Fast ein Jahrzehnt hat Regisseur Thomas Clay an seinem neusten Werk Die Erlösung der Fanny Lye gearbeitet. War der Streifen bisher nur auf einigen Festivals zu sehen, so erfolgt nun endlich die Veröffentlichung in Deutschland. Ob sich der hohe zeitliche Aufwand gelohnt hat, erfahrt ihr im Folgenden.
Titel | Die Erlösung der Fanny Lye |
Jahr | 2019 |
Land | Großbritannien |
Regie | Thomas Clay |
Drehbuch | Thomas Clay |
Genre | Historienfilm |
Darsteller | Maxine Peake, Charles Dance, Freddie Fox, Tanya Reynolds, Peter McDonald, Zak Adams, Perry Fitzpatrick, Kenneth Collard |
Länge | 109 Minuten |
FSK | ab 18 Jahren freigegeben |
Verleih | Alamode Film |
Worum geht es in Die Erlösung der Fanny Lye?
Fanny Lye (Maxine Peake) führt mit ihrem Mann John (Charles Dance) und ihrem Sohn Arthur (Zak Adams) ein einfaches Leben auf dem Lande im England des mittleren 17. Jahrhunderts. Dabei führt John seinen Hof mit fester Hand und duldet keinerlei Widerstand gegen seine gesellschaftliche Vormachtstellung, die ihm das Patriarchat und nicht zuletzt die katholische Kirche verleiht. So macht sich die Familie eines schicksalhaften Tages auf den Weg zum Gottesdienst (John auf dem Pferd und Fanny und Arthur zu Fuß), während sich zwei Unbekannte dem Gut nähern. Thomas und Rebecca besitzen keine Kleidung, sind zerzaust und zerkratzt, als wären sie tagelang nackt durch die Wildnis gelaufen, und richten es sich nun in der Scheune der Familie Lye ein.
Selbstverständlich wird die Anwesenheit der Fremden rasch bemerkt. Nur widerwillig und auf Drängen seiner Frau bietet John ihnen eine Unterkunft an, bis sie wieder zu Kräften gekommen sind. Als schließlich jedoch der Wachtmeister und der Sheriff auf dem Hof eintreffen, um nach zwei Unruhestiftern der nahgelegenen Ortschaft zu suchen, wird schnell klar, dass Thomas und Rebecca nicht die armen Opfer eines Raubüberfalls sind, für die sie sich ausgeben. Es beginnt eine Auseinandersetzung dreier Parteien rund um Recht und Unrecht, Vertrauen, Glaube, Sexualität, Begierde, Lust, Pflicht und die Vorstellungen über das menschliche Zusammenleben. Wer also sind diese Fremden? Was wollen sie von der Familie Lye? Und welche Rolle spielt der verdächtig wirkende Sheriff?
Die ewige Majestät des Menschen
Thomas Clay, Regisseur und Drehbuchautor von Die Erlösung der Fanny Lye, erzählt eine Geschichte von epischem Ausmaß in Form eines Kammerspiels. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Charakterstudie der Figuren in einem bestimmten historischen Gefüge. Die Figuren sind viel mehr als Vertreter und Vertreterinnen verschiedener philosophischer Strömungen zu begreifen. Es geht ihm somit um das ewige Ringen der Menschheit über die Organisation des Zusammenlebens. Laut John soll die Kirche und der katholische Glaube das Handeln der Menschen bestimmen. Die Eindringlinge sehen die Kraft der Gesellschaft jedoch in den Bedürfnissen und Gefühlen eines jeden einzelnen. Die religiösen Dogmen müssten abgeschafft werden, um eine Weiterentwicklung des Menschen zu ermöglichen. Worum geht es also? Aufklärung und Humanismus erwachen!
Trotz dieser allumfassenden Thematik bleibt Clay glücklicherweise im Kleinen und erzählt keine großen historischen Augenblicke, die Geschichte geschrieben haben. Das Streiten über verschiedene Ideologien findet bei ihm nicht auf den großen Schlachtfeldern, sondern auf einem kleinen Hof zwischen den einfachen Leuten und den Regierenden statt. Wer bestimmt über das Leben der Menschen? Ist es der ewige Gott? Ist es die ewige Majestät im Menschen selbst? Oder sind es die Regierenden, von Gott bevollmächtigt? Der Regisseur siedelt seine Handlung daher nicht umsonst zu einer Zeit des Umbruchs an. Bereits zu Beginn des Films verkündet die Texttafel: „In dieser kurzen und gewaltvollen Zeit wurden unsere modernen Vorstellungen von persönlicher, politischer und gesellschaftlicher Freiheit geformt.“ Von der Verbreitung einer solchen neuen Gesinnung erzählt Die Erlösung der Fanny Lye bis hin zum blutigen Finale, in dem auch Genrefans auf ihre Kosten kommen.
Eine Erlösung?
Doch wie verbreiten sich neue Ideen und finden Anklang in der Gesellschaft? Mit nichts als ihren nackten Körpern erreichen die Fremden den Hof der Familie Lye. Dennoch befindet sich in ihrem Gepäck das Fundament unserer modernen gesellschaftlichen Ordnung: die Ideologie der Freiheit und Selbstbestimmtheit. Ein wesentliches Merkmal der Aufklärung besteht darin, zu erkennen, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht gottgegeben, sondern vom Menschen gemacht ist. Eine solche Erkenntnis reift in der Figur der Fanny Lye, weshalb es sich in diesem Fall eher um einen Übergang (der Originaltitel lautet hier wesentlich passender: Fanny Lye Delivered) von einer Ideologie zu einer anderen als um eine Erlösung handelt. So empfand Fanny ihre bisherigen „Einschränkungen“ nicht als solche.
Der Film ist dabei nämlich zum Glück nicht so naiv wie es der deutsche Titel vermuten lässt. Selbst Thomas muss früher oder später erkennen, dass es zum freien Willen eben auch gehört, nicht frei sein zu wollen und dass die äußeren Zwänge den Menschen ebenfalls prägen. Clay kehrt einer einseitigen Betrachtungsweise historischer Wandlungen in diesen Momenten den Rücken zu und kommt dadurch weniger belehrend daher als man es erwarten würde. Neue Ideen wie Emanzipation oder die Entdeckung der eigenen Sexualität als etwas Reines sind hier Vorstellungen, die erst in einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen entstehen konnten, und keine kausalhistorische Entwicklung. Dennoch lässt es sich der Regisseur nicht nehmen, einen Seitenhieb gegen jene auszuteilen, die ein bestehendes System nicht aus einer Ideologie heraus, sondern aus purem Machtwillen ausnutzen. Das seien die „finsteren Kreaturen“ der Gesellschaft, wie es an einer passenden Stelle heißt!
Nietzsche und der Italowestern
Doch auch abseits der historischen Umwälzung liest sich Die Erlösung der Fanny Lye durchaus bedeutungsoffen. In einem Kampf der rauschhaften Menschlichkeit auf der einen Seite und Form und Ordnung auf der anderen lässt sich auch der ewige Streit zwischen Apollinischem und Dionysischem erkennen, auf den man sich in der modernen Kunst nicht gerade selten bezieht. Neben diesem Touch von Nietzsche erlaubt sich Clay gegen Ende einen weiteren Spaß, indem er Beethovens Melodie der „Ode an die Freude“ im Abspann zitiert und damit fast epiloghaft an den Aufklärer Schiller verweist. Auch sonst empfiehlt es sich einen näheren Blick auf den von Clay selbst komponierten Score zu werfen. Erst nach Beendigung der Dreharbeiten beschloss er, diesen selbst zu konzipieren, was einer der Gründe für die ungewöhnlich lange Postproduktion von über drei Jahren sein dürfte.
Herausgekommen ist eine einzigartige Hommage an die Ästhetik des Italowestern und insbesondere an den unnachahmlichen Ennio Morricone. Clay nutzt dadurch die Erinnerungen an eine Welt im Wandel, in der zunächst nur das Chaos regiert und liefert seinem Werk dadurch eine ungemeine auditive und bildsprachliche Intensität. So entstehen in Die Erlösung der Fanny Lye bezaubernde Landschaftsaufnahmen, komplex orchestrierte Kamerabewegungen und nicht zuletzt ein Finale, das eindeutig an die großen Werke eines Sergio Leone anknüpft. Dabei bewegt sich der Streifen gerade noch so an der Grenze zwischen bedeutungsschwangerer Selbstgefälligkeit (welche durch die pathetische Musik und ein mystifizierendes Voice-Over auf die Spitze getrieben wird) und unterhaltsamen Genrekino. Gerade dieser Spagat dürfte für gespaltene Meinungen sorgen. Für Diskussionen unter Historikern und Historikerinnen, Soziologen und Soziologinnen sowie Philosophen und Philosophinnen ist allerdings gesorgt. Gegen Ende hin wird der Bogen durch einen allzu pathetischen Bezug auf die Entstehungsgeschichte der Quäker etwas überspannt.
Fazit zu Die Erlösung der Fanny Lye
Ein Jahrzehnt hat Regisseur, Drehbuchautor und Komponist Thomas Clay an Die Erlösung der Fanny Lye gearbeitet. Am Ende ergibt sich eine wilde Mischung philosophischer Gesinnungen in Form von Aufklärung, Humanismus, Emanzipation, Katholizismus, weiterer Glaubensrichtungen und Vorstellungen über die Sexualität des Menschen. Im Kleinen wird hier eine bedeutende Phase der gesellschaftshistorischen Entwicklung mit den Mitteln des Kammerspiels und des Genrekinos inszeniert. So ambitioniert dieses Unterfangen auch ist, so sehr muss man diesen beeindruckenden Film anerkennen, der eine noch zu geringe Beachtung in der Filmlandschaft findet. Auch wenn der Streifen sich gelegentlich zu sehr in seiner Attitüde suhlt und an manchen Stellen einen stärkeren Fokus auf die Bildsprache hätte vertragen können, so kann man sich der eigenartigen immersiven Kraft der Aufbruchsstimmung und dem Willen zur Neuordnung der Welt nur schwer verwehren. Treffend formuliert es die Figur des Thomas (nicht umsonst ein Namensvetter des Regisseurs): „Entmanne dich, Weib! Brich aus, aus deinen Fesseln!“
Die Erlösung der Fanny Lye ist seit dem 26. Februar auf DVD, Blu-ray und VoD erhältlich.
Unsere Wertung:
Kundenbewertungen Unverb. Preisempf.: € 12,95 Du sparst: € 4,96 Preis: € 6,99 Jetzt auf Amazon kaufen* Preis inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten | 312 Bewertungen |
© Alamode Film
Katholisch? John (und die Cromwellsche Herrschaftsordnung) ist puritanisch, oder hab ich da was falsch verstanden?