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Inland Empire

Bekannt für seine herausfordernden, surrealistischen Meisterwerke voller kryptischer Symbolik und bizarrer Bildsprache, kulminiert David Lynch in seinem bis dato letzten Spielfilm Inland Empire all jene Ideen, die der Auteur im Laufe seiner Karriere bereits erforscht hat. Heraus kommt sein wohl verwirrenstes Filmerlebnis, dass das Publikum in eine desorientierende Reise durch zerbrochene Realitäten entführt. Wie komplex es wird, erfahrt ihr hier!

 

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TitelInland Empire
Jahr2006
LandUSA
RegieDavid Lynch
DrehbuchDavid Lynch
GenreMystery, Drama, Thriller
DarstellerLaura Dern, Justin Theroux, Jeremy Irons
Länge180 Minuten
FSKab 12 Jahren freigegeben
VerleihStudioCanal
Zwei Hüllen von Inland Empire, das DVD Cover hinter dem kleineren Blu Ray Cover, sind auf dem Bild zu erkennen. Über dem Titel steht der Name der Hauptdarstellerin, Laura Seen, und ihm Titel ist ihr Gesicht wiederzufinden. Darunter steht "Ein Film von David Lynch" über einer Aufnahme von Los Angeles.
Das DVD/Blu Ray Cover von „Inland Empire“. © StudioCanal

Die Handlung von Inland Empire

Die Freude ist groß, als Schauspielerin Nikki Grace die Hauptrolle im Film On High in Blue Tomorrows ergattern kann. Jedoch enthüllt der Regisseur zu Beginn der Produktion, dass es sich um ein Hollywood-Remake eines unvollendeten Films handelt, der aufgrund des Mordes an gleich beiden Hauptdarstellern angeblich verflucht ist. Während sie in ihre komplexe Rolle der Susan eintaucht, beginnt Nikki zunehmend in einer metaphysischen Identitätskrise den Halt zur Wirklichkeit zu verlieren.

Kein simpler Bruch mit den Sehgewohnheiten, sondern eher ein komplettes Über-Bord-Werfen

Die nachfolgende Story lässt sich kaum noch prägnant zusammenfassen (vergleichbar mit Synecdoche, New York). Wir haben mit der sehr subjektiv erzählten Perspektive von Nikki/Sue zwar einen Anker an den wir uns klammern können, der Wellengang ist allerdings derart stark und sie eine so unzuverlässige Erzählerin, dass besagter Anker im Handumdrehen abgerissen wird und auf den dunklen, Furcht erregenden Grund sinkt… samt den angeketteten Zuschauer*innen, die sich nicht zu befreien vermögen. Was dort unten lauert, kann niemand mit Gewissheit sagen. Der Druck nimmt dennoch stetig zu.

Beginnend als Mystery-Plot werden wir indessen schnell in eine Abfolge von halb zusammenhängenden Horror-Sequenzen hinabgezogen in denen Charaktere, Welten sowie Identitäten wechseln. Abstruse Einfälle spielen Ping Pong mit unseren Versuchen Andeutungen zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen — Menschen in Hasenkostümen (aus Lynchs Kurzfilm Rabbits) werden von einem weinenden Mädchen im Fernseher beobachtet, eine Gruppe von Prostituierten verfolgt Sue regelrecht, oder „Das Phantom“ das wie ein Schatten über allem liegt — Es gibt hier wenig, um dem Publikum zu helfen. Der Film macht immer wieder deutlich, dass er gar nicht erst versuchen muss, dem Zusehenden den Boden unter den Füßen wegzuziehen, es gibt erst gar keinen Boden.

In Inland Empire hat eine Aktion nicht unbedingt eine Reaktion zur Folge, vielmehr verhält es sich umgekehrt. Rückwärts, vorwärts, seitwärts, Handlungsstränge verlaufen im geometrischen Durcheinander, Höhepunkte plus resultierende „Aha-Momente“ weisen teilweise keine ersichtliche Kausalität auf. Wir springen von Moment zu Moment und zurück, verlieren jegliches Gefühl für Zeit, als wenn wir in einer defekten Zeitmaschine feststecken würden, die uns ausschließlich sehr kurze Einblicke gewährt und dann die Richtung ändert.

„I don’t know what happened first, and it’s kinda layin‘ a mindfuck on me.“

Der Film im Film

Wiederholt wird das Publikum geschickt mit Szenen konfrontiert, die anfangs als Teil der Filmhandlung getarnt, sich hingegen als Aufnahmen am Filmset entpuppen. Obwohl man spätestens nach der Hälfte auf solche Überraschungen vorbereitet ist, gelingt es Lynch nichtsdestotrotz, kontinuierlich Verwirrung zu erzeugen.

In Inland Empire stehen Jeremy Irons als Kingsley Stewart und zwei seiner Crew Mitglieder im riesigen Studio und vor einem Umkleideraum. Rechts im Bild steht eine Garderobe, links ein Stuhl vor einem Tisch mit Spiegel. Im Spiegel erkennt man noch Reflexion einer Person.
Je mehr Nikki und ihre On-Screen Persona miteinander verschwimmen, desto mehr werden Inland Empire und On High in Blue Tomorrows zum selben Film. © StudioCanal

Inland Empire stellt die Wahrnehmung auf den Prüfstand, hinterfragt die Natur der Existenz selbst. Es ist ein tiefer Einblick in das Unterbewusstsein, irgendwo zwischen träumen und wach sein. Manchmal merken wir kurz vor dem Erwachen, dass das Gesehene lediglich ein Traum ist, können aber nicht eingreifen. Ein Traum, der vor Kreativität nur so sprudelt, der trotzdem während des Träumens schon beginnt, durch die Hände zu entrinnen, nicht greifbar ist. Wenn wir dann aufwachen, hat in der Retrospektive eigentlich nichts Sinn ergeben. Ein Aufschreiben des Traumes erscheint unmöglich. Der Titel bezieht sich möglicherweise auf dieses Reich: das riesige, unerforschte Land im Inneren des Geistes. In dieser alptraumhaften Landschaft erkundet Inland Empire Lynchs wiederkehrende Themen Identität, Schuld, Konsequenz, die Macht des Kinos und den Irrsinn Hollywoods.

Im Spinnennetz

Im Gegensatz zu vorherigen Lynch-Filmen, welche zwar ebenfalls auf nonlineares Storytelling setzen, indes wie ein Möbiusband an derselben Stelle enden und beginnen, ist Inland Empire eher einem Netz gleichzusetzen. Nikkis fragmentierende Psyche ist in dieser Beziehung die metaphorische Spinne, welche die einzelnen Fäden stur zusammenhält, ohne irgendwelche Fragen zu beantworten. Angesichts der Schwierigkeit, die Handlung zu verstehen, ist Laura Derns vielschichtige Verkörperung mindestens zweier Rollen umso beeindruckender.

Laura Dern steht als Nikki bzw. Sue vor einem großen Durchgang. Die Gardinen sind zugezogen, aber es scheint trotzdem Licht heraus. Ansonsten ist die Wand rechts und links von ihr mit Schatten überzogen. Sie schaut erstaunt.
Derns emotionale Bandbreite füllt alle Szenen des Films mit ihrer Präsenz. © StudioCanal

Logische Gipfelung in Inland Empire

Die beste Weise sich diesem filmischen Mindfuck zu nähern, besteht darin, die Verbindungen zu erkunden, die er mit Lynchs gesamten Œuvre teilt. Mit Inland Empire liefert er seinen experimentellsten Film seit Eraserhead ab (ähnlich zu Luis Buñuel, der in seinen Spätwerken z.B. Das Gespenst der Freiheit, neuerlich experimentierfreudig wurde). Während Der Elefantenmensch oder The Straight Story beinahe dem Mainstream zuzuordnen sind, Blue Velvet und Wild at Heart schon deutlicher in Richtung Traum gehen, sind es Lost Highway und Mulholland Drive, die beiden anderen Teile der inoffiziellen L.A. Trilogie, die am besten auf Inland Empire vorbereiten.

Der Film treibt nicht nur die Labyrinth-artige Erzählung auf die Spitze, was ihn zu einer noch größeren Herausforderung macht und Interpretationen, selbst auf der intuitiven Seite, erschwert, auch einzelne Elemente wirken vertraut. Der Einsatz von Doppelgängern, das Manifestieren der Ängste in anthropomorpher Gestalt (Mystery Man, Landstreicherin, Phantom), der mörderisch, eifersüchtige Ehemann aus Lost Highway oder die großen „Träume“ einer gequälten Schauspielerin aus Mulholland Drive werden abermals aufgegriffen ebenso wie das Anprangern der Falschheit des Systems Hollywood.

Inland Empire kann das Publikum jedoch deutlich leichter verlieren, denn während frühere Werke zumindest ein Aufdröseln in Erwägung ziehen und immerhin das Gefühl vermitteln hinter die Fassade blicken zu können, ist Inland Empire pures Wirrwarr.

Künstlerische Freiheit

Inland Empire ist das Ergebnis der Tatsache, dass der Regisseur die absolute Kontrolle über die Produktion hat. Keine Zugeständnisse, kein Studio, das seine künstlerische Vision anfechtet, keine Budgetbeschränkungen, niemand redigiert. Das macht den Film zur ungefiltertsten Lynch-Erfahrung. Als eben diese fesselt Inland Empire definitiv… nur leider keine vollen drei Stunden. Hier fehlt dann doch die externe Stimme, die alles Marketing verträglicher machen will und eventuell auf eine etwas kürzere Laufzeit beharrt hätte.

Handheld Voyeurismus

Inland Empire ist erneut repräsentativ für Lynchs Ansatz, sich weniger von der Erzählung leiten zu lassen und beispielweise die Wirkung der Atmosphäre und die Emotionen einer Figur in den Vordergrund zu stellen. Besonders im Hinblick auf die Cinematography zeigt der Film, WIE experimentell er ist. Die aus der Hand gefilmten Digitalkamera-Bilder verleihen Inland Empire ein raues, unbehagliches Aussehen. Die viele Bewegung vermittelt fast ein voyeuristisches Gefühl. Optisch ähnelt es einem Amateurporno oder einem No-Budget-Horrorfilm, der eigentlich für den Privatanblick gedacht war, gleichwohl doch veröffentlicht wurde.

Atmosphäre — Beängstigend und faszinierend zugleich

Lynchs Markenzeichen lassen sich überraschend gut auf diese neue Art des Filmens übertragen. Flackernde Lichter, extreme Überbelichtung, zu schwach beleuchtete Szenerien, das Ein-/Ausblenden aus absoluter Dunkelheit, verzerrte Nahaufnahmen, Unschärfen, das buchstäbliche Auflösen einiger Szenen im nächsten Bild, all das zusammen fängt die Angst, Chaos, Isolation wunderbar ein und verstärkt die verstörende Atmosphäre.

In der oberen Bildschirmhälfte sieht man Teile des Filmsets, die bis zur Decke ragen. Der untere Bildschirm ist das komplett in schwarz gehüllt, bis auf ein Fenster ganz rechts, in welchem Peter J. Lucas als Piotrek Król bzw. Smithy angeleuchtet wird.
Die ästhetischen Entscheidungen spiegeln die Entwicklung der Handlung wider und intensivieren sie. Ähnlich wie im Film nehmen auch die visuellen Darstellungen zunehmend abstrakte Formen an. © StudioCanal

Einige Szenen haben wohl weder einen narrativen noch einen thematischen Zweck. Inland Empire bleibt ein Film, der seinen Inhalt in erster Linie durch atmosphärische Reize transportiert. Vergleichbar mit den Szenen hinter dem Diner in Mullholland Drive nähert sich Inland Empire des öfteren Ecken hinter denen möglicherweise etwas Schreckliches wartet.

Unser Fazit zu Inland Empire

Es ist nicht leicht, diese provokante Art des Filmemachens mit konventionellen Maßstäben zu bewerten. Inland Empire entzieht sich jeder Kategorisierung. Wer aber auf der Suche nach einer guten Portion Lynch-Wahnsinn ist, braucht nicht weiter zu suchen. Dennoch ist eine uneingeschränkte Empfehlung dieses dreistündigen anarchischen Albtraums schwer. Inland Empire ist anstrengend. Lynch-Fans können hier einiges erleben. Unvorbereitet ist diese Reihe von Fiebertraum-Segmenten dahingegen fast schon zu viel Lynch.

Inland Empire ist seit dem 29.06.2023 in einer neu restaurierten Fassung auf DVD und Blu-ray erhältlich!

Unsere Wertung:

 

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