Dass aus Schurken Helden werden, ist im Comic-Bereich ein alter Hut – und wurde mit The Suicide Squad von der Marvel-Konkurrenz DC auf die Spitze getrieben. Jetzt schlägt das MCU mit Thunderbolts* zurück – mit wehenden Fahnen oder ohne durchschlagenden Erfolg?

Um was geht’s in Thunderbolts*?
In Thunderbolts* stellt Marvel Studios ein unkonventionelles Team von Antihelden zusammen – Yelena Belova, Bucky Barnes, Red Guardian, Ghost, Taskmaster und John Walker. Nachdem sie in eine von Valentina Allegra de Fontaine gestellte Todesfalle geraten sind, müssen sich die hoffnungslosen Außenseiter auf eine gefährliche Mission begeben, die sie zwingt, sich den dunkelsten Ecken ihrer Vergangenheit zu stellen. Wird diese dysfunktionale Gruppe sich gegenseitig zerfleischen oder Erlösung finden und sich zu etwas viel Größerem zusammenschließen, bevor es zu spät ist?
Wo setzen wir an?
Es rumort gehörig in der Etage der Executives bei Marvel. Wir befinden uns inzwischen in der fünften Phase des MCU, aber seit Ende der Infinity-Saga und damit Phase drei, ist an allen Fronten eine gewisse Sinn- und Orientierungssuche im Gange, was sich in einer ziemlich breiten qualitativen Schwankung der Projekte in Streaming und Kino manifestiert, vor allem aber darin zeigt, dass sich vieles nach Stückwert anfühlt und nicht mehr wie auf dem Weg zu Avengers Endgame wie Teile eines großen Ganzen.
Zuletzt kam nun der vierte Teil von Captain America in die Lichtspielhäuser und enttäuschte ein weiteres Mal alle, die sich nach dem großen Wow der Peak-MCU-Zeit zurücksehnen. Einige weniger gnädige Zuschauer hat man vermutlich inzwischen auf der Strecke verloren.
Aus der anfänglichen Ankündigung der Phase fünf und sechs Filmproduktionen wurde ein Gros inzwischen umgelabelt, ein Blade-Film mit Mahershala Ali wird mutmaßlich nicht wie anberaumt im November dieses Jahres starten, sondern nie erscheinen. Und zig Brotkrumen, die in den Post Credits der letzten Jahre ausgestreut wurden, sind wohl verweht ehe man sie vielleicht nochmal aufgreifen wird: Keine Fortsetzung zu den Eternals, Kang ist aufgrund der privaten Querelen von Jonathan Majors vom Big Bad zur Randnotiz abgewertet worden und daran, dass Natalie Portman nun tatsächlich Chris Hemsworth als Thor ersetzen wird, glaubt auch kein Mensch. Stattdessen klammert man sich an den Strohhalm eines (zumindest fragwürdigen) Comebacks von Robert Downey Jr., an das Vertrauen, dass die längst nicht mehr sattelfesten Russos den Endgame-Erfolg mit einem Doppel-Blockbuster nochmal wiederholen und an Fan-Pleasing bis zum Ultimo.
Die Zukunft soll mit nun einer ganzen Riege von Safe-Play-Projekten wieder rosig werden: mehr von Spidey, zahlreiche Fanlieblinge der letzten 20 Jahre in einem großen Get Together, die Projekte, die nicht den erwünschten Buzz brachten möglichst aus dem Kanon/kollektiven Gedächtnis isolieren.
Aber Halt! Jetzt kommt ein Film in die Kinos, der als letzter Pfeil im Köcher von MCU-Projekten steckt, die tatsächlich noch ein Quäntchen an Mut verlangten: denn Thunderbolts* schwimmt gegen den nun von Kevin Feige verordneten Strom der Konformität, streckt allen, die dem Comic-Konzern unterstellen, sein Mojo unwiederbringlich verloren zu haben, den Mittelfinger entgegen und lotet nach Deadpool and Wolverine auf eine ganz andere Weise nochmal die Möglichkeiten des Cinematic Universe aus. Gelingt es aber der Anarchotruppe wirklich den erhofften Impuls zu setzen oder ist auch dieser vermeintliche Parforceritt nur eine weitere Luftnummer vorgetäuschter Andersartigkeit?
Wer ist im Team?

Yelena Belova – Florence Pugh
In der Hoffnung, dass diese Mission ihrem Leben endlich wieder einen Sinn und eine neue Richtung geben wird, nimmt Yelena Belova einen Auftrag ihrer Arbeitgeberin Valentina Allegra De Fontaine an. Doch dann findet sie heraus, dass Valentina sie eliminieren will und muss sich mit einer höchst ungewöhnlichen Gruppe zusammentun, um Valentina und die immense Macht, die sie ausübt, zu stürzen.
Bucky Barnes / Winter Soldier – Sebastian Stan
In einer Welt ohne die Avengers hat Bucky Barnes einen anderen Weg gefunden, für das Gute zu kämpfen: Als Abgeordneter von Brooklyn. Als Bucky jedoch von Valentina Allegra De Fontaines hochgefährlichen Plänen erfährt, weiß er, dass er nicht auf die Regierung warten kann, um sie aufzuhalten. Um der neuen Bedrohung entgegenstehen zu können, wird Bucky gezwungen, wieder in Aktion zu treten. Dabei entdeckt er, was es wirklich bedeutet, ein Anführer zu sein.
Ava Starr / Ghost – Hannah John-Kamen
Da sie ihre Kräfte nun unter Kontrolle hat, hat die ausgestoßene Ava Starr, alias Ghost, ein neues Leben gefunden und arbeitet als Auftragskillerin für Valentina Allegra De Fontaine. All das ändert sich, als Ava von ihrer Arbeitgeberin verraten und zum Sterben zurückgelassen wird. Um zu überleben, muss sie einen Waffenstillstand mit den anderen Ausgestoßenen schließen und lernen, was es bedeutet, Teil eines Teams zu sein.
Alexei Shostakov / Red Guardian – David Harbour
Seit den Ereignissen von Black Widow will Alexei Shostakov unbedingt wieder in Aktion treten und an seine glorreichen Tage als Red Guardian anschließen. Als er von Valentina Allegra De Fontaines Plan erfährt, Yelena zu töten, ergreift er die Gelegenheit, sie zu retten. Doch auf seiner fehlgeleiteten Suche nach Bewunderung wird er unerwartet erfahren, was es wirklich bedeutet, ein Held zu sein.
John Walker – Wyatt Russell
Nachdem er seinen Titel als Captain America verloren hat, beginnt für John Walker mit einer Anstellung bei Valentina Allegra De Fontaine ein neues Leben – bis sich eine verdeckte Mission in etwas sehr Unheilvolles verwandelt. Walker muss sich den Sünden seiner Vergangenheit stellen und sich mit seinen Mitverurteilten zusammentun, um Valentina zu besiegen und endlich Erlösung zu finden.
Antonia Dreykov / Taskmaster – Olga Krylenko
Nachdem sie aus den Fängen des Roten Raums befreit wurde, hat Antonia Dreykov, auch bekannt als Taskmaster, ein neues Leben im Dienst von Valentina Allegra De Fontaine begonnen. Als eine Routine-Mission schief geht, muss Taskmaster alle Fähigkeiten und Waffen in ihrem Arsenal einsetzen, um Valentinas Falle zu entgehen.
Bob – Lewis Pullman
Der scheinbar gewöhnliche, aber geheimnisvolle Bob, Robert Reynolds, gerät in Valentinas Kreuzfeuer und muss sich einer Gruppe zwielichtiger Attentäter anschließen, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch insgeheim besitzt Bob die Macht, der Wächter, Sentry, zu werden – der stärkste Held, den die Welt je gesehen hat.
Valentina Allegra De Fontaine – Julia Louis-Dreyfus
Valentina Allegra de Fontaine, die ebenso charismatische wie gerissene Direktorin der CIA, kämpft um die Kontrolle inmitten einer Untersuchung über ihre illegale Vergangenheit, die all ihre Errungenschaften zunichtemachen könnte. Mit einem Plan zur Beseitigung jeglicher Beweise für ihr Fehlverhalten und der Erschaffung eines allmächtigen Superhelden, Sentry, kämpft Valentina um den Machterhalt – koste es, was es wolle.

Endlich wieder Punch und Punk!
Wer gedacht hat, Marvel würde nun tatsächlich einen auf Suicide Squad machen, den belehrt dieser Neuling eines besseren. Denn Thunderbolts* ist tatsächlich etwas ganz anderes als das, was man auch auf Basis der Promo wohl glauben sollte. Es ist ein Film, der belegt, dass im totgesagten MCU noch Blut pumpt – und zwar aus einem Herzen, das deutlich größer ist als man es nach einigen Filmen, die selbst für hartgesottene Fans eher wie Cash-grab wirkten, wähnte.
Schon der Einstieg macht klar, wer hier die unangefochtene Hauptfigur ist: Florence Pugh als Yelena trägt diese Produktion dank ihrer Art, Emotionen zu vermitteln und dabei aber nie sentimental zu werden, nahezu im Alleingang. Doch erst im unerwartet funktionierenden Bündnis dieses zusammengewürfelten Ausgestoßenen entfaltet der Streifen sein volles Potenzial. Dabei spielt Jake Schreier mit Bravour mit den Erwartungen an ein Team-Up-Event und mit den entsprechenden Klischees. Allein die Art und Weise, wie sich die Protagonisten zusammenfinden, ist pointierter als so mancher Superheldenfilm vergangener Jahre in Gänze. Dabei sitzen die Spitzen, die die Egos gegenseitig austeilen, aber auch das Bonding gelingt mehr als glaubhaft.
Das intakte Herz des MCU
Verpackt wird alles in eine unerwartet emotionale Story, die es schafft, indem sie die alten Wunden aller Kernfiguren aufreißt, ohne aber ins abgedroschen Kitschige abzudriften, beim geneigten Fan genau die richtigen Knöpfe zu drücken, um mit allen beteiligten Akteuren eine Verbindung eingehen zu können: egal ob eben der inzwischen seit Dutzenden Projekten bekannte Bucky, der ungehobelte, aber grundsympathische Red Guardian, die unnahbare Ava a.k.a. Ghost oder der anfangs wie ein Comedic Relief eingeführte Bob, der sich im Verlauf als sehr viel mehr herausstellen soll, jeder Charakter kriegt Szenen zum glänzen, wobei man in Kauf nehmen muss, dass alle im Endeffekt schon im Schatten der Yelena-Figur stehen.
Denn gefühlt baut der Film am ehesten innerhalb des MCU noch auf Black Widow auf, macht kleinere Verweise auf den letzten Captain America, spart sich sonst aber mit Verbindungen zu Vergangenem größtenteils aus, um eindeutig als ein Blick in die Zukunft von Marvel dastehen zu können. Und wenn DAS die Zukunft ist, sieht diese doch gar nicht so düster aus!
Ein Safe Play mit Verstand
Thunderbolts* fühlt sich immer wieder inhaltlich etwas nach „Nummer sicher“ an, wirkliche Überraschungen wird man nicht erleben, wenn man schon einiges im Comicbereich gelesen und geschaut hat. Doch da der Film auch keinerlei Längen hat und wirklich von Sekunde ein bis zur zweiten Post-Credit-Szene wie aus einem Guss durchflutscht, macht dies der Seherfahrungen keinen Abbruch.
So ist es letztlich auch auf handwerklicher Ebene. Selbst hier werden keine Bäume ausgerissen, aber Thunderbolts* sieht dennoch sehr rund aus, das Compositing ist um zig Klassen über dem Kuddelmuddel eines Brave New World und die Action ist aufs Wesentliche fokussiert, hat Wucht und alle individuellen Fähigkeiten werden mit Verstand in Szene gesetzt.
Marvel kann noch „echt“
Mit Sicherheit wurde hier wie üblich viel vor dem Greenscreen gedreht, aber endlich sieht es mal wieder zu einem Gros „echt“ aus, wenn hier Menschen gegeneinander kämpfen, die Physik hat man wieder in den Griff bekommen – im Rahmen dessen, was man vom MCU erwarten kann. Darin ist der Showdown inbegriffen, der zwar am ehesten noch Angriffsfläche bietet, weil man hier rein visuell schon den Eindruck hat, das so schon mal gesehen zu haben. Doch dafür überzeugt das, was darin darstellerisch abgeht, auf ganzer Ebene und lässt sogar das ein oder andere Tränchen kullern.
Der Humor ist nicht Marvel-like – zum Glück!
Thunderbolts* hat Humor – aber nicht den penetranten Ton, jeden Anflug von Ernsthaftigkeit zu brechen und im Keim zu ersticken. Hier sind die Gags wohltemperiert und passen organisch zu Situation und jeweiliger Person. Auch das mag sicherlich mit der Qualität im Cast zusammenhängen. Ob glücklicher Zufall oder perfektes Gespür der Castingabteilung: das Ensemble ist eingespielt als wäre man schon Jahrzehnte aufeinander eingestellt und weiß genau, wie man auf die Schwächen seiner Partner immer wieder leicht einpieksen kann, ohne die Grenzen zu sprengen. Das führt im Endeffekt sogar dazu, dass zum allerersten Mal seit Julia Louis-Dreyfus Valentina als zwielichtige Machtfigur mimt, dieser Charakter nicht irgendwie lächerlich wirkt oder aus der Reihe tanzt.

Wie X-Men bevor die X-Men das MCU tatsächlich entern
Nach dem Finale gibt es noch eine – zugegeben erwartbare – Pointe, die ein anderes Schlaglicht auf den Titel des Films wirft. In erster Linie aber ist dann, spätestens aber nach der Abspannszene, klar, wie groß die Rolle dieses wilden Haufens im kommenden Avengers-Zweiteiler ausfallen dürfte. Wie diese Tonalität hier nun mit der der Russos in Einklang zu bringen ist, ist ein mittelgroßes Fragezeichen. Denn im gesamten MCU fühlte sich kein Film so nach den besten Filmen der X-Men-Reihe an wie Thunderbolts*. Der Antiheldenfilm vereint die Fallhöhe und Charaktertragik von Days of Future Past und Co. mit dem Mindfuck-Element von Legion und betet das Ganze in eine anarcho Gruppendynamik ein, die innerhalb des Marvelkosmos die Leichtigkeit von Guardians of the Galaxy versprüht – vielleicht sogar leicht imitiert.
© 2024 Marvel.
Unser Fazit zu Thunderbolts*
Das MCU lebt noch - dank den Anti-Avengers, die doch gar nicht soo anti sind. Und dank einer Florence Pugh, die ihre Ausnahmequalität auch im Franchise-Korsett ausleben kann. Thunderbolts* kommt erstaunlich bodenständig, geradeheraus und herzlich daher und ist mehr ein Mash-up dessen, was über Jahre vermisst wurde als eine tatsächliche Neuerfindung des Comicfilm-Rads. Doch das tut dem Sehvergnügen keinen Abbruch, wenn ein Leinwandabenteuer so organisch vorgetragen wird, das Herz am rechten Fleck hat und mal nicht wie ein Marketing-Konstrukt wirkt, sondern einfach nach einer ausgefeilten, kleinen Geschichte von Außenseitertum, Verarbeitung von Traumata und (Ersatz-)Familie. Und wenn man darin noch ein Fünkchen Kritik an realer Politik Platz findet und auch Selbstironie nicht zu kurz kommt, dann umso besser!
Daheim in Oberfranken und in nahezu allen Film- und Serienfranchises, schaut Jan mehr als noch als gesund bezeichnet werden kann. Gäbe es nicht schon den Begriff Serienjunkie, er hätte bei über 200 Staffeln im Jahr für ihn erfunden werden müssen. Doch nicht nur das reine Konsumieren macht ihm Spaß, das Schreiben und Sprechen über das Gesehene ist mindestens eine genauso große Passion. Und so ist er inzwischen knapp fünf Jahre bei Filmtoast an Bord und darf hier seine Sucht, ähm Leidenschaft, ausleben. Die wird insbesondere von hochwertigen HBO- und Apple-Serien immer wieder aufs Neue angefacht und jeder Kinobesuch hält die Flamme am Lodern. Es fällt Jan, wie ihr euch bestimmt wegen der Masse an Geschautem vorstellen könnt, schwer, Lieblingsfilme, -serien oder auch nur Genres einzugrenzen. Er ist und bleibt offen für alles, von A wie Anime bis Z wie Zack Snyder.