Drei Haselnüsse für Aschenbrödel meets The Substance: The Ugly Stepsister ist ein filmischer Bastard aus träumerischem Märchen und schmerzhaften Body Horror.

Die Handlung von The Ugly Stepsister
Rebekka (Ane Dahl Torp) erhofft sich durch die Hochzeit mit Otto den Zugang zu Reichtum und Ansehen. Doch als der angetraute Gatte kurz nach der Eheschließlung verstirbt, steht fest: Hier gab es niemals materiellen Reichtümer zu holen. Kurz darauf lädt der junge Prinz Julian (Isac Calmroth) zum feierlichen Ball, um dort auf Brautschau zu gehen. Rebekka wittert ihre Chance: Tochter Elvira (Lea Myren) soll ihn dort mit Etikette und ihren äußeren Reizen überzeugen, um so Hochzeit und Geldsegen für die Familie zu bringen. Zu dumm jedoch, dass ihre frisch gebackene Stiefschwester Agnes (Thea Sofie Loch Næss) nicht nur über damenhaftes Verhalten verfügt, sondern auch noch von blendender und natürlicher Schönheit ist – und damit die ungelenke Elvira in allen Belangen überstrahlt. Doch Mutter Rebekka lässt sich davon nicht beirren und verlangt von ihrer Tochter alles ab, damit diese als Siegerin von der Brautschau heimkehrt…

Frauen im Genrefilm
David Cronenberg hat im Laufe seiner langjährigen Karriere dieses Genre maßgeblich geprägt und zeitlose Klassiker wie Die Fliege oder Videodrome erschaffen: Body Horror. In seinen Spätwerken hat er sich vom fantastischen Kino weitestgehend zurückgezogen und setzt sich lieber mit bodenständigeren Themen auseinander. Spätestens im vergangenen Jahr hat der Body Horror mit Coralie Fargeats The Substance jedoch ein furioses Comeback gefeiert und dieses durchaus hintersinnige Subgenre zusätzlich nicht nur um eine längst überfällige weibliche Perspektive erweitert, sondern das Zepter eben auch in feministisch-emanzipierte Hände gelegt.
In eine ähnliche Kerbe schlägt nun die norwegisch-schwedisch-polnische Co-Produktion The Ugly Stepsister, die sich aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe fast automatisch einem Vergleich mit The Substance stellen muss. Denn auch hier rechnet eine Frau unter dem Deckmantel eines Genrefilms mit Erwartungshaltung und Fixierung auf vermeintlich standardisierte Schönheitsideale ab. Damit zählt Emilie Kristine Blichfeldt neben Coralie Fargeat (Revenge), Julia Ducournau (Raw, Titan), Jennifer Kent (The Babadook, The Nightingale), Emerald Fennell (Promising Young Woman), Veronika Franz (Ich seh, Ich seh, Des Teufels Bad) oder Rose Glass (Saint Maude, Love Lies Bleeding) allein aufgrund ihres „anderen“, sprich weiblichen, Blickwinkel auf den Genrefilm als Bereicherung selbigen.
Denn wer könnte sich besser dafür eignen, um den klassischen male gaze durch einen female gaze abzulösen, als Frauen selbst? Eigene Erlebnisse; den Druck, gefallen und funktionieren zu müssen; seit langer Zeit bestehende Probleme auszusprechen, aufzurütteln und anzuprangern – es gibt wohl kaum ein besseres Ventil, als sich im popkulturellen Bereich zu äußern und dadurch möglichst ein gesamtgesellschaftliches Publikum zu adressieren.
Zur Einordnung und tiefergehenden Analyse des „neuen“ Frauenfilms sei übrigens dieser Artikel von Jenni Zylka empfohlen!

Da braut sich was zusammen
Blichfeldt nimmt sich mit Aschenputtel nach den Gebrüdern Grimm für ihren Film eine bekannte Märchenerzählung als Vorlage – und spiegelt die Erzählung radikal. Ist das Märchen aus Sicht des armen und bemitleidenswerten, jedoch herzensguten Aschenputtels geschildert, welches unter den gehässigen Stiefschwestern leidet, dreht The Ugly Stepsister den Spieß um. Denn hier wird mit Elvira, der titelgebenden Stiefschwester, die zweifelhafte Heldin etabliert, werden die Geschehnisse doch aus ihrer Perspektive geschildert. Die ursprüngliche Hauptperson, das Aschenputtel und hier in Agnes umbenannt, überstrahlt mit natürlicher Schönheit und höfischem Benehmen die Makel ihrer Stiefschwester bei weitem. Elviras Mutter erkennt die Konkurrenz alsbald, degradiert Agnes zur Magd und setzt fortan alles daran, um ihre Tochter im rechten Licht erstrahlen zu lassen.
Elvira ist anfangs völlig fremdbestimmt, schämt sich ihres Äußeren, ist von Unsicherheiten geplagt und sucht ihr Heil in Nascherei. In der Benimmschule, die alle potentiellen Bräute besuchen, wird ihr aufkeimendes Selbstvertrauen von der barschen Leiterin schnell im Keim erstickt und Elvira nicht nur sprichwörtlich in die hinteren Reihen verbannt. Damit ist sie den Entscheidungen und Befehlen anderer Personen ausgesetzt und wird von diesen gelenkt. Seien es Schönheits-OPs oder Urteile, Elvira nimmt sich die von Dritten an sie getragenen Erwartungen selber an und meint, diesen Idealen entsprechen zu müssen.
Dass Elviras fragile Persönlichkeit, diesen Vorstellungen entsprechen zu müssen und diesen Druck aushalten zu müssen, nicht lange standhalten kann, steht fast schon mit trauriger Gewissheit von Beginn an fest. So erwächst aus den absurden Ansprüchen ihrer Umwelt, ein völlig verzerrtes Selbstbild der jungen Frau, welches in grotesken Versuchen mündet, eben diesen zu genügen.
„Rucke di guh, rucke di guh…
Blut ist im Schuh!“ – Regisseurin Blichfeldt nimmt den Ausspruch der Tauben aus der Vorlage genau, sehr genau.
Die zuvor angedeuteten Optimierungsversuche gestalten sich nicht nur reichlich blutig, insbesondere der finale Eingriff suhlt sich fast schon in makabren Detailaufnahmen. Die praktischen Effekte verfehlen ihre Wirkung dabei nie und spielen ihre Stärke gekonnt aus: Klaffendes Fleisch & pulsierende Blutströme; Hammer & Meißel; Nadel & Faden; Fleischerbeil & Zehenspitzen. Wer hier keine Phantomschmerzen durchleidet, ist wahrlich ein harter Hund.
Dass sämtliche Eingriffe unter, nun ja, überholten Umständen von statten gehen und Anästhesie ein Fremdwort war, ist der Schmerzreaktion des Publikums dabei nur noch zuträglicher. Doch bei aller diebischer Freude am genretypischen Zerteilen menschlicher Körperformen, schlummert in The Ugly Stepsister eben mehr als nur ein plakativer Ekelschocker. Der Film vereinnahmt stattdessen aktuelle gesellschaftliche Debatten rund um die Unabhängigkeit und Rolle von Frauen. Elvira werden die zu erfüllenden Schönheitsideale von ihrer Mutter Rebekka aufgezwungen, die ihrerseits auch wieder nur den patriarchalen Vorstellungen entsprechen, die Rebekka wiederum adaptiert hat.
Elvira beißt also die Zähne zusammen und lässt die Tour de Force der Körperoptimierung über sich ergehen. Doch der erhoffte Erfolg beim anderen Geschlecht und ihrem Umfeld bleiben vorerst aus. Und so gerät sie in eine selbstzerstörerische Spirale aus Selbstmitleid und -hass, in der sie die über sich gestülpten Ansprüche zusehends als Wahrheit verinnerlicht. In ihrem Optimierungswahn eilt Elvira völlig realitätsfernen und gefährlichen Maßstäben nach, die sie niemals wird erreichen können und auf dieser Irrfahrt all jene Dinge opfert, welche sie als hässliche Stiefschwester schon längst besaß: Empathie, Kreativität und Individualität.
© Capelight Pictures
Unser Fazit zu The Ugly Stepsister
Wem The Substance zu stylish und schrill war, findet sich stattdessen vielleicht bei dieser europäischen Produktion wieder. Denn in The Ugly Stepsister wirkt alles etwas kühler und blasser, auch wenn verträumte Synthesizer und bloomig-weichgezeichnete Traumsequenzen einen Bruch mit der sonst sehr schmerzhaften Realität wagen. The Ugly Stepsister vermeidet den grotesken Overkill, schafft es aber dennoch problemlos, zu schockieren und zu ekeln. Auch wenn der Film seine Themen zeitlich und in seiner Ausstattung verfremdet, zeigt er unverkennbar mit dem Finger auf die heutige Gesellschaft, die nach äußeren Maßstäben den Wert eines Menschen bemisst. Wer für andere schön sein will, muss leiden!
Tobi ist bereits gute 7 Jahre an Bord und teilt so fast 20% seiner Lebenszeit mit Filmtoast. Wie es ursprünglich dazu kam ist so simpel wie naheliegend. Tobi hatte unregelmäßig auf Seiten wie Schnittberichte Reviews zu Filmen verfasst und kam über diverse facebooksche Filmgruppen und –diskussionen in Berührung mit dem damaligen Team von Filmtoast (die Älteren erinnern sich: noch unter dem Namen Movicfreakz) und wurde daraufhin Teil dessen.
Thematisch ist er aufgeschlossen, seine feste Heimat hat er jedoch im Horrorfilm gefunden, da für ihn kein anderes Genre solch eine breite Variation an Themen und Spielarten zulässt. Kontroverser Ekelschocker, verstörender Psychothriller oder Elevated Horror – fast alles ist gern gesehen, auch wenn er zugeben muss, dass er einen Sweet Spot für blutrünstig erzählte Geschichten besitzt.
Tobi geht zum Lachen jedoch nicht (nur) in den blutverschmierten Keller, sein Herz schlägt unter anderem bei Helge Schneider, dänischem schwarzen Humor oder den Disyneyfilmen seiner Kindheit höher.
Kinogänge vollzieht er am liebsten im städtischen Programmkino, zum Leidwesen seiner filmisch weniger affinen Freunde, meidet er große Kinoketten wie der Teufel das Weihwasser. Am liebsten geht er seiner Filmleidenschaft jedoch in den eigenen vier Wänden nach, um den viel zitierten Pile of Shame seiner physischen Filmsammlung abzuarbeiten.
Tobi lebt in Sachsen-Anhalt, ist beruflich in einer stationären außerklinischen Intensivpflege verankert und hat mit der Begeisterung zum Film und dem Schreiben darüber den für sich perfekten Ausgleich zum oftmals stressigen Arbeitsalltag gefunden.