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Forest – I See You Everywhere

Das ungarische Episodendrama Forest – I See You Everywhere skizziert in sieben Kurzgeschichten verschiedene Konfliktsituationen. In dieser Besprechung erfahrt ihr, ob der Wettbewerbsfilm der Berlinale 2021 mit dieser Erzählweise punkten kann und ob die Auflösungen der Miniaturen zu überzeugen wissen.

Forest - I See You Everywhere | Official Trailer | Berlinale 2021

TitelForest – I See You Everywhere (OT: Rengeteg – mindenhol látlak)
Jahr2020
LandUngarn
RegieBence Fliegauf
DrehbuchBence Fliegauf
GenreDrama
DarstellerJuli Jakab, Lázló Cziffer, Lilla Kizlinger, Zsolt Végh, István Lénárt, Eszter Balla, Natasa Kovalik, Ági Gubik, Mihály Vig, Felicián Keresztes, Eliza Sodró, Terence Gábor Gelencsér, János Fliegauf, Péter Fancsikai, Zoltán Pintér, Laura Podlovics
Länge113 Minuten
FSKtba
VerleihFilmsboutique
Eine Nahaufnahme einer Jungengesichts. Im Vordergrund erhellt eine Flamme das Bild.
Ein nachdenklicher junger Mann. © Ákos Nyoszoli, Mátyás Gyuricza

Forest I See You Everywhere

„Sieben fugenartig komponierte Miniaturen, hypnotisch und erratisch, scheinbar harmlos zu Beginn, dann zunehmend intensiver. Am Ende kulminieren sie zu einem Psycho-Kaleidoskop. Der Großvater schweigt – ist er am Leben? Ein Mann spricht mit dem Kleiderschrank – weshalb? Gespensterhaft schleichen sich Abwesende in die Gespräche und das Leben von Paaren und Familien: Verlorene, Verdrängte, Vermisste. Junge Männer schockieren ihre Mütter, der eine durch Liebe, der andere durch Verachtung (sowie die sachlich vorgebrachte These, Gott sei eine Art Gandalf). Schließlich gibt es noch einen Scharlatan, der naive Kranke in den Tod treibt. Wer hier Opfer ist und wer die Schuld trägt, ist kaum zu sagen. Wenn Menschen Sphären sind, können sie sich je begegnen?

Bence Fliegauf setzt die anthropologischen Experimente im Stil des Mikrorealismus aus seinem Spielfilmdebüt Forest von 2003 gekonnt fort. Budget gab es kaum, Laien trafen auf Profis, Pate standen viele – von John Cassavetes bis zu Raymond Carver und Péter Nádas. Fieberhafte Dialoge, durch die der Wind der Anarchie weht, dominieren das Setting. Ein Stil, der aufreibt und magnetisiert, der klaustrophobische Nähe verordnet und doch das Offene liebt.“ (offizieller Pressetext)

Sieben pointierte Kurzgeschichten

Bence Fliegauf präsentiert uns in Forest I See You Everywhere sieben Dialogszenen auf engstem Raum, die inhaltlich nichts miteinander verbindet. Die Geschichten eint jedoch, dass man jeweils als Zuschauer ohne großen Anlauf mitten in Wortgefechte geworfen wird, bei denen die Argumente oftmals mit einer extrem hohen Aggressivität durch den Raum fliegen. Auch ohne die Umstände zu kennen, die zu den Konfliktsituationen geführt haben, merkt man anhand der Tonalität, der Wortwahl und den Gesichtsausdrücken, wie weit sich die Emotionen schon hochgeschaukelt haben.

Eine junge Frau mit nachdenklichem Ausdruck im Gesicht in der Nahaufnahme. Links im Bild züngeln vereinzelte Flammen.
Ein fragender Blick. © Ákos Nyoszoli, Mátyás Gyuricza

Thematisch decken die kurzen Stücke ein riesiges Spektrum ab. Moderne und doch zeitlose Streitthemen von hoher Tragweite und gesellschaftlicher Relevanz, jedoch verpackt in intimen Momentaufnahmen persönlicher Schicksale.

Da bereitet sich ein vom Zorn gezeichnetes junges Mädchen mit ihrem Vater auf einen Vortrag in der Schule vor, wobei sich dies zu einer Tirade der Wutoffenbarung gegenüber ihrem Vater aufschaukelt. Dabei bleibt jedoch nicht außer Acht, dass der innere Konflikt mit eigenen Schuldgefühlen mindestens genauso schwer wiegt.

Da streitet sich ein Pärchen und beim Zuschauer entsteht der Eindruck, es handele sich um eine ganz klassische Eifersuchtssituation – warum leiht man der Ex eine teure Kamera? Ist es wirklich wegen deren digital detox?

Dann wiederum wird man stiller Teilnehmer an einem Trauergespräch zwischen einem Paar mit hohem Altersunterschied, das aufgrund eines Verlustes vor dem Zerbersten steht. Anschließend wohnt das Publikum einem Gespräch bei, in dem es erstmal um die tödliche Gefahr einer Krebsbehandlung geht, ehe der Patient den Raum verlässt und sich eine völlig andere Geschichte Bahn bricht. Im nächsten Part lässt ein lapidares Mutter-Sohn-Gespräch über religiöse Grundsätze die Stimmung hochkochen. Und abschließend erschüttert ein verwitweter Ehemann mit einem minutenlangen Monolog voller Anschuldigungen und Trauer bis aufs Mark.

Das Spiel mit der Erwartungshaltung

Denkt man nun, diese mehr oder minder alltäglichen Momentaufnahmen bieten kaum Raum, um zu überraschen oder verblüffen, dann irrt man. Denn was all die Episoden verbindet, ist das famose Unterlaufen der Erwartungen, die sich während den Dialogen jeweils schnell einstellen. Bence Fliegauf gelingt es in jeder dieser Situationen aufs Neue, dem Publikum eine Form von Twist zu präsentieren, der das vorher Gesehene teils vollkommen neu reflektieren lässt. Und glaubt man, nach und nach die Formel entschlüsselt zu haben, so kommt die nächste Pointe wieder auf eine Weise ums Eck, die weitere Ebenen eröffnet und für staunendes Kopfschütteln sorgt. Die Klammerepisode, also der Einstieg des Films, die erst am Ende fertig erzählt wird, ist dabei immer noch genauso frisch und unerwartet, obwohl man dann bereits sechs verschiedene Varianten kennenlernen durfte, wie Fliegauf sein Publikum an der Nase herumzuführen weiß.

Auflösungen treffen teils mitten in die Magengrube

Die Pointen selbst sorgen in Forest – I See You Everywhere für eine emotionale Achterbahnfahrt, die ihresgleichen sucht. So schlägt beispielsweise das toxische Eifersuchtsgespräch letztlich einen Kurs ein, der die Banalität des vorher hochgeschaukelten Streits platzen lässt wie einen Ballon. Oder aber die Enthüllung des wahren Grundes der Differenzen zwischen dem 53-Jährigen und seiner gut 20 Jahre jüngeren Geliebten, wenn dieser plötzlich etwas aus dem Wandschrank holt, was jedem ungläubig die Kieferlade herunterklappen lässt. Oder der Ausgang des Religionsstreits zwischen tiefgläubiger Mutter und popkulturell interessierten Sohn, bei dem es einerseits überrascht, wie stichhaltig ein Jugendlicher mit seinen Argumenten seinen Gegenüber in die Schranken weist und andererseits, wer letztlich als gefühlter Sieger aus dem Gefecht hervorgeht. En détail sollen die Twists an dieser Stelle natürlich nicht vorweggenommen werden, damit jeder Zuschauer selbst die einmalige Reise mitmachen kann, auf die uns Fliegauf in diesen kurzen Abrissen universeller Gesellschaftsthemen schickt.

Gelungene Etappen fügen sich zu ambivalenten Gesamtwerk

Das Drama vollbringt das Kunststück, ein Grundproblem mit Bravour zu meistern, an dem viele Geschichten scheitern, die in Episodenstruktur vorgetragen werden. Oft gelingt es nämlich nicht, alle Teilstücke gleichwertig zu gewichten und nicht selten wird mit uninteressanten Kapiteln das Gesamtkonstrukt abgewertet. Durch die breite thematische Vielfalt und die immer wieder unerwarteten Wendungen ist das Niveau durchwegs hoch. Da sich jeder individuell mal mehr, mal weniger in den angesprochenen Konfliktherden wiederfindet, werden unterschiedliche Zuschauer auch unterschiedliche Highlights für sich finden. Potenzielle Höhepunkte unabhängig von persönlichem Gusto sind aber sicherlich das Religionsdilemma zwischen Mutter und Teenager und der Monolog des Witwers in der sechsten Episode, der es schafft, dass man den von ihm Angeklagten zu hassen lernt, ohne überhaupt zu wissen, ob er hier Fakten oder Emotionen ausschüttet.

Man sieht eine Nahaufnahme es älteren Männergesichts. Insgesamt ist das Bild sehr düster und im Vordergrund sieht man drei Flammen zur Beleuchtung
Großvater – schläft er? © Ákos Nyoszoli, Mátyás Gyuricza

Laienschauspiel sorgt für emotionale Höhepunkte

Damit die Gefühle aufs Publikum überspringen können, braucht es bei diesen Themen mehr denn sonst lebensechte Figuren. Es ist daher nur als glückliche Fügung zu bezeichnen, dass Fliegauf mangels großem Budget fast ausschließlich auf Schauspiellaien setzen musste. Die Darsteller machen intuitiv das, was womöglich selbst die ganz Großen ihres Fachs nicht erzwingen könnten. Sie wirken authentisch und es wirkt so realitätsnah, dass man ihnen fast unterstellen möchte echte Umstände abzubilden. Der fastdokumentarische Charakter wird zusätzlich verstärkt, in dem man eine grob aufgelöste Kamera gewählt hat, die lediglich zwischen den Nahaufnahmen der Gesprächspartner hin und her wechselt und dabei gern mal etwas wacklig daherkommt. Alles in allem macht die Gestaltung ihr übriges, um Forest – I See You Everywhere enorm organisch wirken zu lassen. Die Lebensnähe könnte höher kaum sein.

Unser Fazit zu Forest – I See You Everywhere

Das episodisch aufgebaute Drama ist ein echter Höhepunkt unter den Wettbewerbsbeiträgen der Berlinale 2021. Natürlich muss man sich auf die Erzählweise und den unbequemen Themenblumenstrauß einlassen können. Für einen leichtfüßigen Filmabend ist Forest – I See You Everywhere mit Sicherheit der falsche Film. Doch jede einzelne Miniatur bietet neben einer verblüffenden Wendung so viel Fleisch für Diskussionen, dass der Film seine Zuschauer noch tagelang beschäftigen wird.

Bence Fliegauf hat mit dem Episodenfilm sowohl ein sehr großes Talent für spitzfindige Gesellschaftsbeobachtung gezeigt als auch, wie man die Konfliktthemen auf fesselnde Art transportieren kann. Schon jetzt darf man gespannt sein, welche heiße Eisen er in künftigen Projekten anpacken wird.

Forest – I See You Everywhere läuft im Wettbewerb der Berlinale 2021. Ein Kinostart ist noch nicht bekannt.

Unsere Wertung:

 

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