Thousand Years of Longing, Arrival, Across the Spiderverse, The Breadwinner), können aber auch bodenständiger sein und dürfen gerne eine feministische Botschaft haben (Hidden Figures, Alien oder — ja, tatsächlich! — Titanic). Es begeistert sie besonders, wenn Filme Genregrenzen sprengen, wie die romantische Zeitreisekomödie About Time, oder der Klassiker Casablanca, der nicht nur Liebesfilm, sondern vor allem antfaschistischer Film Noir ist.