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    Startseite » Sin Nombre
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    Sin Nombre

    Tobias Theißvon Tobias Theiß19. Juli 2018Keine Kommentare7 min Lesezeit
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    Regisseur Joji Fukunaga wagt den Blick hinein in die gefährliche Parallelwelt der Mara Salvatrucha | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH
    Regisseur Joji Fukunaga wagt den Blick hinein in die gefährliche Parallelwelt der Mara Salvatrucha | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH
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    Cary Joji Fukunaga gewährt dem Zuschauer in seinem Langfilmdebüt Sin Nombre einen Einblick in die lebensgefährliche und aussichtslose Welt der Mara Salvatrucha.

    [su_youtube URL=“https://www.youtube.com/watch?v=NYA5EeO4yLM&t=15s“]

    Cover der deutschen Blu-Ray | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH
    Cover der deutschen Blu-Ray | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH

    Brutale Gangs als Familienersatz

    Nach unseren westlichen Standards ist die Kinder- und Jugendzeit eine, im Normalfall, sorgenfreie Zeit des Erlebens, Ausprobierens und Kennenlernens. Behütet und geborgen wächst man im Kreise der Familie in wirtschaftlicher Sicherheit auf. Probleme gibt es eigentlich keine, eher die typischen Stationen im Erwachsenwerden: erste Liebe und Trennung, Peergroups, Schulabschluss. So profan und selbstverständlich dieser Lebensweg erscheint, ist er dennoch nicht allgegenwärtig. Wenn die öffentliche Ordnung kapituliert, Korruption und Gewalt den Tag beherrschen und kriminelle Gangs die biologische Familie ersetzen, ist diese Vorstellung für eine unüberblickbare Zahl an Heranwachsenden in den südamerikanischen Ländern stattdessen nur ein unerreichbarer Wunschtraum.

    Willy, genannt El Casper, ist Mitglied in einer der gleichwohl bekanntesten wie gefürchtetsten Gangs: der Mara Salvatrucha. Seine große Liebe Martha Marlene jedoch lebt im Viertel einer rivalisierenden Gruppe, wodurch El Caspers Besuche bei ihr gegen den Ehrenkodex der Mara verstößt. Als sein Regelbruch bekannt wird, müssen El Casper und dessen junger Freund Smiley den Gangleader Lil Mago zu einem Raubzug begleiten. Dabei tötet El Casper Lil Mago im Affekt und setzt somit eine Abwärtsspirale in Bewegung…

    Sin Nombre wird gerne im Zuge des sieben Jahre zuvor entstandenen City Of God genannt. Tatsächlich besitzen beide Filme einige Gemeinsamkeiten: Beide sind Spielfilmdebüts ihrer Regisseure, beide schildern ein extremes gesellschaftliches Milieu und beide vereint ebenso der authentische Anspruch. Allerdings soll kein Vergleich beider Werke erfolgen, denn bis auf die thematische Verwandtschaft folgen beide Filme unterschiedlichen Pfaden. Daher nur so viel: Während City Of God eher den Weg technischer Spielereien beschreitet und mittels Videoclip-Ästhetik einen „coolen“ Eindruck bei aller Ernsthaftigkeit vermittelt, gibt sich Sin Nombre geerdeter.

    Neben der alltäglichen Gewalt ebenso gefährlich: die Witterung und das Wetter | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH
    Neben der alltäglichen Gewalt ebenso gefährlich: die Witterung und das Wetter | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH

    Dokumentarische Einblicke in das Gangleben

    Vor allem die erste Hälfte kommt einer dokumentarischen Einführung in die Parallelwelt der Mara Salvatrucha ziemlich nahe. Die Mara Salvatrucha, kurz auch nur MS oder MS-13 (die 13. Straße in L.A. liegt im heutigen Herrschaftsgebiet), ist im Allgemeinen als eine der brutalsten Jugendgangs der Welt bekannt – Nachrichtenmeldungen sprechen Bände und schüren die kriminelle Mythologie weiter. Auch wenn Sin Nombre ein Spielfilm ist und diese für jedwede Form der Unterhaltung sorgen, kann von Glorifizierung des Lebensstils innerhalb der MS nicht gesprochen werden. Vielmehr gelingt ein behutsamer Blick in die brutale Welt, der gerade wegen seiner formalen Ruhe um authentische Darstellung bemüht ist. Die Anziehungskraft, die von Banden wie MS ausgeht, wird subtil, aber nachvollziehbar dargestellt. Die Mara Salvatrucha verspricht Schutz, Freundschaft und Kameradschaft, verlangt dafür aber unabdingbaren Gehorsam, Unterordnung und grenzenlose Treue.

    Gemeinsam mit dem etwa zwölfjährigen Smiley, der von El Casper in die Familie der MS eingeführt wird, wird der Zuschauer unmittelbar in diese ihren eigenen Gesetzen unterliegende Welt geschleudert und zur Begrüßung mit roher Gewalt willkommen geheißen. Das heißt der Anwärter wird dabei für dreizehn Sekunden von Mareros verprügelt und gilt danach als Mitglied. Smiley erhält diesen Spitznamen nach durchstandener Prügel, da er trotz blutiger Wunden und Prellungen stolz lächelt. Um sein Leben endgültig der MS zu verschreiben, muss ein Mitglied einer rivalisierenden Bande getötet werden. In diesem Fall muss Smiley, mit Hilfe von El Casper, einen Gefangenen der MS-18 (Entstehung in der 18. Straße in L.A.) erschießen. Während Smiley im Nachgang mit leerem Blick seine Tat verdaut, steht El Casper der ganzen Angelegenheit deutlich abgeklärter gegenüber.

    Gefährliche Gegenwart

    Über seine Beweggründe, sich der MS angeschlossen zu haben, erfährt der Zuschauer indes nicht viel. Er stellt ein durchschnittliches Mitglied dar, was sich vor langer Zeit wohl aus den gleichen Gründen zu einem Gangdasein entschieden hat, wie Smiley jetzt: Respekt erwiesen zu bekommen, einer der Großen zu werden und eine Heimat zu finden. El Casper jedoch ist schon zusehends distanziert und erträumt mit Martha Marlene einen Ausstieg. Ein freies Leben in den USA, fernab von Gangkriminalität und Gewalt. Eine Kette von Ereignissen hat zur Folge, dass er innerlich komplett mit seinen einstigen Brüdern bricht und die Flucht nach vorne antritt.

    Dass er dabei sein altes Leben nicht komplett abstreifen kann, wissen dabei er und auch die Zuschauer. Daher ist es eine bittere Pille die Willy, wie er sich fortan wieder nennt, zu schlucken hat, doch Angst vor dem Sterben hat er nicht. Dafür hat er schon zu viel erlebt und gesehen. Einzig nicht zu wissen, wo und wann ihn seine Vergangenheit einholt, nagt an ihm.

    Regisseur Joji Fukunaga wagt den Blick hinein in die gefährliche Parallelwelt der Mara Salvatrucha | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH
    Regisseur Joji Fukunaga wagt den Blick hinein in die gefährliche Parallelwelt der Mara Salvatrucha | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH

    Ungewisse Zukunft

    Ab diesem Punkt verbindet Sin Nombre zwei bis dahin parallel laufende Handlungsstränge. Willy trifft auf Sayra und deren Vater und Onkel, die aus Honduras in die USA fliehen wollen. Sie und tausende weitere Namenlose (sin nombre = ohne Namen) reisen illegal auf Güterzügen durch Mexiko, um in weiter Ferne die Nordgrenze in die USA zu überqueren. Neben der Zusammenführung zweier Handlungen wendet sich Sin Nombre von einem Milieudrama hin zu einer Art Road Movie. Der nüchterne Stil bleibt erhalten, allerdings wird eine eher konventionelle Dramaturgie aufgebaut. Trotz handelsüblicher Spannungskurve bleibt Sin Nombre dabei realistisch.

    Obwohl sich Sayra und Willy aufgrund ihrer miteinander verwobenen Schicksale näherkommen, ist ihre Beziehung keine Romanze. Er: Von Trauer zerfressen kann so schnell keine neue emotionale Bindung aufbauen. Sie: Rettet sich an den Stärksten und Erfahrensten. Beide haben den Zug der Hoffnung (alternativer deutscher Untertitel) bestiegen. Hoffnung auf ein einfacheres und sichereres Leben. Dabei erleben Willy und Sayra Situationen, die einen alle Hoffnungen fahren lassen: der Verlust geliebter Menschen, das Ausgeliefertsein gegenüber Behörden und dem Wetter sowie Entbehrungen.

    Beängstigend überzeugendes Schauspiel

    Selten hat man im Film so junge Figuren gesehen, deren kurze Leben von Strapazen und Trauer gezeichnet sind. Eine ferne Hoffnung auf eine bessere Zukunft lässt sie den Zug der Hoffnung besteigen und irgendwo in weiter Ferne abgekämpft und gezeichnet von den Erlebnissen wieder verlassen. Dabei gibt der Film all den Flüchtlingen Namen und Gesicht, führt Gründe für deren Flucht an, schildert ihren Leidensweg ohne dabei jedoch werten zu wollen. Zu nüchtern ist die Bildsprache, aber dennoch immer wieder erschreckend. Vor allem wenn der Tod zum ständigen Begleiter wird und zu einer von vielen Alltäglichkeiten verkommt.

    Dem ungleichen Paar sind auf ihrer Flucht in ein besseres Leben nur wenige Momente der Ruhe gegönnt | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH
    Dem ungleichen Paar sind auf ihrer Flucht in ein besseres Leben nur wenige Momente der Ruhe gegönnt | SIN NOMBRE ©EuroVideo Medien GmbH

    Um schlussendlich doch noch einen kleinen Verweis zu City Of God anzusprechen: Während die Darsteller dort fast ausschließlich aus Laien bestanden, spielen in Sin Nombre tatsächlich echte Darsteller in die Filmrollen. Der Recherche von Regisseur Cary Joji Fukunaga ist es dabei zu verdanken, dass man ein erschreckend realistisches Drama präsentiert bekommt. So hat Fukunaga unter anderem einige Zeit auf den betreffenden Güterzügen verbracht und Flüchtlinge begleitet. Seine Filmographie ist seit dem Erscheinen von Sin Nombre übrigens kaum angewachsen, kann aber unter anderem mit der hochgelobten Serie True Detective oder dem Drehbuch zur Neuverfilmung des Stephen King Klassikers Es aufwarten.

    Nicht der Name, sondern die Taten zählen: sin nombre

    Kein bequemer und distanzierter Blickwinkel, sondern gemeinsam und unmittelbar ist man mit den beiden Hauptdarstellern auf der Flucht. Die Furcht und Erschöpfung, aber auch Überlebenswille und Mut werden spürbar. Das muss man als Zuschauer aushalten können, denn Sin Nombre zwingt zum Hinsehen, wenn Ungewissheit und Elend beiläufig zum täglichen Begleiter werden. Bisweilen erscheint er fast schon zu deprimierend.

    [SPOILER]

    Denn wie wird zum Schluss angedeutet? Das Ziel scheinbar erreicht, aber dennoch allein und verloren inmitten einer fremden, lauten und unübersichtlichen Welt.

    [SPOILER ENDE] 

    Ein Film, der es schafft, auf anfangs dokumentarische, später auf erschreckend nüchterne Weise vom alltäglichen Geschehen in einer fremden Welt zu erzählen. Trotz all der Ohnmacht, die man ob des Werkes empfinden kann, schafft es die Kamera immer wieder, teils bezaubernde Bilder zu schaffen.

    Ebenso stimmig ist der Soundtrack, der mal dezent, mal treibend das südamerikanische Lebensgefühl einfängt. Obwohl der Film, vor allem aber die zweite Hälfte, sehr auf klassische Dramaturgie setzt, bleibt die Spannung dabei etwas auf der Strecke. Dem Thema selbst und den tieftraurigen Gesichtern und Geschichten beider Hauptfiguren ist es dann zu verdanken, dass ein erschütterndes Drama gelungen ist.

    Übrigens: Hauptdarsteller Noé Hernández aus We Are The Flesh taucht hier in einer winzigen Szene auf.


    ©EuroVideo Medien GmbH

    Tobias Theiß

    Tobi ist bereits gute 7 Jahre an Bord und teilt so fast 20% seiner Lebenszeit mit Filmtoast. Wie es ursprünglich dazu kam ist so simpel wie naheliegend. Tobi hatte unregelmäßig auf Seiten wie Schnittberichte Reviews zu Filmen verfasst und kam über diverse facebooksche Filmgruppen und –diskussionen in Berührung mit dem damaligen Team von Filmtoast (die Älteren erinnern sich: noch unter dem Namen Movicfreakz) und wurde daraufhin Teil dessen.
    Thematisch ist er aufgeschlossen, seine feste Heimat hat er jedoch im Horrorfilm gefunden, da für ihn kein anderes Genre solch eine breite Variation an Themen und Spielarten zulässt. Kontroverser Ekelschocker, verstörender Psychothriller oder Elevated Horror – fast alles ist gern gesehen, auch wenn er zugeben muss, dass er einen Sweet Spot für blutrünstig erzählte Geschichten besitzt.
    Tobi geht zum Lachen jedoch nicht (nur) in den blutverschmierten Keller, sein Herz schlägt unter anderem bei Helge Schneider, dänischem schwarzen Humor oder den Disyneyfilmen seiner Kindheit höher.
    Kinogänge vollzieht er am liebsten im städtischen Programmkino, zum Leidwesen seiner filmisch weniger affinen Freunde, meidet er große Kinoketten wie der Teufel das Weihwasser. Am liebsten geht er seiner Filmleidenschaft jedoch in den eigenen vier Wänden nach, um den viel zitierten Pile of Shame seiner physischen Filmsammlung abzuarbeiten.
    Tobi lebt in Sachsen-Anhalt, ist beruflich in einer stationären außerklinischen Intensivpflege verankert und hat mit der Begeisterung zum Film und dem Schreiben darüber den für sich perfekten Ausgleich zum oftmals stressigen Arbeitsalltag gefunden.

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